Blick auf den Alpstein vom Rotsteinpass
Logenplatz über dem Nebelmeer am Rotsteinpass – nur noch die Gipfel südlich des Alpsteins ragen heraus. Foto: Silvia Schmid
Mehrtagestour im Appenzellerland

Alpstein-Rundtour

Mal messerscharf, mal als zarte Silhouette, mal versteckt und wolkenverhangen ragt der Säntis über dem Bodensee auf. Vielversprechend dominiert er den Alpstein – und das Alpenpanorama. Wer ihm nahegekommen ist, wurde noch nicht enttäuscht.

„Ins Appenzell möchtest du?“ Der ältere Herr neben mir schmunzelt bei der Erinnerung. „Das geht nicht, die fressen dich auf!“ Das hätten alle zu ihm gesagt, damals, vor mehr als 40 Jahren. Wir sitzen in goldenes Licht getaucht zwischen Säntis und Altmann im Appenzeller Land. Noch schwebt die Sonne eine Handbreit über dem zarten Nebelmeer, aus dem die Gipfelketten des Schweizer Alpenhauptkamms wie dunkle Flossen herausragen. Drüben, im Norden, ist der Bodensee längst im Dunst versunken. „Und macht ein Appenzeller den Mund auf, so kommt ein Witz heraus“, erfahre ich noch. „Also, zumindest das, was er dafür hält.“

Hier, vor dem Berggasthaus Rotsteinpass, genießen einige Einheimische und viele aus aller Welt die letzten Sonnen­strahlen. Schwungvoll gleiten die drei fast parallel verlaufenden, mit eindrucksvollen Kletterwänden bestückten Bergkämme des Alpsteins von diesem „Steg“ zwischen Säntis, Altmann und Mutschen Richtung Osten hinunter nach Wasserauen und Brülisau. Die Hochtäler dazwischen überraschen mit zauberhaften Almen und tiefblauen Seen. Ein gar nicht so kleines Paradies, das so gut wie allen etwas zu bieten hat.

Goldener Morgen am Berggasthaus Rotsteinpass (2124 m). Foto: Silvia Schmid

Ein Berg der Wetterextreme

Selbst jenen, die es bequem mögen: Die 1935 eröffnete Säntis-Schwebebahn bringt pro Jahr um die 430.000 Gäste von Schwägalp im Westen auf den mit allen touristischen Highlights ausgestatteten Gipfel. Ach ja, und dann gibt es da auch noch die Bergwelt und dieses unglaubliche Panorama … Dabei fing alles ganz beschaulich an: 1846 eröffnete eine einfache Schutzhütte mit dem klingenden Namen „Grand Hotel Thörig“, ab 1882 wurden in der Wetterwarte erste Daten gesammelt. Die bestätigten, dass der Säntis ein Berg der Wetterextreme ist. In die Schlagzeilen kam er 1922: wegen eines Doppelmordes an dem Ehepaar, das in der Wetterwarte gerade Dienst hatte.

Die Schwebebahn gab es damals noch nicht, man hing noch ganz anderen Plänen nach: Von Appenzell aus sollte eine Zahnradbahn über Wasserauen, Meglisalp und die Wagenlücke zum Gipfel rollen. Der Bau der Gleise wurde indessen in Wasserauen abrupt gestoppt – das Projekt wurde zu teuer. Doch bis heute fährt das „Appenzeller Bähnli“ bis dorthin und sorgt dafür, dass dieser interessante Ausgangspunkt umweltfreundlich zu erreichen ist. Per Gondel geht es hinauf zur Ebenalp mit dem Äscher-Wildkirchli in Spazierdistanz – einem der „Hotspots“ des Alpsteins. In den Höhlen wurden Bärenknochen und Werkzeug aus der Steinzeit gefunden, 1658 zog der erste Eremit in die kleine, in eine Grotte geduckte Kapelle ein.

Zauberhafter Herbst bei der Saxer Lücke. Noch beschatten die Kreuzberge die Roslenalp. Foto: Silvia Schmid
„Mehr als voll kann es ja wohl nicht werden“, meinten sie. Ein Irrtum: Drei Jahre später übergaben sie die Bewirtschaftung der urigen, an die Felsen geschmiegten Unterkunft einer Eventagentur.

