Sonnenaufgang in den Bergen
Ein Moment, der kaum in Worte zu fassen war: der Sonnenaufgang am Piz Boè. Foto: Marie-Christin Scherer
Hüttentour in den Dolomiten

„Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen…“

„Kannst du’s glauben? Wir haben‘s wirklich geschafft!“ Nach zwölf Tagen, 154 Kilometern und in Summe 8830 Höhenmetern waren genau das die Worte, die ich meinem Bergpartner durch das laute Menschengedränge auf der Piazza Rezia in St. Ulrich zurief.

Von: Marie-Christin Scherer

Aber erstmal zurück zum Anfang… Alles begann an einem verregneten und kalten Novembernachmittag 2022. Ich hatte den gesamten Fußboden meines Schlafzimmers mit Wanderkarten zugekleistert und suchte nach der perfekten Tour für meinen nächsten Bergsommer. Nachdem ich im Jahr davor nach meinem Abitur die Alpen zu Fuß überquert hatte, war ich auf den Geschmack von Hüttentouren gekommen. Ich ließ meinen Blick noch weiter über die Karten schweifen, bis eine der feinen roten Linien mit der Nummer Zwei meine Aufmerksamkeit fesselte. In den folgenden Tagen setzte ich mich immer mehr mit dem Dolomitenhöhenweg Nr. 2 auseinander und innerlich stand mein Ziel für den Sommer fest. Da ich allerdings nur ungern mit der Masse gehe und auf dem „Weg der Legenden“ bestimmt viele unterwegs sein würden, entschied ich mich dazu, die Originalroute ein wenig abzuändern.

Die Spitzen des Lang- und Plattkofels inmitten eines kleinen Wolkenmeeres und einem für die Dolomiten so typischen Farbspiels. Foto: Marie-Christin Scherer

Kurz befürchtete ich, dass diese Tour mein erstes Solo-Abenteuer werden würde, was meine Familie nur wenig begeisterte. Doch als ich in der Arbeit von meine Plänen berichtete, fragte mich ein guter Freund und Arbeitskollege, ob ich auch einen wie ihn mitnehmen würde. Er hätte zwar überhaupt keine Bergerfahrung, aber unfassbar viel Lust und Motivation etwas Neues auszuprobieren. Ich ließ mir diese Option lange durch den Kopf gehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich jemand Unerfahrenen mit in die Berge nehmen würde. Dennoch ist eine simple Tagestour nicht mit einer alpinen Mehrtagestour zu vergleichen. Allerdings, wenn ich die Tour noch ein wenig an das Können, beziehungsweise an die Kondition meines Kollegen anpassen würde, wäre das mit Sicherheit machbar. Wenn es zu heikel werden sollte, besäße ich immer noch den nötigen Verstand, die Tour rechtzeitig abzubrechen und mit der geeigneten Vorbereitung sollte ich ihn in sechs Monaten "bergreif" bekommen. Ich stimmte also zu und spürte dann doch eine kleine Erleichterung, dass ich nicht ganz alleine unterwegs sein würde.

Am 22. Juli 2023 war‘s dann endlich so weit: Tag der Anreise und gleichzeitig Start der ersten Etappe. Während der achtstündigen Hinfahrt ging mein Gedankenkarussell so richtig los. Natürlich ist man vor so einem Abenteuer nervös. Aber neben der ganzen Vorfreude macht sich des Öfteren auch eine ganze Portion Angst und Respekt bemerkbar. Als ich dann endlich die ersten Berge sah, rückten meine Sorgen erstmal ganz weit weg und die Vorfreude siegte. Für den ersten Tag gönnten wir uns die Auffahrt mit der Plosebergbahn und dann ging es nur noch wenige Kilometer aufwärts zur Plosehütte. Gestartet sind wir bei bestem Wetter, angekommen im dichten Nebel. Nicht der schönste Start, dennoch blickten wir optimistisch auf die kommenden Tage.

