Es kann nicht oft genug gesagt werden: Mehr als 90 Prozent der von Lawinen erfassten Personen haben „ihre“ Lawine selbst ausgelöst – und fast immer waren das „trockene“ Schneebrettlawinen. Nass- und Gleitschneelawinen „funktionieren“ anders und gehen meistens spontan ab (siehe DAV Panorama 02/2016). Schneebrettlawinen dagegen, die gefährlichste Lawinenart für Schneesportler*innen, stehen im Fokus dieses Beitrags.
Planung zuhause und vor Ort
Im Lawinenlagebericht erfährt man zuverlässig, wo welcher Grad der Lawinengefahr herrscht. Perfekt für den ersten Schritt in der Tourenplanung, um zu entscheiden, wohin man fahren will. Möchte man vor Ort detailgenauer entscheiden, muss man im Gelände selbst beobachten, die Beobachtungen interpretieren und das Lawinenrisiko einschätzen. Dabei helfen die typischen „Lawinenprobleme“ (früher „Muster“ genannt), auf die sich die europäischen Lawinenwarndienste im Sommer 2017 geeinigt haben. Um mit Blick auf das vorherrschende Lawinenproblem die Beobachtungen im Gelände verstehen und bewerten zu können, sollte man aber zunächst wissen, wie Lawinen „funktionieren“.
Auslösung einer Schneebrettlawine
Damit sich eine Schneebrettlawine lösen kann, müssen vier Bedingungen erfüllt sein:
Eine ungünstige Kombination von Schneebrett auf Schwachschicht,
ein auslösendes Moment, zum Beispiel die Zusatzlast eines Menschen (Bruchinitiierung),
eine über den ganzen Hang ähnliche Schneebrett-Schwachschicht-Kombination (Bruchausbreitung),
und eine ausreichende Neigung des Hanges.
Schichtung der Schneedecke
Der erste Faktor ist die Schichtung der Schneedecke, die durch unterschiedliche Witterungseinflüsse wie Niederschlag, Wind oder Strahlung entsteht. Eine Schneebrettlawine braucht eine ungünstige Kombination einer Schwachschicht mit einem darüberliegenden Schneebrett. Die Schwachschicht hat eine schwache Struktur – wie ein Kartenhaus, das bei Stoß von der Seite oder Wegnehmen einer Karte zusammenbrechen kann. Schwachschichten sind weich und grobkörnig. Sie bestehen aus kantig aufgebautem Schnee oder Oberflächenreif. Auch Neuschnee kann zu Beginn noch so schwach sein, dass in einer lockeren, frisch abgelagerten Schicht ein Bruch entstehen kann.
Das typische Schneebrett darüber besteht aus dickeren Schichten mit kleinen Körnern, die gut untereinander verbunden sind; zum Beispiel vom Wind verfrachteter Schnee (Triebschnee) oder bereits etwas gesetzter Schnee. Schnee ist fast immer gebunden, es sei denn, er ist durch „aufbauende Umwandlung“ kantig und locker. Trotz seines Namens muss ein Schnee„brett“ nicht hart sein – im Gegenteil, die meisten Schneebretter sind weich.
Damit eine Schneebrettlawine abgleiten kann, muss diese ungünstige Schichtung „Schneebrett auf Schwachschicht“ großflächig im Hang vorhanden sein. In einer sehr variablen Schneedecke, etwa nach einem Frühwinter-Sturm oder in dichtem Wald, wo es weder zusammenhängende Schwachschichten noch durchgehende Schneebretter hat, gibt es auch kaum Lawinen.
Initialbruch und Bruchausbreitung
Eine Schneebrettlawine entsteht aus einer Reihe von Bruchprozessen in der Schneedecke. Am Anfang steht der „Initialbruch“, eine Schädigung in der Schwachschicht, zum Beispiel durch zunehmende Belastung während eines Schneefalls oder durch die Zusatzlast eines Menschen (Bruchinitiierung). Erreicht der Initialbruch eine kritische Fläche, beginnt schlagartig die schnelle Bruchausbreitung:
Bruchfortpflanzung
Der Riss in der Schwachschicht breitet sich über den ganzen Hang aus, bis ein Zugriss quer durch das Schneebrett entsteht. Der Bruch in der Schwachschicht kommt zum Stillstand und die abgelöste Schneetafel beginnt sich talwärts zu bewegen, sofern der Hang steiler als dreißig Grad ist. Je näher die Schwachschicht an der Schneeoberfläche liegt und je weicher die überlagernde Schicht ist, desto eher lässt sich ein Bruch initiieren. Stellen mit einer tief liegenden Schwachschicht sind also weniger kritisch als Zonen mit wenig Schnee. Und je steiler der Hang ist, desto eher kann ein Bruch in der Schwachschicht erzeugt werden. Der Initialbruch pflanzt sich nur dann fort, wenn aus dem überlagernden Schneebrett genügend Energie frei wird. Ist es beispielweise zu dünn oder zu locker, kommt es nicht zur Bruchausbreitung und damit nicht zur Lawine, auch wenn es eine kritische Schwachschicht gibt.
