Vorgeschlagen wurde dem WWF und DAV Summit Club das Thema der WWF-Erlebnistour „Gletscher – Zeitzeugen des Klimawandels“ von Kultur- und Bergwanderführerin Karin Haslböck. Als Tour-Guide anspruchsvoller alpiner Wanderungen ist sie ständig mit dem Rückzug der Gletscher konfrontiert; der prekäre Zustand der Gletscher wurde für sie zur Herzensangelegenheit.
Am Beispiel der Gletscher rund um den Großvenediger im Nationalpark Hohe Tauern haben wir als vierköpfige Gruppe das Glück mit Karin unterwegs zu sein. Ein weiterer Aspekt unserer Unternehmung sind Einblicke in die Geologie des Tauernfensters, jenes Bereiches der zentralen Ostalpen, in dem kristalline Gesteine der tieferen Erdkruste Ureuropas durch eine großräumige Aufwölbung im Rahmen der Entstehung der Alpen vor etwa 20 Millionen Jahren an die Oberfläche getreten waren.
Gletscher, die weichen
Wir starten nachmittags am Matreier Tauernhaus und steigen auf der südlichen Talseite des Innergschlöss, das Berghaus Außergschlöss auf der linken Seite des Gschlössbaches liegen lassend, hinauf zur Gschlössklamm. Wilde Johannisbeeren laden am Weg zu einer kleinen Zwischenmahlzeit ein. An der engsten Stelle des Tales war von Einheimischen eine Kapelle im Paragneis-Fels angelegt worden, deren Weihung seinerzeit der Bischof von Salzburg mit den Worten verweigert hatte, „dass er für die lausigen Matreier keine derartige Zeremonie abhalten wolle“. Wenige Minuten später erreichen wir das Venedigerhaus, unser Zuhause für die kommenden zwei Nächte.
Am zweiten Tag der Exkursion werden wir vom Nationalpark-Ranger Emanuel Egger geführt, der seit 27 Jahren die Gletscher des Venedigers beobachtet und als örtlicher Fachmann die jährlichen Messungen begleitet. Vom Venedigerhaus wandern wir zum westlichen Ende des inneren Gschlösstals, um dann vom Talschluss (1700m) dem Venediger Höhenweg in teilweise steilen Serpentinen zu folgen. Das Talende wird dominiert von blanken Gesteinskaskaden, die das zurückweichende Schlatenkees, also die östliche Zunge des Großvenediger-Gletschers, freilegt. Im Venedigerhaus dokumentiert ein historisches Foto von 1857, dass zu jener Zeit das Kees (slawischer Name für Gletscher) bis in den Talgrund des Innergschlöss gereicht hatte. Im Laufe der vergangenen 165 Jahre wich demnach das Gletschereis um mehr als 600 Höhenmeter auf heute circa 2350 Meter zurück.
Unser Steig verläuft oberhalb des Schlatenbachs, der in einer Folge kleiner und größerer Wasserfälle mit teilweise ausgeprägten Tosbecken zu Tale rauscht. Arven (Zirben) klammern sich mit ihren Wurzeln in Felsspalten, Blau- und Preiselbeer-Stauden, Almenrausch sowie Eisenhut, Enziangewächse, Alpendost oder Meisterwurz lassen die üppige Blütenpracht der Früh- und Hochsommerflora erahnen. Die Waldgrenze - so Emanuel - ist auf südexponierten Hängen seit 1970 um über 250 Meter in die Höhe „gewandert“ und liegt jetzt bei etwa 2300 Metern. Zwergwüchsige Zirben und Weiden bestätigen diese Aussage im weiteren Verlauf unserer Wanderung. Wir sind mittlerweile am Salzboden mit seinem gleichnamigen See auf 2138 Metern angekommen; Salzboden deshalb, weil die Hirten hier in früheren Zeiten Salzlecksteine für ihr Vieh ausgelegt hatten. Esther aus unserer Gruppe lässt es sich nicht nehmen, ein kurzes, kühlendes Bad im See zu genießen. In benachbarten feuchten Senken gedeihen Wollgrasflocken. Ein Grasfrosch sucht hastig das Weite. Von hier aus queren wir in die vom Eis glatt gehobelten, ehemals vom Schlatenkees bedeckten Areale entlang des Gletscherweges Innergschlöss. Parallele Striemungen im Gestein (Gletscherschliff) zeugen vom Druck des Gletschereises auf mitgeführte Gesteinsbrocken, der sich als Gretscherschrammen, sogenannte Kritzungen, auf die Gesteinsoberfläche des Gletscherbetts oder seiner Flanken übertragen hat.
Vulkane und Gletscher?
