„Eldorado“ haben Claude und Yves Remy die riesige Gletscherschliff-Platte genannt, die sie zu Beginn der 1980er Jahre am hinteren Ende des Grimselsees entdeckt und in den darauf folgenden Jahren mit einem beachtlichen Routennetz überzogen haben. Der Name ist Programm, denn der bombenfeste Granit bietet nicht nur ein Meer an Reibungsplatten, sondern auch unendlich viele Risse, Verschneidungen, Dächer, Schuppen und sonstige Felsfomationen aller Art warten hier darauf, beklettert zu werden. Mitten durch dieses Eldorado zieht eine perfekte Linie, die „Motörhead“. Gefragt sind in den 14 Seillängen nahezu alle Klettertechniken, die das Granitklettern zu bieten hat.
Abwechslung ist also garantiert, und Genuss auch – zumindest dann, wenn das Legen von Friends und Klemmkeilen gut von der Hand geht. Allzu ernsthaftes Nordwandfeeling dürfte trotz der beachtlichen Wandhöhe nicht aufkommen, denn die Steilheit der Wand hält sich in Grenzen, und auf den 500 Höhenmetern gibt es nicht eine einzige brüchige Passage (!). Das sonnige und sehr freundliche Ambiente trägt seinen Teil dazu bei, dass eine Begehung der „Motörhead“ das Zeug zum Highlight in jeder Alpinkletterkarriere hat.
Motörhead – Stück für Stück
1. Bushaltestelle Summerloch (1820 m) – Einstieg (1960 m)
360 Hm ↗, 220 Hm ↘, 5,9 km Distanz, 2 Std.
Ausgangspunkt derzeit (Sommer 2023) ist die Bushaltestelle Summerloch, 5,5 km nördlich unterhalb der Grimselpasshöhe. In fünf Minuten Fußmarsch auf einer Straße bergab geht es zur Talstation der Seilbahn zum Grimselhospiz. Dort beginnt der Wanderweg in Richtung Lauteraarhütte und führt erst einmal 150 Höhenmeter aufwärts bis oberhalb des Grimselsees. Links blickt man auf die Riesenbaustelle der neuen Staumauer, der Grund dafür, dass der eigentliche Ausgangspunkt Grimselhospiz derzeit nicht nutzbar ist. Auf und Ab geht es am Nordufer des Grimselsees durch eine Landschaft, die aussieht wie die alpine Abteilung eines botanischen Gartens. Kurz vor dem Ende des Stausees geht es auf Steigspuren hinauf zum Einstieg: ein Riss, der nach links hinauf zu einem Dach zieht. Der Routenname ist angeschrieben.
Die ersten vier Längen
Die erste Länge ist bestens geeignet zum Warmwerden mit dem Gletscherschliff-Granit – sie ist einfach (V-) und geht schnell vorbei. Die zweite Länge (VI+) dann ganz anders: Nach einer gnädigen Schuppe folgt eine Reibungsplatte, die zunächst mit Bolts gut gesichert ist. Vom letzten Bohrhaken bis zum Beginn einer Verschneidung sind es dann allerdings an die zehn Meter. Zwar nicht schwierig, aber dann doch unterer sechster Grad, und wer abrutscht, landet äußerst unsanft auf einem Absatz. Moralisch ist das gleich mal die Schlüsselstelle. Was die Schwierigkeit angeht, folgt die Schlüsselstelle in der Länge direkt danach: Eine lange, steile und anhaltend schwierige Bilderbuchverschneidung (VII), die mit kleineren Friends und wenigen Bolts akzeptabel abzusichern ist. Wer sich anschließend in der einfachen vierten Länge (V-) wiederfindet, dürfte auch der restlichen Route gewachsen sein.
Die Traumverschneidung
Sie ist das Herzstück der „Motörhead“. Drei ganze Längen geht es kompromisslos durch eine 90 Meter lange Verschneidung, die in dieser Form ihresgleichen sucht. Wirklich schwierig wird es nie, und wer des Piazkletterns mächtig ist, wird jeden Meter in vollen Zügen genießen. Bevor die Verschneidung nach links in die glatten Platten ausläuft, führt die Tour überhängend nach rechts hinaus – die zweite Schlüsselstelle, ebenfalls mit VII bewertet. Tatsächlich ist das aber viel leichter, als es aussieht, und mit nicht viel mehr als einer VII- gelangt man in geneigtes und leichteres Plattengelände. Dort zeugt ein abgeflexter Bohrhaken davon, dass Sanierungen auch mal rückgängig gemacht werden.
4. Der obere Teil
Eine leichte Länge führt nun zum Fuß einer Reibungsplatte, die gerade mal mit VI- bewertet ist. Wegen der nicht allzu üppigen Absicherung geht der Puls aber dann doch leicht nach oben – gut, dass man sich in der zehnten Länge schon an den Reibungskoeffizienten des Gebiets gewöhnt hat. Nun folgt das Finale furioso: In einer Rechtsschleife klettert man über eine tolle Piazschuppe zum nächsten Stand. Die anschließende Seillänge wartet mit der schwierigsten Einzelstelle auf, die auch zwingend zu klettern ist. Wie in dieser Route nicht anders zu erwarten, handelt es sich um eine Piazpassage, der siebte Grad ist hier sicherlich nicht verkehrt. Sind aber nur rund zwei Meter, danach wird’s gleich leichter. Die letzten zehn Meter zum Stand sind trotzdem nicht geschenkt. Die vorletzte und die letzte Länge sind dann kein wirkliches Problem mehr und lassen sich gut an einem Stück klettern. Der letzte Stand befindet sich sehr bequem wieder mitten in einer Botanischer-Garten-Bilderbuchlandschaft. Großartiges Panorama zum Finsteraarhorn und in die Gletscherwelt des Berner Oberlands inklusive.
5. Ausstieg (2350 m) – Bushaltestelle Summerloch
(1820 m), 720 Hm ↗, 190 Hm ↘, 6,1 km Distanz, 3 Std.
Der Abstieg erfolgt entlang einer grasigen Rampe östlich der Eldorado-Routen. Meist ist ein Trampelpfad sichtbar, an ein paar Stellen geht es über felsige Absätze. Schwieriger als ein Zweier (UIAA) wird es nicht. Nach einer bisweilen etwas mühsamen Stunde trifft man wieder auf den Uferweg.
Die Menschen zum Berg
Claude und Yves Remy gehören sicherlich zu den fleißigsten Erschließern von modernen alpinen Sportkletterrouten. Seit den 1970er Jahren hat das Brüderpaar aus der Westschweiz rund 12.000 Seillängen erstbegangen und dabei nicht nur große Klassiker erschaffen, sondern auch ganze Klettergebiete aus der Taufe gehoben – zum Beispiel das Eldorado am Grimselpass. Die Leidenschaft fürs Bergsteigen und Klettern haben sie von ihrem Vater Marcel geerbt. Mit 99 Jahren ist er im vergangenen Jahr gestorben, nur wenige Monate zuvor war er noch in einer Kletterhalle gesichtet worden. Claude und Yves befinden sich zwar inzwischen auch im Rentenalter, ihre Erstbegehungsambitionen sind aber nach wie vor ungebrochen.