Gegen zwei Uhr in einer mondhellen Frostnacht schreckt mich ein Geräusch aus dem Schlaf hoch. Ich höre Schritte eines schweren Tieres, dann streicht nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt eine große schnaubende Nase über die Zeltwand: Besuch von ein paar neugierigen Rentieren – nur einer von vielen unvergesslichen Eindrücken auf meiner zehntägigen 150-Kilometer-Trekkingtour durch das schwedische Jämtlandsfjäll 2018.
Das Hochland Mittelschwedens an der Grenze zu Norwegen hat für Bergwanderbegeisterte eine Menge zu bieten: Entweder zieht man, wie in den Alpen, auf markierten Pfaden von Hütte zu Hütte und nimmt den hotelähnlichen Komfort der schwedischen Wanderunterkünfte in Anspruch; oder man reist nach dem Prinzip Schnecke als Backpacker mit Zelt und Rucksack und genießt die Freiheit, zu gehen, so weit die Füße tragen, und zu campen, wo man will – das schwedische Jedermannsrecht macht es möglich. Oder man kombiniert beide Optionen.
Trampen ins Jämtlandsfjäll
Von der beschaulichen Provinzhauptstadt Östersund geht es mit dem Zug nach Undersåker an der Bahnlinie Richtung Norwegen. Eine gute Einstimmung auf eine Wanderung durch den schwedischen Fjäll, wie in Skandinavien das Gelände oberhalb der Baumgrenze heißt: Links und rechts ausgedehnte Wälder, dazwischen blitzende Seen, darüber ein weißblauer Himmel. Von der kleinen Bahnstation sind es noch etwa 20 Kilometer bis an den nördlichen Rand des eigentlichen Jämtlandsfjälls. Der einzige Bus des Tages ist schon weg – also Daumen raus am Straßenrand. Ich habe Glück: Gleich das zweite oder dritte der wenigen Autos hält an. Am Steuer ein Zimmermann aus dem kleinen Weiler Vålådalen Östra, von wo ich loslaufen will. Die ersten Kilometer führen durch dichte Wälder, die nach einem Regenschauer würzig duften, überall am Wegrand leuchten Pilze im Moos. Dann das erste Camp an einer verfallenen Holzhütte auf einer von einzelnen Birken bestandenen Lichtung. Über den Baumwipfeln steigt der Dreiviertelmond empor. Kein Mensch weit und breit. Wochenlang galt in Schweden, nach sommerlicher Gluthitze, die höchste Waldbrandwarnstufe. Doch inzwischen haben Regenfälle die Situation entschärft und ich kann mir ein kleines Feuerchen bauen. Gedankenverloren starre ich in die Flammen. Ungefähre Route, realistische Tagesleistungen und sorgsam kalkulierte Vorräte, der Plan steht.
Trotzdem bleibt die Frage: Was werden die nächsten Tage in dieser Einöde bringen, wie wird das Wetter, wer und was wird mir begegnen? Es ist dieses Moment der Ungewissheit, das leichtes Unbehagen auslösen kann, aber immer wieder von neuem den Reiz einer solchen Tour ausmacht. Jetzt heißt es also Beine in die Hand nehmen, alle Sinne auf Empfang stellen, nach und nach Teil der Landschaft werden – und der Komfortzone für ein paar Tage Ade sagen. Am zweiten Tag lasse ich mit zunehmender Höhe den Wald hinter mir und durchwandere lichte Birkenhaine, die den Übergang zum baumlosen Hochland markieren.
Es ist böig und regnerisch, und ich leiste mir für eine Benutzungsgebühr von 100 Kronen eine überdachte Pause in der Berghütte Lunndörrstugan. Es ist gemütlich bei Kaffee und schwedischem Gebäck. Ich würde jetzt gern hier sitzen bleiben. Beim Weitermarsch macht sich zunehmend das noch ungewohnte Rucksackgewicht mit Campingausrüstung und Vorräten für vier Tage bemerkbar, ich muss mich erst noch „einlatschen“.
Allgegenwärtig: die Eiszeit
Mein Zwischenziel ist die Ortschaft Ljungdalen, etwa 25 Kilometer Luftlinie von hier, wo ich Proviant und Gas für die nächste Etappe kaufen möchte. Es ist ein wegloser Abschnitt durch das Hochtal Gråsjödörren, der mir einen ersten Eindruck von der Bergwelt Mittelschwedens vermittelt: eine urzeitliche Landschaft, karg und doch reizvoll; überall flechtengesprenkelte Felsbrocken zwischen Moos und anderem spärlichem Bewuchs; sanft geschwungene Hügel, die auf den Nordostseiten oft jäh in steile Abgründe übergehen. Die Eiszeit ist hier noch allgegenwärtig.
