Die Lawinenlageberichte alpen- und europaweit werden sich in Aufbau und Inhalt immer ähnlicher. Nachdem vor mehr als zwanzig Jahren die Europäische Lawinengefahrenskala eingeführt wurde, folgten in den letzten zehn Jahren der systematische Aufbau gemäß der Informationspyramide (Abb.1), ein gemeinsames Glossar für Fachbegriffe und eine zunehmend vereinheitlichte Symbolik. Der Aufbau nach der Informationspyramide bedeutet: Das Wichtigste zuerst. An erster Stelle steht die Gefahrenstufe. Darunter folgen weitere Informationsebenen. So wird sichergestellt, dass jeder Anwender das Wichtigste gesehen hat. Je tiefer er in die Information eintaucht, desto besser kennt er die Lawinensituation und desto besser kann er den Spielraum abschätzen, wo bei kritischer Lawinensituation eine Tour mit vertretbarem Risiko möglich ist. Will man sich zum Beispiel im Zuge der optimalen Tourenvorbereitung für Samstag über die Entwicklung der Lawinengefahr während der ablaufenden Woche erkundigen, schaut man bis Mittwoch nur auf die Gefahrenstufe.
Viele wertvolle Informationen
Da die Lawinengefahr langsam abnahm und seit Mittwoch eine Stufe tiefer war, liest man für Donnerstag und Freitag auch den Text der Gefahrenbeschreibung, um ein Gefühl für die weitere Abnahme zu erhalten. Mindestens für den Touren-Samstag konsultiert man dann auch die ausführlichen Informationen zu Schneedecke und Wetter. Die Warndienste empfehlen, den Inhalt des Lawinenlageberichts auszuschöpfen und nicht nur die grafisch dargestellten Gefahrenstufen, Gefahrenstellen und Muster zu betrachten. Auch der Text der Gefahrenbeschreibung und die Angaben zu Schneedecke und Wetter enthalten wichtige Informationen. Eine Schweizer Studie zeigt, dass das Wissen um den Inhalt des Lawinenbulletins exakt dem Aufbau nach der Informationspyramide entspricht: Am besten kannten die Befragten die Gefahrenstufe und die am meisten gefährdeten Geländeteile (Höhenlage und Exposition).
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Um der Lawinengefahr begegnen zu können, gibt es den Lawinenwarndienst und Risikostrategien. Und: Man muss sich auskennen mit den vielen Gesichtern des „weißen Todes“.
Gefahrenstufe – Wie hoch ist die Gefahr?
Die Gefahrenstufe (Abb.2) gibt einen generellen, regionalen Überblick über die Höhe der Lawinengefahr. Mit zunehmender Gefahrenstufe nimmt die Schneedeckenstabilität ab, die Auslösebereitschaft nimmt entsprechend zu, Gefahrenstellen werden häufiger, die Lawinen zahlreicher und größer. Die Lawinengefahr steigt dabei von der Stufe 1 (gering) über die Stufen 2 (mäßig), 3 (erheblich), 4 (groß) nach 5 (sehr groß) nicht linear, sondern überproportional. Mehr über die konkrete Ausprägung der Gefahr findet der Anwender in den nachfolgenden Informationsebenen. Durch die Gefahrenstufe allein bekommt man nur eine erste, grobe Einstufung.
Exposition und Muster
Exposition – Wo liegen die gefährlichsten Stellen?
Die Lage der gefährlichsten Stellen wird anhand der Exposition (Hangausrichtung) und der Höhenlage (Abb.3) beschrieben. Liegen zum Beispiel die „Gefahrenstellen von West über Nord bis Nordost oberhalb von rund 2200 m“, sind sie weniger verbreitet, als wenn die „Gefahrenstellen an allen Expositionen oberhalb von rund 1600 m“ liegen. Im ersten Beispiel ist es – bei gleicher Gefahrenstufe – in der Regel einfacher, eine geeignete Tour zu finden. In der Tourenpraxis hat sich eingebürgert, außerhalb der Hänge, wo die Gefahr besonders ausgeprägt ist, die Gefahr um eine Stufe tiefer anzunehmen. Diese Regel kann zur Planung einer Tour verwendet werden, ersetzt aber die Beurteilung im Gelände nicht. Denn bei der Erstellung der Lawinenlageberichte kann diese Faustregel nicht berücksichtigt werden und ist damit nicht immer gültig.
Muster – Was ist das Problem?