Rechts vor und über uns sehen wir die Alte und Neue Prager Hütte, beide momentan nicht bewirtschaftet, wobei die Alte Prager Hütte künftig auch nicht mehr als Unterkunft zur Verfügung stehen wird. Als frühe Schutzhütten-Gründung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde sie nach dreijähriger Restaurierung im Juli 2019 wiedereröffnet. Nun aber als historische Museumshütte, ist sie doch die älteste erhaltene Hütte dieses Typs in Tirol. Hatten wir uns bisher im Altkristallin des Tauernfensters bewegt mit seinen Glimmerschiefern, Paragneisen und Amphiboliten, so nähern wir uns nun stetig der Granitzone des Venediger-Massivs. Wir laufen über hellen Orthogneis, in dem mitunter noch nicht assimilierte Fetzen von dunklem Paragneis „schwimmen“. Gefaltete weiße Quarzadern bezeugen, dass sich die silikatische Restschmelze vor Jahrmillionen der Dynamik des durch hohe Temperaturen mobilisierten Orthogneises anpassen musste. An den Rändern, auch entlang der Mitte der ehemals vom Kees bedeckten Fläche, beobachten wir eine Folge hoher und niedriger Seiten- und Mittelmoränen, Gesteinsschutt älterer Vereisungsphasen. Prominent die Mittelmoräne von 1850, also des Gletscherstatus während der Kleinen Eiszeit des 19. Jahrhunderts. Eine sich deutlich darbietende Mittelmoräne lässt sich dem über wenige Jahre dokumentierten Gletschervorstoß nach dem Jahr 1991 zuordnen. Der Vulkan Pinatubo auf den Philippinen hatte mit seiner katastrophalen Eruption vom 15. Juni 1991 riesige Mengen feinster Aschepartikel bis in die Stratosphäre geschleudert. Eine weltweite Abkühlung war die Folge. Der Autor erinnert sich, dass die Zelte seiner Freiburger Studierenden oberhalb der Heidelberger Hütte (2250m) im oberen Val Fenga der Ostsilvretta Anfang August 1992 unter der Last von Sommerschnee zusammengebrochen waren.
Wir steigen nun über eine Folge ineinander übergehender Rundhöcker. Schließlich kommt die Gletscherzunge des Schlatenkees in Sicht. Auf den Orthogneis mit grüner Farbe aufgebrachte Messpunkte signalisieren die Endstände des Eises der vergangenen Jahre. Der jeweils neue Messpunkt eines Jahres wird am 1. September gekennzeichnet. Emanuel berichtet, dass der Gletscher des Großvenedigers während der letzten Messperiode um 89 Meter zurückgewichen sei. Dies korrespondiert unmittelbar mit der Feststellung Andrea Fischers vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaft in Innsbruck im Interview mit der F.A.Z. vom 7. Juli 2022, dass „in diesem Jahr das Eis in der Höhe so schnell schmilzt wie das auf der Zunge. Wir erleben derzeit zehn bis 20cm Eisschmelze pro Tag“.
Es fiel auch in den Hochlagen kein Sommerschnee, der mit seiner Albedo das Eis geschützt hätte. Stattdessen mehrmals Niederschläge von Saharastaub, dessen rotbraune Färbung die Wärmestrahlung des Sonnenlichts noch verstärkt hat. Auch ihn sehen wir deutlich über uns auf den Firnfeldern am Fuße des Großvenediger-Gipfels. Die mittlere Firngrenze, oberhalb derer Niederschläge im Sommer in der Regel als Schnee fallen, hat sich im Laufe der Jahre kontinuierlich nach oben verschoben und liegt nunmehr zwischen 3300 und 3500 Metern. Für viele Gletscher der Alpen zu hoch, für den Großvenediger mit seiner Gipfelhöhe von 3666 Meter gerade noch im „grünen Bereich“. Im Sommer 2022 lag die Frostgrenze in den Alpen mehrmals oberhalb von 5000 Metern. Mit 5184 Metern wurde per Heliumballon ein neuer Rekord gemessen. Laut Andreas Linsbauer (Univ. Zürich u. Fribourg) zeigen Daten des Schweizerischen Gletschermessnetzes (GLAMOS), dass die Gletscher der Schweiz während der letzten 20 Jahre 30 Prozent ihres Volumens verloren haben, was etwa 24 Kubikkilometern entspricht (F.A.Z. vom 5. August 2022).
"Ein bitter-süßer Tag"
Vor uns breitet sich jetzt auf etwa 2350 Meter Meereshöhe unterhalb der schmalen Zunge des Schlatenkees ein Schmelzwassersee aus, in dem zahlreiche mehr oder weniger noch zusammenhängende Eisreste liegen. Ein Gletscher in Auflösung! Ein trauriges Sinnbild des stetig wärmer werdenden Weltklimas. Kaum mehr vorstellbar, dass im Jahre 1972 an der Gletscherzunge noch eine Eismächtigkeit von 160 Meter gemessen worden war.