Wechselhafter Start

Der nächste Morgen belohnte uns direkt mit einem wunderschönen Sonnenaufgang und einem spektakulären Ausblick auf die Geislergruppe. Leider spielte das schöne Wetter auf unserem Weg zur Schlüterhütte nicht allzu lange mit und kurz bevor wir den ersten Abstieg geschafft hatten, fing es an zu regnen. Aus dem Regen wurde ganz schnell ein ordentliches Gewitter. Ich wusste, wie unberechenbar das Wetter in den Bergen sein konnte, aber mit so einem Gewitter so früh am Morgen hatte ich nicht gerechnet. Zum Glück kamen wir an der Halslhütte vorbei und kehrten klitschnass ein. Bei gutem Kaffee und netter Gesellschaft der Hüttenwirtin saßen wir die Dauer des Unwetters ab. Den ersten regenfreien Moment passten wir ab und schafften es mit der Sonne im Rücken bis zur Peitlerscharte. Dort trafen wir auf bekannte Gesichter. Wir hatten das Dresdner Ehepaar bereits am Vorabend auf der Plosehütte gesehen und sind am Morgen zeitgleich losgegangen. Die Peitlerscharte am Fuße des Peitlerkofls war der erste strenge Aufstieg unserer Tour.

Nach geschafftem Aufstieg durch die Peitlerscharte. Foto: Anonym

Auf der Hütte angekommen gab’s zur Belohnung eine große Portion Apfelstrudel und einen schönen heißen Kakao mit Sahne. Die Nacht war allerdings alles andere als ruhig. Weniger wegen des vollen Schlafsaals. Draußen vor der Hütte tobte ein gigantisches Berggewitter. Unser Zimmer wurde regelmäßig durch die Blitze hell erleuchtet. Da waren sie wieder, die Sorgen. Am morgigen Tag stand eine Etappe an, die schon im trocknen Zustand kein Zuckerschlecken werden würde. Der Morgen begann, wie der Abend endete. Mit viel Regen. Dieser hatte die Wegspuren zum größten Teil weggespült und durch den Nebel waren auch die bekannten rot-weißen Farbmarkierungen wirklich schlecht zu finden. Insgesamt waren die Bedingungen für diesen Aufstieg alles andere als gut. Die Anspannung saß mir im Nacken und ich war überglücklich, als wir heile oben ankamen. Auf der anderen Seite der Scharte erwartete uns dann tatsächlich Sonnenschein. Wir stiegen ein Stück ab und machten auf der unten liegenden Wiese eine ausgiebige Pause. Weiter ging es noch einmal hoch hinaus auf dem Weg zur Puez Hütte. Hier erwarteten uns dann auch das erste Mal seilversicherte Passagen, die wir aber ohne Probleme meisterten. Der restliche Weg führte uns über schöne grüne Wiesen und durch Schafherden, bis dann unser Domizil für die nächste Nacht in Sichtweite lag.

Ausblick von der Puez Hütte bei perfektem Bergwetter mit schneebedeckten Gipfeln. Foto: Marie-Christin Scherer

Der nächste Morgen startete direkt mit einer Überraschung. Strahlender Sonnenschein und schneebedeckte Dolomitengipfel. Die Temperaturen waren über Nacht so weit gesunken, dass es doch tatsächlich ein wenig geschneit hatte. Voller Motivation und Vorfreude, was der Tag noch so alles bereithalten würde, gingen wir nach dem Frühstück in Richtung der Cirspitzen los. Man kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Soweit man schauen konnte nur grüne Wiesen und die imposanten Felsformationen der Dolomiten mit ihren weißgefärbten Schneespitzen. Während dieser Etappe konnten wir auch das erste Mal auf das Ziel der gesamten Tour blicken. Zu unserer Rechten eröffnete sich groß und imposant in der Ferne die Seiser Alm und im Tal konnte man die Dörfer des Grödnertals ausmachen. Wir passierten die Cirspitzen und je näher wir dem Grödner-Joch kamen, desto mehr Menschen begegneten wir - Massentourismus lässt grüßen. Um dem möglichst schnell wieder zu entkommen, überquerten wir rasch die Passstraße und machten uns am Fuße des beeindruckenden Sellamassivs auf zum Val Setus, dessen schmale Wege uns durch das Geröll zur Pisciadù-Hütte führen sollten. Das Geröllfeld war deutlich angenehmer zu gehen, als in der Roa-Scharte, dennoch war absolute Konzentration und Trittsicherheit angesagt. Im oberen Teil sind viele seilversicherte Passagen und einige haben extra für diese Stellen ein Klettersteigset angelegt. Es ist kein offizieller Klettersteig, jedoch ist es schon empfehlenswert, ein Steigset zu benutzen, wenn man sich dadurch sicherer fühlt. Oben angekommen waren wir wieder komplett überwältigt. Die Dolomiten sind eine eigene Welt für sich. Wir standen erstmal nur auf dem Plateau und haben alle Eindrücke auf uns wirken lassen, bevor wir dann die letzten Meter zum Rifugio weitergelaufen sind. Das Rifugio Pisciadù liegt wunderschön an dem glasklaren, türkisfarbenen und wirklich eiskalten Lago dì Pisciadù. Nachdem wir uns kurz mit einer Speckknödelsuppe aufgewärmt und unser Lager für die Nacht bezogen hatten, entschieden wir, noch zum Gipfel des Piz Pisciadù aufzusteigen. Ohne Gepäck und gestärkt würden wir pünktlich zum Abendessen wieder unten sein.

