Naturpark Beverin
Die Idylle schlechthin fanden die Scouts im Rheinwald. Eine „urchige“ Alphütte im verschlafenen Hinterland unter mächtigen, nicht sonderlich bekannten Bergen schien genau die richtige Kulisse für die Neuverfilmung 2014 von Johanna Spyris Weltklassiker „Heidi“ mit Bruno Ganz in der Rolle des Alpöhi zu sein. Weiterhin ruhig sollte es auch bleiben, und man unterließ die Vermarktung des Schauplatzes. So ziehen die meisten ahnungslos vorbei auf dem Weg von Sufers zur Cufercalhütte. Wahrscheinlich auch wir, hätten wir nicht Reto Heinz getroffen. Der Landwirt aus Sufers gibt uns Siedwürste und Trockenfleisch mit, denn auf der Cufercalhütte muss man sich im Winter selbst versorgen. Reto und seine Frau Anna bewirtschaften den Wanderstützpunkt ausschließlich während der Sommersaison. Im Winter zählt das Hüttenbuch ganz wenige Eintragungen. Vielleicht, weil man sich selbst versorgen muss? Reto zuckt die Schultern. Bescheidenheit scheint die Menschen hier auszuzeichnen, sonst hätten sie mit Sicherheit auch ihre Heidi-Alp vermarktet. Auch prägt zukunftsweisende Nachhaltigkeit das Gedankengut der Rheinwälder Bevölkerung. Sämtliche Bauernhöfe des Hinterrheintals, zu dem der Kreis Rheinwald gehört, stellten bereits 1994 als erstes Tal der Schweiz auf Bio um. Es lohnt also, sich in Sufers mit den lokalen Produkten einzudecken.
Es gibt diverse Selbstbedienungs-Hofläden, eine Dorfsennerei (mit preisgekröntem „bestem Bündner Käse“) und einen kleinen Dorfladen. In der Regel findet dort auch die Schlüsselübergabe der Cufercalhütte statt. Ein Stück oberhalb plätschert der Dorfbrunnen; wir füllen unsere Trinkflaschen auf. Dort stehen große Infotafeln und klären über die Geschichte von Sufers auf, der ältesten Ort schaft im Rheinwald. So heißt der oberste, rund 26 Kilometer lange Abschnitt des Hinterrheintals. Seine beiden Talflanken säumen Dreitausender, die im Süden mit dem Pizzo Tambo (3279 m) an der Grenze zu Italien abschließen. Bei der Rofflaschlucht, nur wenig unterhalb Sufers, verlässt der Hinterrhein die Talschaft ins angrenzende Schams.
Falsche Chalets
Reto zeigt zu zwei einsam liegenden Chalets hinauf. Sie sehen täuschend echt aus, sind aber tatsächlich Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg, klärt er uns auf. Als Teil der Landesverteidigung wurden diese „falschen Chalets“ von der Schweizer Armee ab 1938 überall im Gebirge gebaut und bis zum Ende des Kalten Krieges unterhalten. An ihnen führt der Weg zur Cufercalhütte vorbei. Keine menschlichen Spuren unterwegs; wir werden die Hütte ganz für uns allein haben. Dabei glänzt der Stützpunkt nicht nur mit phänomenaler Aussichtslage. Er bildet auch den Auftakt zu einem der eindrücklichsten Entrées in den Naturpark Beverin, quasi durch das Hintertürchen zu dessen zwei höchsten Gipfeln: dem Bruschghorn (3056 m) und dem Piz Beverin (2998 m).
Die kleinste von sechs Hütten der Sektion Rätia des Schweizer Alpen-Clubs SAC verbirgt hinter ihrem Bruchsteinmauerwerk urige Gemütlichkeit mit holzverkleideter Gaststube und den Schlafkammern unterm Dach. Eine Freude für alle, die traditionelle Hüttenarchitektur lieben. Es gibt kein fließendes Wasser, so sammeln wir Schnee in die Kochtöpfe. Bald knistert ein wohliges Feuer im Ofen und wir stoßen mit erfrischendem Hopfensaft an. Wie auf den meisten Schweizer Selbstversorgerhütten üblich, gibt es den Luxus eines Getränkedepots und einer Kasse, in die man einfach den angegebenen Obolus legt. Traumhaft der Blick hinüber zum Pizzo Tambo. Später spannt sich die Milchstraße über unser Haupt. Welch ein Sternenhimmel in dieser klaren Luft ohne Lichtverschmutzung.
Die nächsten Tage wird uns das Hoch erhalten bleiben, vermelden die Wetter-Apps. Wir starten früh, weil sich der Weg zum Bruschghorn ziehen wird. Vom nahen Sattel der Farcletta digl Lai Pintg lockt ein erster Powder-Rausch, doch die Querung eines weiten Hochplateaus kostet Zeit. Hitze setzt uns zu, gestaltet den Gegenanstieg auf das Bruschghorn mühsam. Wir haben zu wenig Trinkwasser mitgenommen, was bei mir zu Kopfweh führt. Gottlob gewinnt die Freude über die Aussicht dann wieder Oberhand. Das Gipfelmeer rundum erscheint endlos und öffnet das Herz. Vom höchsten Gipfel im Naturpark zeigt sich der viel bekanntere Piz Beverin als mächtiger Koloss sozusagen nebenan – er soll das Tourenziel des nächsten Tages sein. Jetzt aber erst einmal das „Zuckerl“, die Abfahrt nach Wergenstein, mehr als 1500 Höhenmeter zum Schamserberg hinunter.
