"Wenn etwas einmal passiert, ist es Zufall; wenn etwas zweimal passiert, ist es eine Frage; und wenn etwas dreimal passiert, ist es die Antwort!", hat angeblich der Schauspieler und Autorennfahrer Paul Newman gesagt.
„Aus Unfällen lernen!“ ist dementsprechend eine häufig gehörte Aussage in Ausbildungen zu riskanten Tätigkeiten. Im Bergsport ist das Interesse an Unfällen besonders hoch. So gibt etwa das Österreichische Kuratorium für Alpine Sicherheit eine eigene Zeitschrift für Alpinunfälle und Alpinunfallstatistik heraus (analyse:berg). Wahrscheinlich ist keine andere Sportart so auf Unfälle fokussiert; vergebens sucht man zum Beispiel die Herausgabe der „Lehrreichsten Autounfälle des Jahres“ durch den ADAC.
Doch „Lernen aus Unfällen“ ist leichter gesagt als getan. Wer könnte zum Beispiel behaupten, durch den „Struwwelpeter“ den richtigen Umgang mit Streichhölzern, Fremden oder Wetterstürmen gelernt zu haben? Um aus Schaden klug zu werden, müssen sämtliche Fakten und Einflussfaktoren des Unfalls bekannt sein und unvoreingenommen analysiert werden. Eine schwierige Voraussetzung, wie wir noch sehen werden.
Ein Fall für Ingenieur*innen?
Relativ einfach ist das noch bei technischen Fehlfunktionen, Material oder Konstruktionsfehlern. Wenn hier wirklich (zumindest weitgehend) alle negativen Faktoren – auftretende Kräfte, Winkel des Krafteintrags, Verschleiß des Materials, genaue Verwendung ... – in ihrem Wirkungszusammenhang bekannt sind, können Ingenieur*innen einfach klären, warum beispielsweise ein Karabiner an einer Zwischensicherung gebrochen oder ein Klettersteigset bei relativ geringer Belastung gerissen ist. Auch versteckte Gefahren neuer Produkte werden so entlarvt, wie etwa beim IQ-Haken, der ein schnelles Einhängen des Seiles in die Umlenkung ermöglichte – aber auch ein genauso leichtes, ungewolltes Aushängen ...
Werden durch die Unfallanalyse solche Gefahrenquellen am Material entdeckt, können sie durch Normung oder Empfehlungen künftig verhindert und aktuell von den Herstellern mit Rückrufen behoben werden (was leider nicht immer geschieht ...).
Dies ist eine gemeinsame Verantwortung von Ausrüstungsfirmen, alpinen Verbänden und sonstigen Organen des Konsumentenschutzes. Individualbergsteigende können aus solchen Unfällen, etwa durch Steigeisenbruch, wenig lernen – sie müssen (und dürfen normalerweise) sich darauf verlassen, dass die Hersteller „sichere Produkte“ machen und dabei Normen und Standards einhalten. Grauzonen, etwa zum Umgang mit Sigibolts oder Bohrhaken in Meeresnähe, werden trotzdem bleiben.
Ist Verhalten messbar?
Solche „technisch bedingten“ Unfälle machen freilich nur einen sehr kleinen Teil der alpinen Unfallstatistik aus; der Großteil hat seine Ursachen zumeist im Verhalten des bergsteigenden Individuums. Und das ist ein Problem für die Unfallanalyse, für die eben im Wesentlichen alle Faktoren und Wechselwirkungen bekannt sein müssen. In der Praxis sind diese aber so gut wie nie komplett verfügbar – das beschränkt Analysen auf die „harten Fakten“, die leicht zugänglich und auch für Außenstehende nachvollziehbar sind.
Wenn wir dann ein Muster hinter einem Unfall zu erkennen glauben, urteilen wir nicht selten mit „typisch“, als ob das Verhalten oder die Entscheidung mit hundert prozentiger Sicherheit in der Katastrophe enden musste. Was ein Irrtum ist. Denn die oft äußerst komplexe Fehlerkette oder die fatale Fehlerkombination bleibt nicht selten verborgen! Schließlich ist jeder Unfall anders; Verallgemeinerungen werden der oft unterschiedlichen Unfalldynamik nicht gerecht.
Kletterunfälle in der Halle beispielsweise haben oft dasselbe Muster: Tubersicherung, dünnes Seil, unerfahrene Sichernde, unvorhergesehener Sturz. Wenn aber alleine diese vier Punkte ausreichen würden, gäbe es jährlich zigtausende Abstürze in den Kletterhallen. Erst in der Detailanalyse werden die Umstände des individuellen Unfalls sichtbar. Ein Unfall ist immer nur der „worst case“ am Ende einer Reihe von Handlungen, Überlegungen, verdrängten Entscheidungen oder unterlassenen Maßnahmen.