Über den Prager Hüttenweg machen wir uns auf den Rückweg zum Venedigerhaus. Murmeltiere begleiten uns mit ihren Warnpfiffen. Kleine Eidechsen suchen Zuflucht im Gestrüpp der Niederstauden-Flora. Beim abschließenden Tagesausklang im warmen Licht der Spätnachmittagssonne lassen wir die Erkenntnisse und schönen Erlebnisse des Tages nochmals Revue passieren. Karins Resümee: „Ein bitter-süßer Tag“ bringt unsere Gefühle auf den Punkt. „Bitter“, weil der desolate Zustand des Gletschers uns deprimiert, „süß“ weil es ein herrlicher Tag in wunderbarer hochalpiner Landschaft war.
Tags darauf nehmen wir per Linienbus einen Standortwechsel auf die Südseite des Großvenediger-Massivs vor. Über Matrei (Osttirol) fahren wir nach Ströden, tief hinein ins Virgental. Während der Fahrt passieren wir die schmale Zone von Bündnerschiefern der Brennerkogel-Formation. Diese gehören zur unteren Schieferhülle des Tauernfensters und repräsentieren Tiefseesedimente des Nordpenninischen Ozeans aus der unteren Kreidezeit vor etwa 140 Millionen Jahren. Entlang des tief eingeschnittenen Maurertals führt unser Steig hinauf zur Essener-Rostocker Hütte (2208m). Grünschwarze Amphibolite, dunkle Paragneise und schöne Granat-Glimmerschiefer erinnern daran, dass wir uns erneut im Altkristallin des Tauernfensters befinden.
Nach Ankunft auf der Hütte, Versorgung unserer Ausrüstung sowie einer kleinen Mahlzeit machen wir uns zum Simonysee (2361m) auf. Linkerhand des Pfades hinauf zum See zeugt die rechte Seitenmoräne von 1850 vom ehemals mächtigen Eisstand. Der Simonysee wird gespeist von Schmelzwässern der Gletscher zwischen der Westlichen Simonyspitze (3481m) und Hinteren Gubachspitze (3387m). Nach Südost ausgerichtet endet die Gletscherzunge heute auf etwa 2650 Metern. Auch hier wandern wir über vom Eis glatt gehobelte Rundhöcker aus Altkristallin.
Nachhaltigkeit auf der Hütte
Am Abend organisiert Karin eine Diskussionsrunde mit Hüttenwirt Thomas. Thema: Versorgungslage und Nachhaltigkeit auf der Hütte. Durch eine Materialbahn mit dem Virgental verbunden ist der Nachschub an Verpflegung und Heizöl für Warmwasser gewährleistet. Elektrische Energie wird von einem kleinen Wasserkraftwerk in Verbindung mit einer Staustufe des Maurerbachs gewonnen. Der Klärschlamm des Abwassers wird in einer Kaverne gesammelt und muss alle 30 Jahre mit dem Helikopter zu Tale verbracht werden. Thomas, gelernter Gourmetkoch, verwöhnt seine Gäste mit einer vorzüglichen Speiseauswahl bei exzellenter Qualität. Er beklagt indessen die Anspruchshaltung gerade auch in Zeiten der Energieknappheit inklusive der notwendigen Reduktion des CO2-Fußabdrucks aller. „Es wird weder auf die warme Dusche noch auf den Föhn verzichtet.“ Mit einem trendigen Jacuzzi vor der Hütte wird allerdings der hippe Freizeittrend befördert.
Am folgenden Tag schnuppern wir mit der Überschreitung des Türmljochs (2800m) ein bisschen Höhenluft. Der Schweriner Höhenweg führt uns nach Überquerung des Maurerbachs in zahlreichen Serpentinen hinauf. Der Anblick der Gletscher von Großem Geiger, den Maurerkeesköpfen, Simony- und Gumbachspitzen lässt uns die Anstrengung vergessen. Auch Murmeltiere tragen erneut zur Ablenkung bei. Auf 2600 Metern überrascht uns Wolfslosung unmittelbar am Steig. Nach verdienter Rast auf dem Joch folgen wir dem Venediger Höhenweg hinunter zur Johannishütte (2121m). Im Blick jetzt nordöstlich vor uns die Firnfelder Inneres Mullwitzkees des Rainerhorns (3559m) und des Hohen Zauns (3451m). Kurz vor Erreichen unseres neuerlichen Nachtquartiers begeistert uns die spektakuläre Klamm des Zettalunitzbachs. Feine Kuchen und diverse Getränke füllen die Reserven schnell wieder auf. Die zurückliegenden sonnigen Tage werden durch ein heftiges Gewitter am späten Abend abgelöst. Dauerregen dann am letzten Tag unserer Exkursion, sodass wir gut durchnässt in Hinterbichl wieder das Virgental erreichen. Während des Abstiegs passieren wir zwei aktiv betriebene Steinbrüche, in denen Serpentinit gebrochen wird. Ein vorzüglicher, dunkel- bis hellgrün changierender Werkstein für Fassaden, Plattierungen aller Art, natürlich auch als Grabstein geeignet.
Fünf informative und erlebnisreiche Tage finden in Matrei bei einem letzten „Hock“ in einem gemütlichen Café ein harmonisches Ende.
Text: Rainer Springhorn
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