Fast ein halbes Jahrtausend herrschte Ruhe, dann entdeckten Blogger*innen den Ort. Als das Äscher-Wildkirchli 2015 dann auch noch zum schönsten Ort der Welt gekürt wurde und die Titelseite von „National Geographic – Places of a Lifetime“ zierte, war es ganz aus mit der Gemütlichkeit. Dass aus dem kleinen Gasthaus einmal eine Art Rummelplatz wird, ahnte nicht einmal die Wirtsfamilie Knechtle, die dort seit über 30 Jahren wirkte: „Mehr als voll kann es ja wohl nicht werden“, meinten sie. Ein Irrtum: Drei Jahre später übergaben sie die Bewirtschaftung der urigen, an die Felsen geschmiegten Unterkunft einer Eventagentur. Doch der Rummel lässt sich umgehen: Vor einigen Jahren sind wir am späten Nachmittag von Wasserauen aus Richtung Seealpsee gewandert und dort zum Äscher abgebogen. Die Menschenmassen waren längst ins Tal zurückgeschwebt, und überraschend schnell ist das Wildkirchli wieder ein stiller, mystischer Ort zum Innehalten.

Ein Spazierweg führt weiter durch die Höhlen mit den Ausstellungsstücken zur Ebenalp, wo die „normale“ Bergwelt wieder beginnt. Durch geologisch hoch interessantes, abwechslungsreiches Gelände schlängelt sich der Steig zum Schäfler und vorbei an keck aufgestellten Felsplatten, entlang steiler Grashänge und über schmale Grate bis zum futuristisch gestalteten Gipfel des Säntis. Recht ausgesetzt ist der Steig dann über den Lisengrat zum Rotsteinpass. Wer will, kann hier absteigen zur idyllischen Meglisalp: einem winzigen Dorf, umrahmt von steilen Grashängen und leuchtenden Kalkwänden, mit Kirche, Kühen, Gasthaus, Almhütten und Alphornklängen.

Futuristisch: Gipfel des Säntis (2502 m) mit „Mond am Stiel“. Foto: Silvia Schmid

Stille und einsame Genüsse

Heute können wir zum Glück gemütlich am Rotsteinpass sitzen bleiben. Wir sind über den südlichsten der drei Alpsteingrate hierher gewandert: Von Brülisau aus zum Sämtisersee und dem Gasthaus Plättenbödeli, wo wir uns in dem kleinen Matratzenlager genüsslich ausstreckten. Am Morgen brodelten die Wolken vom Rheintal herüber, saugten sich am Hohen Kasten fest. Auf dem ersten Abschnitt des „Geologenwegs“ zwischen Hohem Kasten und Saxer Lücke waren wir von Nebel, Bäumen und einem Haufen Schulkinder umgeben. Am gemütlichen Gasthaus Stauberenkanzel ließen wir Nebel und Schulkinder hinter uns. Was für ein Genuss, in Stille und Einsamkeit zur Saxer Lücke zu wandern. Entlang der Klet­terwände der Kreuzberge stiegen wir über die malerische Roslenalp zum Mutschen, wo sich ein fantastischer Blick öffnet: hinüber zum Altmann, zu den markanten Churfirsten, tief hinunter ins Rheintal und weiter zu den schönsten Schweizer Gipfeln zwischen Bernina und Berner Oberland.

Als alle in der warmen Stube sitzen, beginnt es draußen zu rumpeln: Steinböcke turnen durch die Felswand und kommen ganz nah zur Hütte.