Entscheidungen am Berg

Leider sollte es ein bisschen anders kommen und wieder haben mich die Berge einiges gelehrt. Kurz vor dem Ziel zogen am Horizont dichte, dunkle Wolken auf. Wahrscheinlich ein abendliches Berggewitter. Es war zwar noch ziemlich weit weg, aber der Wind stand ziemlich schlecht für uns. Jetzt zu entscheiden, ob man doch das Risiko eingeht und den Gipfel noch eben mitnimmt, oder so vernünftig ist und den Heimweg antritt, war tatsächlich nicht so leicht. Vor meinem inneren Auge stellte sich eine Liste der ganzen Risiken zusammen. Nach einigem Hin und Her siegte die Vernunft und ich entschied, zurück zur Hütte gehen.

Voller Motivation wagten wir einen Versuch auf den Pisciadù-Gipfel mit dem gleichnamigen malerischen See im Hintergrund. Foto: Franklin Münch

Letztendlich ist das Gewitter in eine völlig andere Richtung gezogen und hätte uns nicht getroffen. Dennoch bereute ich meine Entscheidung nicht und war sogar ein klein wenig stolz, sie so getroffen zu haben. Das Abendessen verbrachten wir mit Heiko und Anett, dem Dresdner Ehepaar, die in der kurzen gemeinsamen Zeit am Berg wie eine kleine Reisefamilie für uns geworden waren. Der nächste Tag begann mit frischem Schnee und eingefrorenen Stahlseilen. Der Weg zur Cima Pisciadù sollte definitiv nicht unterschätzt werden. Wir haben uns viel Zeit gelassen und den einsamen Weg nach oben in vollen Zügen genossen. Oben angekommen konnte man bis in den verschneiten Hauptalpenkamm blicken und den bereits gegangenen Weg zurückverfolgen. Nach dem Abstieg steuerten wir dann unser nächstes Ziel an: das Rifugio Capanna Piz Fassa auf 3152m. Wenn man über das Plateau des Sellastocks geht, könnte man meinen, man befände sich mittendrin am Set eines Star Wars Films. So weit das Auge reicht nur Geröll und tiefe Krater, drüber strahlend blauer Himmel als extremer Kontrast zu dieser grauen Felslandschaft. Im Rifugio angekommen, begaben wir uns nach einem ungeplanten längeren Mittagsschlaf wieder vor die Hütte und genossen komplette Einsamkeit am Gipfel. Plötzlich riefen einige der anderen Gäste wild durcheinander und rannten nach draußen. Und auch unser Blick richtete sich auf die Königin der Dolomiten: inmitten des Wolkenmeers blitzte die schneebedeckte Spitze der Marmolada vor einem bunten Abendhimmel hervor! Ein absolut einmaliger und magischer Moment, der leider so schnell wieder vorbei war, wie er gekommen war.

Die Geschichten von draußen

Immer wieder schicken uns DAV-Mitglieder und andere Bergbegeisterte E-Mails mit tollen Geschichten und Erlebnissen von draußen in die Redaktion. Es sind Geschichten aus den Bergen oder anderswo in der Natur. Mit der Online-Rubrik "Geschichten von draußen" schaffen wir eine Möglichkeit, all diese Geschichten und Erlebnisse zu teilen. Und alle, die lieber lesen als schreiben, finden hier Unterhaltung, Inspiration und vielleicht schon Planungsgrundlagen für die eigene nächste Tour. Die Geschichten ersetzen keine individuelle und sorgfältige Tourenplanung.