Ist man hinterher klüger?
„Ex post“, also aus dem Blickwinkel nach einem Unfall, ist es relativ einfach, Ursachen eines Unglücks zu benennen: Warnstufe 3, steiler Nordhang, tödliche Lawine. Ob das tatsächlich zwingend kausal war, ist nicht so einfach zu sagen. Die Entscheidung, den Hang zu fahren, könnte vor dem Lawinenabgang noch nachvollziehbar gewesen sein – dass sie in diesem Fall „falsch“ war, hat sich eben erst in der Retrospektive herausgestellt.
Zeitungen, Radio und Fernsehen – oder gar (a)soziale Netzwerke – sind dann schnell mit Schuldzuweisungen und Vorverurteilungen zur Stelle; unterschiedlich bemüht um seriöse Information. Aus einer Berichterstattung, die in erster Linie das Bedürfnis nach Sensationen befriedigt, können fachlich versierte und interessierte Bergsportler*innen aber nichts lernen! Und für Laien bleibt nur die bodenlos falsche Botschaft, dass Leute, die sich freiwillig dem gefährlichen „Extremsport“ Bergsteigen aussetzen, zwangsläufig und zu Recht in dieser Gefahr umkommen müssen.
Objektive Analysen müssen sich immer in die Position der Betroffenen versetzen und deren Handlungen aus dem Blickwinkel „vor dem Unfall“ betrachten – mit möglichst allen situationsspezifischen Umständen und gruppendynamischen Beziehungen. Sind nicht sämtliche Informationen verfügbar, bleibt das Bild vom Unfallgeschehen unvollständig und die Gültigkeit der Unfallanalyse begrenzt. Denn welcher Punkt letztlich den Ausschlag gab, dass sich ein schöner Tag in den Bergen in eine Katastrophe verwandelte, bleibt oft verborgen.
Jedenfalls sollte man sich vor schnellen Schlussfolgerungen hüten – und mit Demut akzeptieren, dass Alpinunfälle uns manchmal die Grenzen unserer Einsicht und Lernmöglichkeiten schmerzhaft vor Augen führen.
Pech, Blackout oder Wissenslücke?
Eine weitere Einschränkung: Nicht aus jedem Unfall kann man wirklich lernen. So gibt es Fälle, wo man einfach sagen muss: „Pech gehabt!“. Der Blitz aus heiterem Himmel, unerwarteter Steinschlag, der Umlenkhaken im ausbrechenden Felsblock ... Mit dem Restrisiko muss leben, wer sagt: „Das ist es mir wert!“ Sich allerdings auf Glück zu verlassen, wäre Hasardspiel.
Manche Unfälle sind alles andere als komplex, so dass jeder einigermaßen vernunftbegabte Mensch den eindeutigen Fehler identifizieren und den schädlichen Ausgang vorhersehen kann. Beispielsweise lenkten im vergangenen Jahr zwei Menschen beim Eisklettern ihr Toprope-Seil über eine Reepschnur um, die dann beim Ablassen durchschmolz und riss. Ein absolutes Tabu, wie alle wissen, die einen Kurs absolviert oder einigermaßen kompetente Freund*innen haben! Kann man daraus lernen? Natürlich: sich gut ausbilden zu lassen. Die Betroffenen in diesem Fall waren aber ausgebildet und auch sehr erfahren, es kann sich also nur um einen „Blackout“ gehandelt haben. Und wer ehrlich ist, muss zu geben: Ein Aussetzer kann allen passieren. Wer mit diesem ehrlichen und bescheidenen Menschenbild unterwegs ist, wird zumindest die Konsequenz ziehen, auf redundante Methoden und externe Kontrolle wie den Partnercheck zu achten.
Wer lernt von wem?
Kann man dann überhaupt „aus Unfällen schlauer werden“? Entwarnung: Es ist möglich – allerdings für Neulinge oft schwieriger als für Profis. Denn selbst wenn die Faktenlage von Unfällen möglichst umfassend und objektiv erfasst ist, braucht es oft tiefgehendes Verständnis, um die Hintergründe wirklich nachvollziehen zu können. Deshalb ist es primär die Aufgabe von Ausbildungs- oder Expertenteams, Unfälle zu analysieren oder wiederholte Unfallmuster in der Gesamtstatistik zu finden. Daraus können sie Schlüsse für Empfehlungen an „Endverbraucher*innen“ ziehen und falls nötig Ausbildungsinhalte oder -schwerpunkte anpassen. Bei der Vermittlung solcher Inhalte in Ausbildungskursen können Unfallbeispiele dann als Verständnishilfe dienen.
