Rund 80 Meter vor uns löst sich eine abgemagerte Gestalt aus einem Schatten, huscht lautlos über den Schotterweg und springt einen Hang hinauf. "Ein Wolf", flüstere ich meiner Frau Monika zu, und drücke den Auslöser der Kamera im Dauerfeuer durch. Wir sind im Naturpark Fanes-Sennes-Prags auf 2260 Metern und beobachten, wie das Tier in die Hocke geht und markiert. Eine Wölfin. Mit eingekniffenem Schwanz dreht sie sich nochmals zu uns um und verschwindet hinter einer Kuppe. Ich packe die Spiegelreflexkamera in den Rucksack, schaue zu Monika – und grinse.
Vor einer halben Stunde begann an der Seekofelhütte die zweite Etappe. Jetzt flutet die aufgehende Septembersonne mit ihren warmen Strahlen die Hochebene. Darin liegen lose verstreute Felsen wie Streusel auf einem Kuchen. Darüber ein Kranz aus Bergschönheiten: Hohe Gaisl, Monte Cristallo, Punta Sorapis und Tofana di Mezzo. Wer auf die Hochfläche von Sennes will, muss wandern oder radeln. Wir tun beides, eine Woche lang; das Bike dient als Anfahrtshilfe. Wo die Pisten enden, geht es zu Fuß weiter, das Bergabwandern wird zur Rollpassage. Meistens.
Die Fanes-Sennes-Runde zählt für Bike-Fans zu den schönsten Tagestouren in den Alpen. Sie kippt hinter der Schutzhütte Fodara Vedla und wirft ihre Schleifen einen Steilhang hinab ins Tamerstal. Auf gut zwei Kilometern verliert der Weg 440 Höhenmeter. Er ist so steil, dass wir mehrmals schieben müssen. Unten am Gasthaus Pederü füllen wir die Radflaschen und steuern eine nach Südwesten führende Piste an. Sie schmiegt sich neben dem Wanderweg in die Arme des Vigilbachs und zieht sich nach oben auf die Fanes-Hochfläche. Über den Zirbelkiefer-Wäldchen zwei Seen, dahinter ein Dutzend Gebäude. Dort schließen wir mittags die Räder ab, essen Käsebrote und steigen den Weg mit der Nummer 12 bergan. Später als geplant. Zu lange den Reizen des Naturparks verfallen, die Route unterschätzt und zu viele Fotos geknipst.
Wir wollen auf den 2907 Meter hohen Heiligkreuzkofel steigen. Doch um 16 Uhr zeigt der Höhenmesser erst 2500 Meter an. Zeit umzukehren. Aus der Gipfeltour wird eine Rundtour. Sich ärgern bringt nichts. Schon gar nicht bei dieser Landschaft. Jetzt verzaubert uns das Licht, es zeichnet die Gipfel der Fanesgruppe weich. Einer Treppe gleich fällt das Dolomitengestein in ein natürliches Amphitheater ab. Hier spielt die Sage vom Reich der Fanes. Im Nationalepos der Ladiner wird diese Felsformation "Parlament der Murmeltiere" genannt. Die Tierchen leben noch immer hier. Wir sehen vier Stück. Sie sind mit uns die Letzten am Berg und lassen sich bereitwillig fotografieren. Eigentlich wollten wir auf der Fanes-Hütte übernachten. Doch wegen einer kurzfristigen Verschiebung der Reise ist sie ausgebucht. Wir rollen zurück zum Gasthaus Pederü. Ringsum greifen bizarre Schatten nach den Dolomitengipfeln und werfen ihr schwarzes Abbild auf die gegenüberliegenden Felstürme. Was für ein Finale eines großartigen Tages!