Du hast auch eine Geschichte? Dann schick sie gerne an dav-panorama@alpenverein.de.

Gegen Ende jedes Jahres wird über die besten Geschichten abgestimmt – die Autor*innen der Gewinner-Storys dürfen sich über einen tollen Gutschein freuen.

Das Schöne an solchen Hüttentouren ist, dass man so viele interessante und komplett unterschiedliche Menschen kennenlernt, die dann doch über die gemeinsame Bergliebe alle miteinander verbunden sind. Und so wurde es wieder mal ein längerer Hüttenabend und die Nacht war viel zu kurz. Gegen halb fünf in der Früh wurde es im Matratzenlager unruhig. Schlafsäcke raschelten und Taschenlampen wurden der Reihe nach an- und ausgeschaltet. Wir hatten alle den gleichen Plan und eilten pünktlich zum Sonnenaufgang nach draußen. Dieses Naturschauspiel lässt sich in seiner Schönheit überhaupt nicht in Worte fassen. Alles wurde in goldenes und rot-orangenes Licht getaucht, fing an zu leuchten und es schien, als würden die Legenden der Dolomiten zum Leben erwachen.

Ein Moment, der kaum in Worte zu fassen war: der Sonnenaufgang am Piz Boè. Foto: Marie-Christin Scherer

Erlebnisse der besonderen Art

Unser weiterer Weg zum Passo Pordoi führte über ein steiles Geröllfeld zwischen zwei imposanten Felswänden hinab. Auf dem Weg nach unten trafen wir Alex, einen jungen und unfassbar sympathischen Australier wieder, dem wir schon öfter begegnet waren. Auch für den heutigen Tag hatten wir wieder ein gemeinsames Ziel. Direkt an der Marmolada, am Lago di Fedaia, liegt das Rifugio Marmolada Castiglioni, welches zwar recht wenig mit einem klassischen Rifugio zu tun hat und mehr einem kleineren Hotel ähnelt, jedoch mit fließend warmem Wasser punkten konnte. Nachdem wir gut 1300 Höhenmeter im Abstieg hinter uns hatten und uns die plötzlichen Sommertemperaturen nach der eisigen Kälte etwas überraschend getroffen hatten, waren wir wirklich fix und fertig. Umso dankbarer waren wir für die Pizzeria neben dem Rifugio. Angesichts des Panoramas und der Anstrengung der letzten Tage kamen wir zu dem Schluss, dass das mit Abstand die beste Pizza überhaupt war.

Frisch gewaschene Wäsche, super leckere Pizza und solch ein Panorama; besser geht’s nicht. Foto: Marie-Christin Scherer

Der nächste Tag begann mit einem angenehmen Spaziergang durch die Wälder des Trentino. Nachdem wir so in Gespräche vertieft waren und erstmal unseren Abzweig verpasst hatten, ging es über einen Weg, bei dem wir uns bis heute nicht sicher sind, ob dieser wirklich als offizieller Weg galt, einen steilen Waldhang nach oben. Als wir wieder gut an Höhe gewonnen hatten, endete der Weg und wir standen vor einem verschlossenen Tor. Wir gingen den Zaun in beide Richtungen ab und schauten, ob wir irgendwo ein Schlupfloch finden konnten. Hinter dem Zaun lagen lediglich kleinere, halb ausgetrocknete Flussläufe und auf der anderen Seite konnten wir sehen, dass der normale Wanderweg weiterging. Zudem war der gesamte Bereich Videoüberwacht. Wir überlegten ziemlich lange, ob wir wieder umkehren sollten und über einen anderen Weg zum Ziel kommen könnten. Ich hatte große Sorge, dass das zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde, da gegen Nachmittag wieder ein starker Wetterwechsel angekündigt war. Dickköpfig wie ich manchmal bin, kletterte ich kurzerhand einfach über den Zaun drüber und gemeinsam suchten wir einen Weg durch das Flussbett. Nach einer gefühlten Ewigkeit haben wir’s dann mit relativ trockenen Füßen wieder auf den richtigen Weg geschafft. Durch das Val de Contrin folgten wir dann ohne weitere Zwischenfälle der besonderen Art unserem Weg zum Rifugio Passo di San Nicoló.