Betrachten wir das Beispiel: „Knoten im Seilende“: Allein in Österreichs Bergen sterben jedes Jahr drei bis fünf Menschen, 10 bis 15 werden schwer verletzt, weil beim Sichern oder Abseilen das Seilende übersehen wird. Die Abhilfe scheint leicht: „Seilende abknoten!“.
Unfallkundlich gesehen wäre es aber falsch zu behaupten, dass der fehlende Knoten im Seilende die kausale Ursache sei. Vielleicht liegt ja eher ein Planungsfehler vor, weil das Seil zu kurz war oder der etwas versteckte Abseilstand übersehen wurde. Damit es zum Absturz kam, musste zudem auch noch Aufmerksamkeit fehlen oder eine andere Störung im Spiel sein.
Ist die (Kletter)Regel „Kein freies Seilende“ also übertrieben? Tatsächlich kritisieren manche Profis, dass Knoten im Seilende sich am Fels verhängen können und die Seilschaft dann blockiert ist. Hier kann die Unfallanalyse helfen, die Diskussion auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, indem sie die negativen und positiven Aspekte des Knotens im Seilende vergleicht. Rund 30 Tote und 100 Schwerstverletzte (mit bleibenden Schäden) in den letzten zehn Jahren stehen hier einer Handvoll Rettungsaktionen ohne dramatische Folgen gegenüber. Es ist also klar, welches Grundmuster die Unfallforschenden empfehlen – was man dann tut, entscheidet natürlich jede*r eigenverantwortlich je nach Situation.
Auch bei neuartigen Unfallmustern haben die Unsicherheitsforscher*innen eine wichtige Funktion als Sammler und Verbreiter von Information. Wenn sie berichten, dass jemand zum Seilabziehen ein Stück über den Standplatz hinausgestiegen und dabei gestolpert ist, dann durch Riss der Selbstsicherungs-Bandschlinge tödlich abstürzte, kann man sich denken: „Hoi, das habe ich auch schon gemacht. Gut dass ich jetzt weiß, wie gefährlich es ist.“
Die eigene Nase packen?
Ohnehin lernt man am besten aus eigenen Unfällen – vor allem wenn es hinreichend schmerzhaft war! Aber auch aus Beinaheunfällen (das Wumm-Geräusch im Hang, der abendmüde Stolperer) kann man nützliche Lehren ziehen. Denn wer selber betroffen ist, vielleicht sogar in verantwortlicher Position, kennt am besten die Faktoren und Bedingungen, die sich letztlich zum Unglück wendeten. Aus deren Analyse können jene wertvollen Erfahrungen erwachsen, die uns kompetenter werden lassen.
Dazu braucht es aber eine ehrliche und selbstkritische Auseinandersetzung. Und die ist alles andere als einfach. Nicht nur weil manche Bergsportler*innen geradezu systematisch Glück mit Können verwechseln. Sich einen Fehler einzugestehen, ist besonders schwierig in einer Gesellschaft, die Perfektion idealisiert.
„Aus Schaden klug“ zu werden, gelingt am ehesten, wenn der Unfall tatsächlich einen persönlichen finanziellen, körperlichen oder „sozialen“ Schaden erzeugt hat. Wenn der Schaden aber ausbleibt, können wir getrost davon ausgehen, dass wir ihn bei nächster Gelegenheit wiederholen. Aus Fehlern lernen, deren Konsequenzen nicht wirklich drastisch waren: Das ist eine Kunst, die nur sehr wenige, äußerst reflektierte Menschen beherrschen. Wer sie lernen will, kann Hilfe bei guten Freund*innen und fachlich versierten Kolleg*innen suchen. Etwa durch eine regelmäßige „Manöverkritik“ nach jeder Tour, die auch „gerade noch mal gutgegangene“ Schwächen und „kritische Situationen“ diskutiert – und vielleicht sogar alternative Szenarien durchspielt, nach denen man künftig handeln könnte.
Am schmerzlosesten lernt man aus fremden Fehlern; nachdrücklicher aus eigenen. Dass Schäden aus eigenen Fehlern nicht bleibend sein mögen, dass sie vielleicht sogar zum positiven Wendepunkt des eigenen Risikohandelns werden, wäre uns allen zu wünschen. Denn im Bergsport, wo der erste Fehler gleichzeitig der letzte sein kann, haben wir nicht unendlich viele Lernchancen.
Text: Walter Würtl hat Alpinwissenschaften studiert, ist Sachverständiger für Alpinunfälle und über 20 Jahre Bergführer; Chefredakteur von analyse:berg und Redakteur bei bergundsteigen.
Unfälle im Netz
Wer versuchen möchte, doch etwas aus Unfällen zu lernen, oder wer schlechte eigene Erfahrungen anderen zugänglich machen möchte, findet im Internet Gelegenheiten dazu.