Vom Tiefschnee ins Grüne, bis ins Dorf. Im Zentrum steht das Hotel Capricorns, dereinst ein gewerkschaftliches Logierhaus, das wieder Leben in den aussterbenden Ort bringen sollte. Daraus entwickelte sich das Center da Capricorns mit vier Organisationen, darunter die Forschungsgruppe „Tourismus und Nachhaltige Entwicklung“ der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und eine Geschäftsstelle des Naturparks Beverin.
Im Erdgeschoss lädt eine Dauerausstellung die Gäste ein, ihr Wissen über den Steinbock, den Capricorn (so heißt das Bündner Wappentier auf Rätoromanisch) zu vertiefen. Das tun wir später. Ein Bärenhunger treibt uns in die Gaststube. Im Angebot ist auch ein Naturpark-Menü aus lokalen Produkten. Wir schlemmen uns durch gebackene Kuhzigerbällchen, durch Gran Alpin Älpler Makronen mit Hinterrheiner Alpschweinspeck und Bergkartoffeln, durch Crème Brûlée vom Schamser Bergheu mit Sanddorn-Sorbet. Michael Magnasch, Expeditionsleiter im Naturpark, der gerne mal im Hotel aushilft, strahlt. Gerade sei er auf dem Piz Beverin gewesen, super Schneeverhältnisse. Wir sollen vor der Leiter rechts über den Südhang abfahren, da sei perfekter Firn.
Schlummern in Arvenholzbetten
Recht hatte er. Die Tour endet für uns in Mathon, einem weiteren archaischen Dörflein. Nur die Unterkunft ist ganz neu. Die Pensiun Laresch, von außen ein eher nüchterner Bau, entpuppt sich als Vorzeigemodell für Energieeffizienz und Bauökologie mit Erdsondenheizung, Fotovoltaik, Lehmverputz und Kalkfassade. Wir schlummern in Arvenholzbetten und träumen von den nächsten Abenteuern.
Unterwegs zur Greina
Im März zieht uns das Quellgebiet des Vorderrheins an: die Greina, ein unberührtes Naturjuwel, schwer zugänglich und unbesiedelt, umstellt von Dreitausendern der Adula- und Medelser Gruppe. Dort lassen sich einsame Spuren durch eine tundraähnliche Landschaft ziehen, hatten wir gehört. Aber es ist gar nicht so einfach, zur Greina zu kommen. Von Norden geht es nur über die Medelserhütte, von Westen nur über die Terrihütte. Dabei setzen schluchtähnliche Einschnitte eine sichere Lawinensituation voraus. Auch der Zugang von Süden durch das Val Camadra gilt als lawinengefährdet. Nun liegt doch mehr Schnee als erwartet, und unser Zustieg vom westlich gelegenen Dorf Vrin im Val Lumnezia verschlingt mit kräftezehrendem Spuren die doppelte Zeit.
Symbol für Naturerhalt
Erst in der Dämmerung erreichen wir die Terrihütte. Das Hüttenbuch verrät, dass wir die ersten Gäste seit Silvester sind. Nur an Ostern wird die Terrihütte während der Wintersaison bewirtschaftet. Die schwere Erreichbarkeit des Stützpunkts in einem vom Skitourismus verhältnismäßig wenig frequentierten Gebiet lohne eine längere Bewirtschaftung nicht, sagt der Hüttenwirt Toni Trummer. Ganz anders im Sommer. Denn die Greina hat sich durch ein Stauseeprojekt und vehementen Widerstand in den 1970er und 1980er Jahren in die Schlagzeilen katapultiert. Das hallt bis heute nach. Die Greina wurde zum Symbol für Naturerhalt und gegen Ausbeutung.
Anderntags wollen wir über den Pizzo Coroi (2785 m) zur Capanna Scaletta wechseln. Nach kurzem Aufstieg von der Terrihütte breitet sich die ganze Pracht der Greina-Ebene vor uns aus. Eine Tundra, die auch in Sibirien liegen könnte. Unberührt, einsam. Kein Geräusch. Nicht einmal eine Tierspur. Ein Stein mit Kreuz ragt aus der Schneeprärie. Crap la Crusch markiert das Herz der Greina und zugleich eine Kantonsgrenze (Graubünden/Tessin), eine Sprachgrenze (Rätoromanisch/Italienisch) und eine kontinentale Wasserscheide.
Zur Schneeschmelze wird sich das Wasser entscheiden, gen Mittelmeer zu fließen oder gen Rhein, also in die Nordsee. Im Bann des mächtigen Piz Terri gehen wir die Kammüberschreitung des Pizzo Coroi an. Die nordseitige Abfahrt zur Scalettahütte könnte heikel sein. Zu viel Triebschnee liegt in den Steilflanken. Wir entscheiden uns für die risikoärmere Variante. Ein Stück die Aufstiegsspur zurück und durch die Hänge unter 30 Grad Neigung. Das Flachstück durch die Greina zieht sich dann zwar, aber die Landschaftsimpressionen machen das wieder wett. Ankunft an der Scaletta. Die Winterhütte sollte doch neben dem Haupthaus liegen? Da ist aber nur ein mächtiger Haufen Schnee. Wo zum Eingang graben?
Erst der Anruf beim Hüttenwart klärt, wo wir die Lawinenschaufel ansetzen müssen. Wir buddeln uns in den Schneeberg, dessen Inneres ein wahres Hexenhäuschen birgt. Draußen tobt der Wind. Wohl ein Dauerzustand an diesem ausgesetzten Stützpunkt, wie die Verfrachtungen verraten. Der Toilettengang wird zur Expedition. Hat man sich endlich zur WC-Kabine am Abgrund vorgearbeitet und niedergelassen, dann ist die Empfindung, als säße man auf einem Fön, nur eben eiskalt.