Es gibt nicht viel, das Herat und Bad Reichenhall gemeinsam haben. Das eine ist eine Großstadt im westlichen Afghanistan, das andere eine Kleinstadt in Oberbayern. Einzig die Berge könnten als verbindendes Element dienen. Einer, der beides kennt, ist Mahboob. 2015 ist er aus seiner Heimatstadt Herat nach Deutschland gekommen, zuerst nach München, dann hat man ihn nach Bad Reichenhall geschickt. Ob er traurig war, aus München, aus der Großstadt, wegzumüssen? „Im Gegenteil. Ich hab gegoogelt, wo Bad Reichenhall ist und wie es dort aussieht, und habe mich auf die Natur und die Berge gefreut“, sagt Mahboob. Sein Faible für die Berge ist auch der Grund, warum der junge Afghane und der deutsche Redakteur zusammen auf Tour gehen. Von Anfang an ist der 29-Jährige gerne in die Berge um Bad Reichenhall gegangen. Anfangs noch wenig ambitioniert, einfach die Wege am Fuß der Berge entlang. Im Grunde waren es nur Spaziergänge, die ihm halfen, den Kopf freizukriegen. Mit der Zeit lernte er immer mehr Ecken kennen, seine Touren wurden länger und höher.
Angekommen in den Bergen
Seine Betreuerin erzählte ihm vom Projekt Alpen.Leben.Menschen, kurz A.L.M., das der Deutsche Alpenverein zusammen mit den Maltesern initiiert hat. Ziel von A.L.M. ist, geflüchteten Menschen die Bergwelt und damit ihre neue Heimat nahezubringen. Bei Mahboob hat das gut geklappt. Seine erste Tour mit anderen Leuten von A.L.M. führte ihn ins Wimbachtal, ein Hochtal in den Berchtesgadener Alpen. „Das hat mir sehr gut gefallen, da waren Menschen von überall dabei“, sagt Mahboob.
Das war nicht die einzige Tour, die er mit A.L.M. gemacht hat. Immer wieder ist er mitgegangen, immer hat es ihm gut gefallen. Das scheint aufgefallen zu sein. Irgendwann hat ihn Lisa Hiltermann, die A.L.M.-Regionalkoordinatorin im Berchtesgadener Land, angesprochen, ob er nicht eine Wanderleiterausbildung beim DAV machen möchte. Wollte er; im Juli besuchte er einen einwöchigen Kurs im Allgäu, bestand seine Prüfung. Seitdem ist er ausgebildeter Wanderleiter und führt A.L.M.-Wandergruppen. Diese Touren werden nicht per Programm ausgeschrieben wie beim Alpenverein üblich, sondern auf moderne Art: Über WhatsApp und Facebook teilt er, wenn er plant, eine Tour zu führen. Wer Lust hat, mitzukommen, meldet sich dann bei ihm. Manchmal kommen fünf Leute zusammen, manchmal sind dreißig unterwegs. „Meistens gehen aber so 13, 14 Leute mit“, sagt Mahboob. Woher die denn kommen? „Die meisten leben hier in der Region, aber 50 Prozent von denen, die mitkommen, haben ihre Wurzeln woanders: Syrien, Indien, Somalia, Afghanistan, Nigeria.“ Die andere Hälfte sind Deutsche. Um böse Überraschungen zu vermeiden, gibt er bei seinen Touren immer Länge, Schwierigkeit und Höhenmeter an. Die meisten können dann schon abschätzen, ob sie sich das zutrauen oder lieber ein andermal mitgehen. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass jemand mit Turnschuhen oder komplett ohne Proviant am Treffpunkt steht. „Wenn wir uns bei A.L.M. treffen, ist das nicht so schlimm. Dort gibt es einen Schrank mit gebrauchtem Equipment, das sich die Leute für die Tour ausleihen können“, sagt Mahboob. Aber es kam auch schon vor, dass er die Tourenpläne beim Start ändern musste, etwas weniger alpin, weniger hoch oder weniger weit, wenn Leute beispielsweise ohne passende Schuhe gekommen sind. Sicherheit steht schließlich an erster Stelle.