Zusammenspiel von Schneebrett und Schwachschicht
Das Schneebrett muss schwer und verformbar sein, um möglichst viel Energie zu liefern. Je schwerer und verformbarer das Schneebrett und je schwächer die Schwachschicht, desto kleiner ist die „kritische Größe“, ab der sich der Initialbruch schlagartig ausbreitet. Normalerweise liegt sie bei unter einem Quadratmeter. Der Bruch breitet sich mit mehreren zehn Metern pro Sekunde durch die Schwachschicht aus, oft begleitet vom charakteristischen „Wumm“-Geräusch, wenn die poröse Struktur der Schwachschicht bricht und sich das Schneebrett absenkt. Mit dem Zugriss quer durch das Schneebrett, den weiteren Brüchen rund um das Brett und dem Abgleiten des Brettes ist die Reihe der Bruchprozesse abgeschlossen.
Für die Bruchinitiierung wie für die Bruchausbreitung ist das Zusammenspiel von Schneebrett und Schwachschicht entscheidend. Brisante Kombinationen finden sich bei den häufigsten typischen Lawinensituationen, den Lawinenproblemen.
Schneebretter bei typischen Lawinensituationen
Schneebrettlawinen können bei Neuschnee-, Triebschnee-, Nassschnee- und Altschneesituationen auftreten.
Problem Neuschnee
Wenn Schnee fällt, entsteht eine neue Schicht – ein potenzielles Schneebrett, und vor allem Neuschnee ist eine Zusatzlast. Die Schwachschicht befindet sich entweder direkt an der Altschneeoberfläche, in den oberflächennahen Schichten des Altschnees oder innerhalb des Neuschnees. Durch Wind- und Temperaturschwankungen während des Schneefalls können nämlich auch kurzfristig schwache Strukturen innerhalb des Neuschnees entstehen, zum Beispiel bei wenig Wind. Diese aber verfestigen sich innerhalb weniger Tage durch Setzung und Sintern. Gefährlicher ist die Situation, wenn die Altschneedecke eine Schwachschicht an der Oberfläche (zum Beispiel Oberflächenreif) oder knapp darunter hat. Diese gefährliche Schicht bleibt nämlich erhalten, auch wenn sich der Neuschnee darüber verfestigt hat – das Neuschneeproblem wird zum Altschneeproblem.
Problem Triebschnee
Wenn der Wind Schnee verfrachtet, entsteht eine stark gebundene Triebschneeschicht mit idealen Bretteigenschaften. Liegt unterhalb des frischen Triebschneepakets eine Schwachschicht, lässt es sich leicht auslösen oder bricht spontan. Besteht die Schwachschicht aus kantig aufgebautem Schnee, so geht das Triebschneeproblem, ähnlich wie beim Neuschnee, über in ein „langlebiges“ Altschneeproblem. Gibt es eine Schwachschicht innerhalb des Triebschnees, zum Beispiel zwischen verschiedenen Ablagerungsphasen, verbessert sich die Situation manchmal schon innerhalb weniger Stunden, spätestens nach ein bis zwei Tagen. Falls die Schwachschicht fehlt, etwa weil der Triebschnee in sich gut gebunden ist und auf einer günstigen (rauen) Altschneeoberfläche liegt, ist eine Auslösung wenig wahrscheinlich.
Problem Altschnee
Befinden sich in der Schneedecke eine oder mehrere kritische Schwachschichten, die von einem Schneebrett überlagert sind, das die Bruchausbreitung unterstützt, haben wir einen ungünstigen Schneedeckenaufbau und somit ein Altschneeproblem. Die Schwachschichten bestehen dabei typischerweise aus weichem, grobkörnigem und kantig aufgebautem Schnee oder dünnen Schichten aus eingeschneitem Oberflächenreif. Kantig aufgebaute Schichten entstehen oft in schneearmen Frühwintern und können sich über Wochen oder Monate halten. Fällt Schnee auf eine Altschneedecke mit oberflächennaher Schwachschicht, haben wir ein kombiniertes Problem: Neuschnee plus Altschnee. Auch wenn sich der Neuschnee setzt, verfestigt sich die Schwachschicht nur langsam und das darüberliegende Brett bleibt bestehen: Wir haben wieder ein reines Altschneeproblem. Nur wenn das Wetter längere Zeit schön und kalt ist, kann es sein, dass das oberste Schneebrett so stark aufgebaut wird, dass es die Bruchausbreitung nicht mehr zu unterstützen vermag. Spätestens beim nächsten Schneefall oder Triebschneeereignis kann die Altschneesituation aber wieder reaktiviert werden. Beim Altschneeproblem existiert oft ein mächtiges Schneebrett und die im Frühwinter entstandenen aufgebauten Schichten sind großflächig vorhanden. Diese Kombination kann zu besonders großen Lawinen und einem erhöhten Risiko führen.