Ljungdalen markiert den südlichsten Punkt meiner Tour, von dort geht es nach einer Nacht auf dem kleinen Campingplatz nordwestwärts in Richtung Helagsfjället und Sylarna. Wie beliebt diese beiden aus der Hochebene aufragenden Bergmassive bei schwedischen Bergwandernden sind, zeigt die zunehmende Zahl von Menschen, die mir nun begegnen. Es ist schön, allein zu gehen, denn nichts und niemand lenkt einen ab von den intensiven Natureindrücken um einen herum; es ist aber auch angenehm, in dieser Einsamkeit gelegentlich jemandem zu begegnen und ein paar Worte zu wechseln. Die „Helags fjällstation“ ist eine traditionsreiche Unterkunft des schwedischen Wanderverbandes Svenska Turistföreningen (STF). Nachdem ich einige hundert Meter entfernt mein Zelt aufgeschlagen habe, kehre ich dort ein und gehe ein wenig auf Tuchfühlung mit den schwedischen Bergfexen. Schon nach ein paar Tagen draußen ist es ein ganz besonderes Gefühl, in einem windgeschützten, trockenen und geheizten Raum auf einer Bank zu sitzen und die müden Beine auszustrecken. Das Wohlgefühl können auch die für Skandinavien üblichen astronomischen Bierpreise nicht trüben, die einem Bayern heiße Tränen in die Augen treiben. Was soll’s: Man muss dem Körper geben, was er braucht – und ich hab’s mir verdient. Das Wetter bleibt wechselhaft, und am nächsten Morgen hüllt sich der nahe, 1796 Meter hohe Gipfel des Helags erst einmal scheu in Wolken, dazu fallen Regenschauer. Aber es zeigen sich immer häufiger blaue Flecken im Grau, und ich will dem Hufeisen über Nordgrat, Gipfel und Südgrat folgen und danach zu Hütte und Zelt zurückkehren.
Ich habe Glück, und je näher ich dem Gipfel auf steilen Pfaden entlang des Kars komme, desto mehr lassen die Regen- und Schneeschauer nach und die Wolken reißen auf. Auch der Wind flaut ab, und ich kann in aller Ruhe die spektakuläre Aussicht vom Gipfel weit übers Jämtlandsfjäll genießen, zumal kein Zeitdruck auf diesem knapp fünfstündigen Abstecher besteht und ich nur leichtes Tagesgepäck tragen muss. Die Messlatte in puncto Erlebnisreichtum liegt also hoch auf der nächsten Etappe zum rund 20 Kilometer entfernten Sylarna-Massiv. Doch es wird eine ziemlich öde Schlurferei über die Hochebene bei heftigem Gegenwind und unter einem bleiern-grauen Himmel, zumal mich eine schlimme Erkältung plagt. Ich bin froh, als ich bei starkem Regen die „Sylarnas fjällstation“ erreiche und nach längerem Suchen in der Nähe ein ebenes Fleckchen fürs Zelt finde. Ich bin erschöpft. Meine Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Der innere Schweinehund traut sich aus der Hütte und knurrt missgelaunt: „Was machst du hier eigentlich, du Narr – und warum?“ Natürlich eine ebenso unsinnige wie unzulässige Frage!
Eine Tour voller Kontraste
Also erst mal rein in die Bude, Kontakt aufnehmen, Kaffeetrinken und Wärme tanken. Die „Sylarnas fjällstation“ ist schon vor über 120 Jahren entstanden, wurde aber nach einem Brand in den 1980er Jahren neu aufgebaut. Der hohe Komfort entspricht eher einem Berghotel als einem Wanderheim. Einige distinguierte ältere Herren, frisch geduscht und in proper gebügelten Wanderhosen, beugen sich über Teller mit allerlei Leckereien und nippen genüsslich an Rotweingläsern. Auch ich könnte für 215 Kronen (ca. 22 Euro) duschen – aber Dreck verunreinigt schließlich nicht die Seele, oder? Ja, es ist eine Tour voller Kontraste, zwischen Enthusiasmus und Entmutigung, und so soll es sein. Als ich abends endlich mit bleiernen Gliedern und schwer verschnupft bei Wind und Regen in den Schlafsack krieche und mich mit einem Spezialcocktail aus heißer Zitrone, Aspirin und Ibuprofen in einen totenähnlichen Schlaf ballere, kann ich mir kaum vorstellen, dass der morgige Tag ein Spaß werden wird. Doch wider Erwarten fühle ich mich am nächsten Morgen deutlich besser und werde auch noch von blauem Himmel begrüßt – was will man mehr! Alle Zweifel sind wie weggewischt und ich breche auf zum höchsten Gipfel des Sylarna-Massivs, dem 1762 Meter hohen Storsylen.
Der rund siebenstündige Ausflug auf diesen Berg, über dessen Gipfel die Grenze zwischen Norwegen und Schweden verläuft, wird wahrlich einer der Höhepunkte dieser Reise. Zwar sind Auf- und Abstieg auf den Storsylen über Geröll- und in höheren Lagen auch Schneefelder zeitraubend und erfordern Konzentration und Ausdauer, doch der überwältigende Ausblick weit nach Schweden und Norwegen hinein ist es allemal wert. Meine Tour wird mich in den nächsten drei Tagen noch ein Stück auf norwegisches Gebiet und dann über das Massiv Snasahögarna wieder zurück zur Bahnlinie nach Östersund führen. Zur Feier des außergewöhnlichen Gipfeltages auf dem Storsylen gönne ich mir ein mehrgängiges Menü mit Elchgulasch in der Fjällstation. Bald ist eine lockere Plauderei mit meinen schwedischen Tischnachbarn Nathalie, Annika, Kjäll und Frederik über unsere Wandererlebnisse im Gange. Irgendwann erörtern wir die Frage, wie es wohl unseren Vorfahren in grauer Urzeit ergangen sein mag, als sie – nicht zum Freizeitvergnügen, sondern als Jäger und Sammler – durch solche Wüsteneien streiften: Tierfelle statt Goretex-Jacken, barfuß statt in bequemen Wanderstiefeln, kein Zelt, kein Gaskocher, immer auf der Hut vor wilden Tieren und blutrünstigen Nachbarn. Ein Spaß war das sicher nicht: Nein, früher war bestimmt nicht alles besser – na ja, außer vielleicht die schwedischen Bierpreise …