Pechsträhnen auf dem Weg zum Rosengarten

Auf so einer langen Tour ist schon fast damit zu rechnen, dass nicht immer alles so läuft, wie geplant. Nachdem wir schon eine Woche unterwegs waren, fing die Pechsträhne allmählich an. Zur Nacht hin hatte ich beide meiner Sockenpaare in Fensternähe aufgehängt und natürlich hatten sie über Nacht gut Feuchtigkeit gezogen. Sie waren nicht nass, aber ich sah die Blasen an meinen Füßen schon kommen. Wie jeden Morgen starteten wir schon recht früh. Die Höhenmeter des vorherigen Tages ging es zunächst auf der anderen Seite des Berges wieder runter. Nach gut der Hälfte blieb ich abrupt stehen. Bevor wir zum Frühstück hinuntergegangen waren, hatte ich meine Powerbank an den Strom angeschlossen und vergessen sie wieder einzupacken. Da wir beide auf diese Powerbank angewiesen waren, mussten wir wohl oder übel den steilen Weg, den wir eben erst hinuntergekommen waren, wieder aufsteigen. Als die Powerbank dann wieder sicher in meinem Rucksack verstaut war, machten wir uns zum zweiten Mal an diesem Morgen auf den Weg zum Rifugio Vallaccia. Auch diese Etappe stellte ein komplettes Kontrastprogramm zu den anderen Etappen dar. Sie war geprägt von vielen steilen und ziemlich langen Aufstiegen und letztendlich kam man „nur“ auf Almhöhe raus. Die ganze Anstrengung war‘s aber auf alle Fälle wert. Das Rifugio Vallaccia liegt eingebettet auf einer kleinen Alm voller Murmeltiere, zwischen hohen Dolomitenwänden zu beiden Seiten.

Immer wieder erhascht man einen Blick auf die Strecke der letzten Tage. Hier zu sehen: das imposante Sellamassiv. Foto: Marie-Christin Scherer

Zu diesem Zeitpunkt konnten wir noch nicht im geringsten ahnen, was für eine Tortur uns am nächsten Tag erwarten würde. Der Morgen begann direkt mit einem kleinen Gipfel, der Cima Undici, die man nach einer guten halben Stunde von der Hütte aus erreichte. Von dort aus hatten wir einen beeindruckenden Blick auf den Rosengarten, dessen Durchquerung unser Ziel für die nächsten Tage sein sollte. Doch auch hier war der Weg durch die starken Unwetter der letzten Tage weggespült. Uns blieb nichts anderes übrig, als an der brüchigen kleinen Felswand, die noch übergeblieben war, mit unserem Gepäck hochzuklettern. In der Scharte selbst erwartete uns ein ganz ähnliches Problem. Kein Weg, dafür verdammt loses und rutschiges, sandartiges Kiesgeröll. Mein Bauchgefühl wurde immer mieser. Nach einem Blick in die Karte stellte ich fest, dass dieser Abstieg auf keinen Fall mehr in Frage kam. Unsere einzige Möglichkeit, unser heutiges Ziel noch zu erreichen, bestand darin, den steilen Weg vom Vortag wieder hinunter zu gehen und von dort aus dem normal geplanten Weg zu folgen. Am Rifugio hielten wir noch kurz an und informierten das Hüttenteam über die aktuellen Bedingungen an der Scharte, bevor dort noch ein Unglück passierte. Danach ging’s an den elenden Abstieg. Im Wald trafen wir dann auf die nächsten Probleme. Wir folgten wie gehabt unserem Weg und kamen mitten im Nirgendwo raus. Unser Kartenmaterial war auch keine große Hilfe mehr. Nach gefühlten Stunden sinnlosen Umherirrens hatte ich die Nase voll. Wir würden aus dem Wald rausgehen und ab dann der Passstraße folgen. Dann würden wir früher oder später auf alle Fälle im Tal rauskommen. Nachdem wir schon zwölf Kilometer hinter uns hatten und eigentlich immer noch am gleichen Punkt standen, waren die acht Kilometer Passstraße die reinste Qual. Dieser Tag hat mir wieder gezeigt, dass im Leben nicht immer alles nach Plan verläuft und gerade in der Natur oder explizit in den Bergen nicht mein Wille zählt, sondern ganz allein der Wille der Natur. Irgendwann erreichten wir dann auch endlich das Tal mit dem kleinen Ort San Giovanni di Fassa und die Bergbahn Vigo Catinaccio. Ich schickte ein kleines Dankesgebet los, als ich sah, dass noch Bahnen fuhren.