Gipfelbrotzeit ist Gesetz
Er selbst hat das Berggehen – zumindest anfangs – nicht gelernt, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Vielmehr hat er sich an den Erfahreneren orientiert. Welche Ausrüstung haben sie, wie grüßt man, wer weicht aus, wenn es eng wird. Woher soll man es wissen, wenn es einem nie jemand beibringt? Mit der Zeit lernte er die Konventionen und ungeschriebenen Regeln am Berg kennen. Wer ihn heute beobachtet, würde nicht auf die Idee kommen, dass Mahboob jemals anders als mit Grias di oder Servus gegrüßt hat. Ganz zu Beginn ist auch er mit Straßenschuhen losgezogen. Als seine Touren alpiner wurden, wurde ihm das zu heikel. Aber ordentliche Bergschuhe sind teuer. Seine ersten Wanderstiefel waren deshalb auch ein gebrauchtes Paar. Seine zweiten und dritten auch. Erst später hat er sich neue leisten können.
Bemerkt Mahboob Unterschiede, wenn er mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturräumen unterwegs ist? In der Mentalität, beim Verhalten, bei der Vorbereitung, solche Sachen? „So direkt kann man das nicht sagen, aber es gibt schon Dinge, die auffallen. Viele Deutsche stellen Fragen, sie möchten wissen, wie dieser Gipfel, diese Pflanze oder dieser Baum heißt“, sagt Mahboob. Außerdem scheint die Gipfelbrotzeit ein Gesetz zu sein. Kaum jemand lässt dieses Ritual aus. „Menschen, die nicht aus Deutschland kommen, möchten immer Fotos machen: „Seen und Panorama sind vielen von ihnen wichtig", ergänzt Mahboob. Wenn Mahboob nicht in den Berchtesgadener Bergen unterwegs ist, arbeitet er als Gärtner, momentan noch in Ausbildung. „Ich wollte auf jeden Fall an der frischen Luft arbeiten“, sagt Mahboob. Vor der Ausbildung in der Kurgärtnerei Bad Reichenhall hat er Praktika in einem Supermarkt und bei einem orthopädischen Schuhmacherbetrieb gemacht. Mit beiden konnte er sich nicht richtig anfreunden, Regale einräumen und die lauten Schuhmachermaschinen waren nicht sein Ding. Außerdem war er bei beiden Jobs nicht draußen. In Herat haben seine Eltern einen großen Garten. Scheinbar hat ihn das geprägt.
Gemeinsam auf den Dötzenkopf
All das erzählt Mahboob auf einer gemeinsamen Tour auf den Dötzenkopf, einen 1001 Meter hohen Gipfel in den Berchtesgadener Alpen. Zurück im Tal, gehen wir noch durch das Zentrum von Bad Reichenhall. Nichts außer seinem Akzent weist darauf hin, dass er nicht schon immer hier gelebt hat. Oft wird er gegrüßt, hält an für ein kurzes Gespräch. Bad Reichenhall ist nicht groß, man kennt und erkennt sich. Meistens sind es Kolleg*innen von der Freiwilligen Feuerwehr, mit denen er über die letzte Übung, einen Einsatz spricht oder einfach erzählt, dass er gerade mit dem DAV-Panorama-Redakteur auf dem Dötzenkopf war. Mein Zug fährt erst in einer Stunde, genug Zeit für ein Weißbier im Café des Kurgartens. Den kennt Mahboob gut, einige der Beete hat er selbst bepflanzt. Wir sprechen über das, was noch kommen soll. Im Juli ist er mit seiner Ausbildung fertig, es stehen schon weitere Projekte auf seiner Liste: Alpinklettern zum Beispiel, oder Skifahren. „Ich habe Lust, auch Skitouren zu gehen, aber ich bin kein guter Skifahrer“, sagt Mahboob. Bisher ist er im Winter mit Schneeschuhen unterwegs. Warum erst nach der Ausbildung? „Ich muss viel für die Berufsschule lernen. Das ist nicht ganz einfach für mich.“
Genau eine Woche nach der Tour auf den Dötzenkopf sind wir noch einmal gemeinsam unterwegs: Mit einer Gruppe hat er eine Wanderung auf den Predigtstuhl organisiert, inklusive Übernachtung auf der Teisendorfer Hütte. Die Unterkunft ist unbewirtschaftet, Mahboob hat für uns alle eingekauft, um später zu kochen. Bevor wir losgehen, verteilen wir die Zutaten auf viele Rucksäcke. Reis, Lammfleisch, Gemüse: das alles muss auf 1600 Meter, denn dort liegt die Selbstversorgerhütte. Gekocht werden kann erst, wenn das Feuer im Herd brennt. Was die Sache zwar nicht einfacher, aber umso gemütlicher macht. Oberbayern und Herat mögen nicht viel gemeinsam haben, harmonieren tun sie doch. Ein afghanisches Gericht schmeckt einfach hervorragend im beheizten Gastraum einer Berghütte.