Die in den letzten Jahren propagierten Muster helfen, auf das aktuelle Lawinenproblem zu fokussieren. Dabei wird von der Fähigkeit des menschlichen Hirns profitiert, Merkmale wiederzuerkennen und zu interpretieren. Jedes Muster hat eine andere Ursache und verlangt ein darauf angepasstes Verhalten. Mehrere Muster können gemeinsam vorkommen. Während der letzten Jahre wurden in einigen Ländern unterschiedliche Sets an Mustern entwickelt; so gab es in Tirol zehn, in der Schweiz zuerst vier Gefahrenmuster. Heute gibt es europaweit einen Konsens zu folgenden sechs „Grundmustern“: Neuschnee, Triebschnee, Altschnee, Nassschnee, Gleitschnee und günstige Situation. Für das Muster „Altschnee“ (Abb.4) existieren zwei verschiedene Ausprägungen:
Klassisches, „bösartiges“, über Wochen andauerndes Altschneeproblem mit einer tiefen, prominenten Schwachschicht: Die Auslösebereitschaft ist oft nicht allzu hoch, aber die Gefahrenstellen sind kaum zu erkennen. Lawinen werden oft gefährlich groß, und so fordert diese Situation bei gleicher Gefahrenstufe pro Tourentag mehr Opfer als die anderen Muster. Ein solches Altschneeproblem wird beschrieben mit einem Satz wie „Schwachschichten tief in der Schneedecke …“.
Seit dem letzten Neu- oder Triebschnee ist es schon einige Tage her. Ausgeprägte, langlebige Schwachschichten sind nicht vorhanden, es wäre aber trotzdem verfrüht, von einer „günstigen Situation“ zu sprechen. Auch in solchen Fällen muss vor „Altschnee“ gewarnt werden. Die Situation wird präzisiert mit einem Satz wie „Die Gefahr geht vor allem von oberflächennahen Schichten aus …“.
Gefahrenbeschreibung – Was ist die Ausprägung der Gefahr?
In der Gefahrenbeschreibung erfährt der Anwender mehr über die Ausprägung der Gefahr. Einerseits werden die Gefahrenstellen genauer präzisiert. Geländeformen wie Steilhänge, Triebschneehänge, Kammlagen, Rinnen und Mulden werden genannt. Andererseits ist angegeben, ob und in welchem Ausmaß Lawinen zu erwarten sind und wie hoch deren Auslösebereitschaft ist. Auch eine Veränderung der Lawinengefahr innerhalb des Prognosezeitraums, zum Beispiel ein Anstieg der Lawinengefahr im Tagesverlauf, wird in dieser Ebene erwähnt. Mit dieser Information können die Durchführbarkeit der Tour abgeschätzt, Schlüsselstellen definiert und Varianten geplant werden. Es wird auch ersichtlich, wo innerhalb der Gefahrenstufe der Lawinenwarndienst die Gefahr einschätzt: Heißt es zum Beispiel bei Stufe 3 (erheblich): „… Lawinen sind durch Personen leicht auslösbar und können gefährlich groß werden. Fernauslösungen und spontane Lawinen sind möglich …“, so handelt es sich um einen „gespannten Dreier“. Heißt es hingegen: „… Lawinen sind durch Personen stellenweise noch leicht auslösbar. Spontane Lawinen sind nicht mehr zu erwarten …“, so ist die Lawinengefahr im Rückgang begriffen und die Situation eher im unteren Bereich der Stufe 3 (erheblich) anzusiedeln. Im Schweizer Lawinenbulletin werden die Sätze in der Gefahrenbeschreibung aus vordefinierten Sätzen zusammengestellt. Damit ist ein hohes Maß an Standardisierung erreicht und eine sofortige Übersetzung in andere Sprachen möglich.
Zusätzliche Informationen – weshalb besteht diese Gefahr?
Mit der Information zum Schneedeckenaufbau und zur Wetterentwicklung wird die Ursache der Gefahr nachvollziehbar (etwa Schwachschichten, Neuschnee, Wind, Temperaturverlauf) und die Ausgangslage für die Einschätzung transparent. Bleibt zum Beispiel der erwartete Neuschnee aus oder bläst der Wind schwächer als erwartet, dürfte sich die Gefahr in Realität günstiger entwickeln. Das „Weshalb“ der Gefahr stellen einige Warndienste mit weiteren Symbolen oder Gefahrenmustern dar. Messwerte – welche Details gibt es vor Ort? Mit Messwerten und Schneeprofilen kann sich jeder Nutzer individuell detaillierter über Neuschnee, Wind, Temperatur und Schneedeckenaufbau informieren.
Möglichkeiten und Grenzen
Regional ist nicht Einzelhang. Die Angaben im Lawinenlagebericht gelten für ganze Regionen. Ein einzelnes „Pixel“ ist bestenfalls rund 100 Quadratkilometer groß. Keinesfalls kann in einem Lawinenlagebericht ein Einzelhang beurteilt werden. Weder der genaue Auslösezeitpunkt noch die eigentlichen Lawinenanrissflächen können vorausgesagt werden. Deshalb müssen Benutzerinnen und Benutzer die regionale Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Lawinen (Gefahrenstufe) auf den Einzelhang herunterbrechen. Dabei helfen strategische Methoden, zusätzliche lokale Information, Erfahrung und gute Ausbildung. Weil es sich nicht um eine exakte Wissenschaft handelt, ist stets ein gewisses Restrisiko zu akzeptieren.
Denn auch aus der Nähe können selbst Profis das Einzelereignis nicht im Detail vorhersehen; aber in der Regel können sie die Wahrscheinlichkeit einer Auslösung und das Risiko einer Verschüttung enger eingrenzen. Aus dem Hochgebirge stehen den Warndiensten meist nur wenige Informationen zur Verfügung. Damit ist dort die Qualität des Lawinenlageberichts oft schlechter, so dass die eigene Einschätzung noch wichtiger wird.