Ruhige Nächte und stürmische Tage

Oben angekommen steuerten wir auf direktem Wege das Rifugio Negritella Nuovo an. Wir hatten keine hohen Erwartungen und wollten einfach nur möglichst schnell ins Bett. Doch dann erwartete uns ein überschaubares Zimmer mit Doppelbett und einem großen Panoramafenster mit direktem Blick auf den Rosengarten. Staunend stand ich davor und dachte an die kommenden Tage, die wir in diesem Massiv verbringen würden. Dann widmete ich mich meinem Rucksack, wobei mein Blick auf eine zweite Tür im Zimmer fiel. Ich ging hin, öffnete sie und traute meinen Augen kaum. Ein eigenes Bad mit Dusche und fließend warmem Wasser! Nach einem Tag voller Strapazen rührte uns der Anblick des kleinen Badezimmers fast zu Freudentränen. Frisch geduscht und in sauberer Kleidung ging es dann zum Abendessen. Es folgten die interessantesten Kreationen unterschiedlichster Gerichte und jeder Gang war einzigartig und geschmacklich unübertrefflich. Glücklich und zufrieden fielen wir mit vollen Bäuchen und müden Beinen ins Bett. In der Nacht ließen wir die Vorhänge extra offen, um beim Aufwachen direkt den Rosengarten zu sehen.

Auf der Tour durch die Dolomiten sammelten wir Erinnerungen und Momente für die Ewigkeit. Foto: Anonym

Stattdessen waren nur dicke, schwere und dunkle Regenwolken zu sehen. Zum Glück war die Etappe zur Vajolet Hütte kurz. Da wir aber keine Lust hatten, den ganzen Tag in der Hütte zu verbringen, brachten wir die Rucksäcke ins Lager und machten uns auf zum Gipfel der Cima Scalieret. Der Himmel klarte auf, die Sonne kam raus, dem Gipfel schien nichts mehr im Wege zu stehen. Diese Gipfeltour war genau nach meinem Geschmack. Im Gelände den Weg suchen, über Geröllfelder spazieren und viele Kraxeleien. Vor uns lagen gut 600 Höhenmeter im Aufstieg. Das Wetter sah gut aus, wir waren ausgeruht und hatten alle Zeit der Welt. Wir sahen sogar einige Gämsen, die scheinbar schwerelos und ohne große Anstrengung die Geröllfelder auf und ab liefen. Der erste Teil des Weges war geziert von blühenden Almrosen. Wieder einmal schafften es die Dolomiten mich sprachlos zu machen. Nach gut 400 Höhenmetern schaute ich aber besorgt zurück Richtung Hütte. Es zogen wieder mehr Wolken auf und es wurde windiger. Als ich dann die ersten Tropfen im Gesicht spürte, gab ich sofort das Kommando zum Rückweg. Etwas enttäuscht über den erneuten Tourabbruch, erreichten wir gerade noch rechtzeitig die Hütte, als es einen heftigen Wolkenbruch gab. Plötzlich bemerkte ich, wie sich im Hüttenteam Unruhe ausbreitete. Ein Mann hing mit einem Fernglas am Fenster und blickte besorgt die Wand hoch, an der das Wasser hinunterkrachte. Ein anderer bewaffnete sich mit Regenkleidung und Seilen. Ich trat neben den Mann mit Fernglas und folgte seinem Blick. Meine Augen wurden groß, als ich sah, dass genau zwischen den Wasserfällen noch zwei Kletterer im Seil hingen. Mein Puls beschleunigte sich und ich hatte das Gefühl, helfen zu müssen. Doch niemand hätte in dieser Situation großartig was tun können, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. Ich bekam auf einem Ohr mit, wie die Bergrettung informiert wurde. Doch auch diese konnte bei so einem Unwetter erstmal nichts tun. Uns blieb nichts anderes übrig, als den Kletterern zuzuschauen und zu hoffen und zu beten, dass alles gut gehen würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging ein erleichtertes Aufatmen durch die Menge. Die Zwei hatten es sicher geschafft und kamen völlig durchnässt und Gottseidank unverletzt in die Hütte. Das Hüttenteam kümmerte sich sofort und versorgte sie mit warmer, trockner Kleidung und heißen Getränken.