Der Heiligkreuzkofel ragt in den blauen Himmel
Am nächsten Morgen schwingen wir uns in der Dämmerung auf die Räder. 90 Minuten sind es auf die Hochebene von Fanes. Oben zündet die Sonne mit ihrem Licht einen Gipfel nach dem anderen an. Von den Hütten aus marschieren Dutzende los. Die meisten folgen dem Dolomiten-Höhenweg Nummer 1. Am Limosee holen wir einen der Trupps ein, Monika macht ein Gruppenfoto. Eine Frau schwärmt: "Wir sind aus Neuseeland und das erste Mal in den Alpen. Die Dolomiten sind einfach was Besonderes." Aus der breiten Piste wird ein Pfad. Am Col de Locia bricht das Terrain gen Westen ab, hier zeigt die schwarze Biketour ihre Zähne. Für uns Sicherheitsfreaks heißt es schieben, über Treppen ochsen, das Bike verfluchen. Von unten kämpft sich eine Radlerin bergan. Es folgt das übliche "Woher, wohin, wie ist der weitere Weg?". Die Belohnung für die Plackerei gibt es am Parkausgang: Spaghetti, Cola und Cappuccino. Im Dorf St. Kassian beginnt der nächste Anstieg: Schlangenlinienfahren auf Asphalt. Der Blick fliegt über die Wiesen von Alta Badia. Im Tal knattern Motorräder, ziehen Autos den umliegenden Passhöhen entgegen. Unsere Route taucht in einen Lärchenwald ein – es ist die schwerste Etappe. In der Ferne das Zackenband der Zillertaler Alpen und der Rieserfernergruppe. Rechter Hand ragt der Heiligkreuzkofel steil in den blauen Himmel. Gestern waren wir da oben. Also fast. Neben der weißen Wallfahrtskirche stehen drei Kreuze.
Der Biergarten lockt, auch wenn fast alle Tische besetzt sind. Doch wir müssen weiter. Ich spreche einen Biker an, der auf seinem Shirt das Logo des Südtiroler Tourismusverbands trägt. "Wir wollen nach St. Vigil. Wie sieht der Weg dort vorne aus?" Er empfiehlt: "Am besten ihr folgt immer der Nummer 15. Am Anfang gibt es viele Steine, später geht es einen herrlichen Wiesentrail runter. Da unbedingt auf die Grasnarbe aufpassen, bloß nicht abrupt bremsen!" Nach wenigen Pedalumdrehungen sind wir wieder allein in dieser Ehrfurcht gebietenden Landschaft. Die Beschreibung des Guide trifft es: Erst auf einem mit Steinen durchsetzten Weg, dann vorsichtig über den Wiesentrail. Nur von den vielen Heuschobern hatte er nichts erzählt. Wir stellen die Räder ab, setzen uns ins Gras.
Eine Kombireise mit dem Rad und zu Fuß zu planen, hat seine Tücken. Selbst hier im touristisch erschlossenen Südtirol muss man sich mit dem Rad die Krümel zusammenpicken. Die meisten Touren sind für einen Tag angelegt, Monika und ich wollen aber ohne Auto oder Hilfe von Bussen durch die Berge ziehen. Wenn wir mit dem Rad keine offiziellen Routen mehr finden, gieren wir nach den Geheimtipps. Einer ploppt im Internet immer wieder auf: von St. Vigil über das Kreuzjoch zum Pragser Wildsee. Eine einsame Piste, ein Panoramatrail, dann der See – klingt verlockend.
Am vierten Tag steuern wir diese Passage an und bereuen es tatsächlich nicht. Doch dann bekommt unser Hochgefühl einen Dämpfer. Auf der Anfahrt zum Kreuzjoch stoppt uns am Forstweg ein verwittertes Schild. Darauf steht "Landesgesetz", darunter ein rot umrahmter Biker. Umdrehen.