Problem Nassschnee
Durch Regen oder Schneeschmelze wird die Schneedecke feucht. Das kann zwei Dinge zur Folge haben. Wasser, das in die Schneedecke hineinsickert, kann sich an markanten Schichtgrenzen stauen. Der lokal hohe Wassergehalt führt zu einer Abnahme der Festigkeit. Vor allem bei stark aufgebauten Schichten kann die Lawinengefahr rasch ansteigen. Werden schwache Schichten an der Basis der Schneedecke feucht, können große Nassschneelawinen entstehen. Generell ist der Festigkeitsverlust am größten, wenn eine Schicht das erste Mal feucht wird. Nach einer Abkühlung stabilisiert sich eine Nassschneelawinensituation. Wenn nur die oberflächennahen Schichten feucht werden, zum Beispiel wenn es gegen Ende einer Schneefallperiode noch bis in hohe Lagen regnet, ist die Schwachschicht, die bricht, meistens trocken. Für die Auslösung entscheidend ist dann die erhöhte Verformbarkeit des Schneebretts durch die oberflächliche Anfeuchtung. Damit diese Veränderung zur Lawinenauslösung führt, muss allerdings die Schwachschicht recht ausgeprägt sein.
Die typischen Lawinenprobleme und ihre zeitliche Entwicklung
Schwachschichten innerhalb von Neu- und Triebschnee verfestigen sich innerhalb weniger Tage. Liegt die Schwachschicht an der Altschnee-Oberfläche oder knapp darunter, bleibt sie länger. Dann kann auch ein Übergang in ein Altschneeproblem stattfinden. Nassschneeprobleme bleiben bis zur Abkühlung erhalten, danach ist die Situation meist günstig. Das Problem „Gleitschnee“ ist hier nicht dargestellt, da bei Gleitschneelawinen ein anderer Auslösemechanismus als bei Schneebrettlawinen stattfindet.
Günstige Situation
Glücklicherweise sind Lawinenabgänge doch relativ selten, denn es müssen mehrere negative Faktoren zusammenkommen. Über den ganzen Winter betrachtet, herrschen oft auch günstige Verhältnisse. Nämlich dann, wenn:
die Kombination Schneebrett auf Schwachschicht für Schneebrettlawinen nicht geeignet ist oder wenn sogar eine dieser Komponenten fehlt,
eine allfällige Schwachschicht so tief in der Schneedecke liegt, dass sie kaum mehr auslösbar ist, oder
nach einer markanten Erwärmung eine Abkühlung folgt.
Denken in Prozessen
Prozessdenken heißt, sich zu überlegen, wie sich bei den aktuellen Verhältnissen eine Schneebrettlawine bilden kann. Gibt es eine Schwachschicht? Gibt es ein Schneebrett? Lässt sich ein Bruch initiieren, und wenn ja: Breitet er sich auch aus? Die Struktur der typischen Lawinenprobleme und ihrer Entwicklungmit der Zeit (siehe Abbildung oben) gibt einen Anhaltspunkt für solche Überlegungen.
Je nach Lawinensituation ist bei einer bestimmten Gefahrenstufe die Lawinengefahr unterschiedlich ausgeprägt: Erst die Kombination aus Gefahrenstufe („Zahl“) und aktuellem Lawinenproblem erlaubt, ein der Situation angepasstes Verhalten abzuleiten. So kann man zum Beispiel Regionen mit ausgeprägtem Altschneeproblem schon in der Planung ausschließen.
Unterwegs helfen die Lawinenprobleme dabei, den Fokus auf das zu lenken, was gerade wichtig ist: die Spuranlage (Triebschnee)? Oder der Zeitplan (Nassschnee)? Auch die Wahl der risikoreduzierenden Maßnahmen hängt vom Lawinenproblem ab – und unterwegs ist dabei die Gefahrenstufe zweitrangig. Beim Altschneeproblem etwa, wo große Lawinen mit möglicherweise gravierenden Konsequenzen auftreten können, ist eher ein Verzicht angesagt; ein lokales Triebschneeproblem dagegen kann man unter Umständen „umfahren“.
Aber auch mit dem Prozessdenken haben wir die Lawinengefahr nicht voll im Griff. Manchmal gelingt es uns, die Beobachtungen einzuordnen, um spezifischer innerhalb einer Gefahrenstufe beurteilen zu können. Manchmal bleiben zu viele Fragen offen und wir lassen die Tour oder den Hang besser sein.