Abschluss auf der Seiser Alm

Am nächsten Tag machten sich die Folgen des Unwetters bemerkbar. Viele Wege waren verschüttet und es war nicht immer ganz eindeutig, wie wir gehen mussten. Es waren aber erstaunlich viele Ehrenamtliche da, die bereits dabei waren, die Wege wieder herzustellen und für Sicherheit zu sorgen. Unser erster Aufstieg führte uns zur Grasleitenpasshütte, wo wir ein kleines Schneefeld durchqueren mussten, um dann wieder auf unseren Weg zu kommen. Wir gingen durch einen schmalen Talkessel inmitten des Rosengartens, umgeben von bekannten Gipfeln wie dem Seekogel oder der Cima Valbonda und dem Kesselkogel Richtung Tierser Alpl. Die beeindruckende Hütte hat geschichtlich einiges zu bieten und sich im Laufe der Jahre immer mehr den Bedürfnissen der Zeit angepasst, wie die Besitzer selbst stolz erzählten. Nach einer kurzen Stärkung entschlossen wir kurzerhand, noch einen Ausflug zum Schlernhaus und zum Monte Pez, dem höchsten Punkt des Schlerns, zu machen. Und so wurde es mit gut 18 Kilometern und etwa 1200 Höhenmetern wieder eine ordentliche Tour.

Wenn man den ganzen Tag in der Natur verbringt, schläft man einfach so unfassbar gut! Strahlender Sonnenschein und blauer Himmel bescherte uns dann einen perfekten letzten Tag unserer Hüttentour durch die Dolomiten. Nach einem ausgiebigen Hüttenfrühstück ging es für uns über die Rosszahnscharte hinunter zu den Wiesen der Seiser Alm. Normalerweise hielt ich nicht sonderlich viel von der größten Hochalm Europas. Massentourismus, Bustransfer und gigantische Hotels hatten meiner Meinung nach relativ wenig mit „sanftem“ Almtourismus zu tun. Jedoch hat diese Alm auch wunderschön abgelegene Ecken, die uns einen wunderbaren Blick zurück auf unsere Tour gewährten. Angefangen bei der Plose, deren Spitze hinter den Geislern hervorlugte, über die Cirspitzen zu Sellastock und Marmolada sowie Rosengarten blickten wir auf all das zurück, was wir in den vergangenen Tagen geschafft hatten. Jede einzelne Etappe ließ sich anhand des Panoramas nachverfolgen. Der erste Tag kam uns so ewig weit weg vor und in der kurzen Zeit, in der wir unterwegs waren, durften wir so vieles erleben. Neue Erfahrungen sammeln, Grenzen austesten, über uns selbst hinauswachsen, so viele unfassbar tolle neue Menschen kennenlernen und noch so vieles mehr. Als es an den letzten Abstieg ging und langsam der Lärm aus dem Tal zu uns hochdrang, blickten wir nochmal sehnsüchtig zurück. Ich dachte an die Ängste, die mich von Anfang an immer wieder begleitet haben.

Geschafft! Um einige Erfahrungen reicher endet die Tour in St. Ulrich. Foto: Marie-Christin Scherer

Jetzt, wo wir so kurz vor dem Ziel waren, verspürte ich nur noch pure Freude und Stolz! Wir traten an den Brunnen in der Mitte der Piazza Rezia in St. Ulrich und über den Lärm der Menschen rief ich meinem Bergpartner zu: „Kannst du’s glauben? Wir haben‘s wirklich geschafft!“

Über die Autorin

Hätte man mir vor acht Jahren gesagt, dass ich in den Bergen Heimat finde und mehrere Tage nur mit dem absolut notwendigsten Gepäck durch die mächtige Welt der Alpen laufen würde, hätte ich dieser Person vermutlich einen Vogel gezeigt und laut gelacht. Mit gerade einmal 18 Jahren habe ich das Weitwandern für mich entdeckt und stecke seit meiner Alpenüberquerung 2021 mit der Nase in Wanderkarten, um mir unbekannte Gebiete zu erkunden und neue Touren zu planen.

Im Sommer 2023 stand meine bisher größte Tour an, die mich auf einer selbst geplanten Variante auf dem Dolomitenhöhenweg Nr. 2 durch die faszinierende, einzigartige und atemberaubende Welt der Dolomiten führte.

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