Fast genauso aussichtsreich geht es über den breiten Rücken vom Roslenalpfirst hinüber zur Zwinglipasshütte. Amüsiert beobachteten wir, wie der Mond für einen Moment wie eine zarte Seifenblase über dem 123 Meter hohen Sendemast des Säntis schwebt. Viel zu schnell erreichten wir die Zwinglipasshütte, wieder einmal rasten wir hier. Einmal, auf dem Weg zum Klet­tern am Altmann, meinte der Hüttenwirt, dass wir uns diese Schinderei ruhig sparen könnten: „Steigt mir auf den Buckel, dann seid ihr auch auf einen alten Mann geklettert“, schlug er vor. Wir zogen dann aber doch die herrliche Südwestkante vor … Bestens behütet wird die Zwinglipasshütte von Mitgliedern der Sektion Toggenburg, die hier abwechselnd Dienst haben. Und immer im Juni treffen sich die „Sherpas vom Zwinglipass“ zur „Hötteträgete“, um rund fünf Tonnen Material hinauf zu ihrer Hütte zu tragen. Uns servieren sie eine herrliche Gemüse-Gerstelsuppe und das obligatorische „Quöllfrisch“. „Ein Bier“ bestellt im Appenzell keiner, obwohl viele es trinken. „Quöllfrisch“ eben, so wie es auf dem in traditionellem Appenzeller Stil gestalteten Etikett steht.

Bergflanken spiegeln sich im Fählensee. Foto: Sivia Schmid

Oben beim Altmannsattel lehnen sich die Felswände an einen schmalen Rücken. Durch die steile Flanke schlängelt sich ein gut abgesicherter Steig hinunter zum Gast ­ haus am Rotsteinpass. Wir bleiben draußen vor der Hütte sitzen, bis auch die rosa angestrahlten Gipfel düster werden und es mit einem Schlag kalt ist. Als alle in der warmen Stube sitzen, beginnt es draußen zu rumpeln: Steinböcke turnen durch die Felswand und kommen ganz nah zur Hütte. Die späten Besucher haben sich längst verzogen, als wir am Morgen wieder zum Altmannsattel aufsteigen. Nur zehn Minuten sind es von dort zum Gipfel. Schon früher war der Fels dort blank poliert, und wie erwartet glänzen Griffe und Tritte speckiger denn je. Ich bin froh, als wir den Gipfel erreicht haben und wieder heil am Sattel ankommen. Auch der weitere, gut abgesicherte Abstieg über bröckelige Felsriegel erfordert Konzentration.

Wir steigen ab zu den Almen am Sämtisersee. Bis uns ein Appenzeller Hund den Weg versperrt. „Den musst du am Hals kraulen. Das mag er. Und ich übrigens auch“, ruft uns der Senner zu.

Aber bald liegen die Felsen hinter uns, einsam und verlassen ragen die Kletterwände von Fählentürmen, Freiheit und Hundstein neben uns auf. Glatt, fast unwirklich breitet sich der Fählensee aus. Messerscharf spiegeln sich Gipfel und Almhütten im Wasser. Am Ufer sitzend lassen wir den stillen, mystischen Moment auf uns wirken. Dann kommen die ersten Wandersleute vom Gasthaus Bollenwees am Seeufer entlang, der Zauber ist gebrochen und wir steigen ab zu den Almen am Sämtisersee. Bis uns ein Appenzeller Hund den Weg versperrt. „Den musst du am Hals kraulen. Das mag er. Und ich übrigens auch“, ruft uns der Senner zu. Wir fragen, ob er Käse zu verkaufen hat. „Hm“, sagt er und überlegt lange. „Reichen dir 40 Laiber?“ Wir nehmen zwei. Die Rinde sollen wir unbedingt mitessen, betont er. Er habe sie jeden Tag gebürstet. Etwas skeptisch frage ich, mit was er sie denn gebürstet habe. „Ja mit Liebe natürlich, mit was denn sonst?“, lautet die Antwort.

Ein letzter Blick über den Sämtisersee zum Hohen Kasten und hinüber zur Saxer Lücke, bevor wir Richtung Brülisau im Wald abtauchen. Wie schön wäre es, wieder einmal in mehreren Etappen diese Bilderbuchlandschaft zu durchwandern. Angst, gefressen zu werden, muss dabei niemand haben. Auch der Wahlappenzeller vom Rotsteinpass schlug vor Jahrzehnten alle Warnungen in den Wind. „Ich habe es gewagt und bin hergezogen. Noch keinen Tag hab ich das bereut“, hat er uns versichert. Eine kurze Pause, sein Lächeln wird breiter. „Aber es ist schon speziell hier. Und langweilig, das war das Appenzell noch nie.“