Im Flow
Enttäuscht suchen wir in der Outdoor-App eine Alternative. Es gibt nur eine: Hoch zum Furkelpass, dort weiter Richtung Kronplatz und auf Radwegen ins Pustertal. In der Fanes-Sage wurde auf dem Kronplatz die unverwundbare Prinzessin Dolasilla gekrönt. Die Unverwundbarkeit hat sich leider nicht auf den Berg übertragen. Im Wald durchschneidet Gequietsche die Stille; eine Planierraupe jagt einen steilen Hang hinauf. Wir stoppen neben zwei Wandernden, die auf die aufgewühlte Erde starren. Die Frau klagt: "Ich fand, dass die Pisten eigentlich gereicht haben. Schlimm, was hier passiert." Weiter gen Osten. Erst das Pragser Tal hinaufbiken, dann eine Rundwanderung zum Sarlkofel. Gute Wege, ständig wechselnde Panoramen. Wiesen, Wälder und markante Gipfel ziehen vorbei – wir sind im Flow.
Die Landkarte zeigt, wie sehr das Welterbe Dolomiten zerrissen ist. Neun Teile gibt es in den Provinzen Belluno, Pordenone, Südtirol, Trentino und Udine. Das größte Gebiet trägt die Nummer fünf, "Nördliche Dolomiten".
Jeder Gipfel eine Ziffer: Was für Berge!
Dorthin radeln wir am Morgen des sechsten Tages. Zwanzig Kilometer sind es bis zum Rifugio Fondo Valle, der Talschlusshütte. Ab hier geht es zu Fuß weiter. Das Fischleintal schneidet tief in die Berge ein und verlangt nach einem Zickzackweg. Wir geraten in die Rushhour. Alle wollen die Drei Zinnen bestaunen. Mit jedem Höhenmeter, den wir hinaufschnaufen, wird die Kulisse bizarrer. Die spitz zulaufenden Gipfel sehen aus wie das abgenutzte Gebiss eines Urzeiträubers. Einst wogte hier das tropische Tethysmeer. Wir marschieren über die Reste toter Meerestiere, von Atollen und Vulkanen. Der Weg mit der Nummer 103 führt durch eine der dramatischsten Ecken des Gebirges, in die Sextner Sonnenuhr. Jeder Gipfel eine Ziffer: Neuner, Zehner, Elfer, Zwölfer und Einser. Was für Berge! Trinkpause an der Zsigmondy-Hütte. An der Büllelejochhütte gibt es würzige Bratkartoffeln mit Spiegelei. Wir wandern weiter, vorbei an Stellungen aus dem Ersten Weltkrieg. Auf jeder Anhöhe sucht das Auge den Horizont ab. Wann tauchen sie denn endlich auf, die Drei Zinnen. Das Wahrzeichen des Naturparks ziert sich bis zum Nachmittag. Dann stehen die Nordwände in ihrer vollen Pracht vor uns. Zinne, Senke, Zinne, Senke, Zinne – ein Auf und Ab der Gefühle. Wie bei einer Bike & Hike-Tour.
22 Stunden später sitzen wir wieder im Sattel und brauchen die Bikes nur bergab rollen zu lassen. Am Dorfrand von Sexten steht neben dem Fahrweg ein Schild mit der Überschrift "Track Tolerance". Es zeigt einen Radler, einen Wanderer und einen Traktor. In dieser Woche haben wir nicht ein einziges Mal die oft zitierten Konflikte am Berg erlebt. Auf dem Rad haben wir uns stets langsam genähert, gerufen und gleich Platz bekommen. Und zu Fuß auch selbst Bikenden das Feld geräumt. Ist ja nur ein Schritt zur Seite. Der Respekt gilt vor allem auch der Natur. Nach der Reise schicke ich meine Fotos der Tiersichtung an das Südtiroler Amt für Naturparke. Vier Wochen später kommt die Antwort auf meine Mail: "Ja, es handelt sich definitiv um einen Wolf. Scheinbar wurde das Tier im Sommer einige Male in der Gegend gesehen. Dieser Wolf hat aber in den ganzen Monaten nie ein Schaf oder ein Nutztier angegriffen oder gerissen." Irgendwo dort oben streift die Wölfin jetzt durch die Berge, vielleicht auch schon in einer ganz anderen Region der Ostalpen. Im Nachhinein erscheint sie mir wie eine Mahnung: In diesem rauen Lebensraum sind wir Menschen nur die Gäste. Verhalten wir uns auch alle so!