Die Natur kennt keine scharfen Grenzen. Die einzelnen Regionen der Lageberichte sind meist deutlich größer als 100 Quadratkilometer; sie sind unterteilt nach topografischen, klimatologischen und politischen Kriterien. Oft verlaufen Regionsgrenzen entlang von Graten oder Flüssen und sind so im Gelände einfach nachvollziehbar. Das heißt aber nicht, dass bei unterschiedlicher Einschätzung benachbarter Regionen die Situation sich an deren Grenze abrupt ändert. Vielmehr gelten Übergangsbereiche von mehreren Kilometern. Bei den Expositionen ist ein Übergangsbereich von mindestens plus/minus einem Sechzehntel Kreissegment zu berücksichtigen, bei den Höhenlagen von plus/minus 200 Meter (Abb.5).
Doch auch bei diesen Angaben handelt es sich um Richtwerte, nicht um exakte Angaben. "Übergangsbereich" ist so zu verstehen, dass dort sowohl die günstigere als auch die ungünstigere Beurteilung gelten kann, oder etwas dazwischen. Dies muss bei der Planung berücksichtigt werden.
Modetouren zählen (manchmal) anders.
Im vielbefahrenen Variantenbereich und im Spurband von Modetouren ist die Situation oft (aber nicht immer) stabiler (Abb.6). Die Grenze zum wenig befahrenen Gelände ist zwar im Einzelfall scharf, aber abhängig von früheren Befahrungen und damit von Tag zu Tag variabel. Um Spurbänder sicher zu kennen, muss man diese vor den letzten Schneefällen gesehen haben – danach sieht man sie nicht mehr. Legt man zum Beispiel auf einer Modetour nach einem Schneefall die erste Spur ins Gelände und nimmt bei Stufe 3 (erheblich) keinerlei Alarmzeichen wahr, sollte man etwas misstrauisch daran denken, dass man sich möglicherweise im Bereich des Spurbands bewegt und deshalb eine günstigere Situation vorfindet. Wählt man dann für die Abfahrt – aufgrund des eher günstigen Eindrucks vom Aufstieg – eine offensivere, wenig befahrene Variante, könnte man ein „böses Erwachen“ erleben und die Gefahrenstufe 3 (erheblich) bestätigt finden.
Veränderungen in kurzer Zeit.
Die Lawinenlageberichte erscheinen je nach Land entweder am Morgen für den aktuellen Tag (A, D), oder am Nachmittag, gültig bis zum Abend des Folgetags (F, NO). In Südtirol erscheint der Lawinenlagebericht mehrmals wöchentlich, in der Schweiz zweimal täglich (8 und 17 Uhr). Doch selbst bei zweimaliger Einschätzung pro Tag kann man der zeitlichen Entwicklung nicht immer gerecht werden. Meist führen Wetterphänomene zu einem raschen Anstieg der Gefahr: So kann sich bei einem Föhneinbruch die Lawinengefahr innerhalb weniger Stunden deutlich verschärfen. Oder ein Warmlufteinbruch bringt Regen bis in hohe Lagen und dort einen markanten Anstieg der Lawinengefahr. Zudem unterliegt jede Prognose gewissen Unsicherheiten. Die Trefferquote der Lawinenlageberichte dürfte zwar nach verschiedenen Auswertungen bei rund 80 Prozent liegen – aber genau bekannt ist sie eben nicht.
Gefahr ist nicht gleich Risiko.
Im Lawinenlagebericht wird die Gefahr beschrieben, nicht das Risiko. Es wird also nicht unterschieden, ob Werktag oder Wochenende, oder ob zum Beispiel bei einem „gespannten Dreier“ (= solides „erheblich“) wegen Wind und Sturm niemand im Gelände ist oder ob sich bei gleicher Gefahr aber schönstem Wetter viele Leute im Tiefschnee tummeln. Die Wahrscheinlichkeit für Lawinenunfälle ist im zweiten Fall natürlich höher.
Unser bestes Hilfsmittel – zum Weiterdenken
Der Lawinenlagebericht hat in der Tourenplanung eine große Bedeutung. Der strukturierte Aufbau nach der Informationspyramide hilft, seine Information zu finden und schrittweise zu verarbeiten. Dabei ist es wichtig, auch die Grenzen der Angaben zu kennen und zu berücksichtigen. Dies gilt bei der Vorbereitung, aber auch später für die Überprüfung im Gelände. Unterwegs ist eigenverantwortliches Prüfen der Situation angesagt: Inwiefern stimmen die Aussagen im Lagebericht mit meinen Beobachtungen im Gelände überein? Wo weichen sie ab? Hat sich die Situation wie vorgesehen entwickelt, oder gab es weniger Neuschnee oder mehr Wind? Muss der Lawinenlagebericht angepasst werden? Dies gut zu begründen fordert heraus – zur vertieften Beobachtung, Analyse und Argumentation.