Wir sind schon seit vier Wochen in Albanien unterwegs, haben das Land und die Leute kennen und lieben gelernt und uns als letzte Station in diesem wilden Land am Balkan ein echtes Schmankerl ausgesucht. Theth.
(Nicht ganz so) Holprige Ankunft in Theth
Umgeben von hohen Zweitausendern befindet sich der kleine Ort im Norden des Landes in einem weitläufigen Tal und verspricht in Sachen Wanderangebot so einiges. Doch die Serpentinen zehren an unseren Nerven. Kurve um Kurve kommen wir dem Pass näher. Die Anfahrt ist aber nichts im Vergleich zu der vor ein paar Jahren. Eine mit Schlaglöchern gespickte Schotterpiste führte damals in die Berge. Ohne Allrad konnte man das gleich vergessen. Heute kann man sowohl selbst anreisen als auch das Angebot der Minibusse in Anspruch nehmen. Von den bekanntesten Orten der Umgebung fahren die alten, weißen Mercedes-Transporter in das entlegene Bergdorf.
Wir rollen schließlich die letzte Kurve bergab und erreichen eine Brücke. Hier endet die asphaltierte Straße. Durch den Ort selbst zieht sich ein staubiger Feldweg. Wir kommen an der modernen Touristeninformation zum Stehen. Viele Häuser sehen wir nicht. “Hier sollen einmal 7000 Leute gelebt haben?”, fragt mich Luisa erstaunt. Doch bei dem beschaulichen Ort handelt es sich um eine sogenannte Streusiedlung, bei der die Häuser im kilometerlangen Tal verteilt sind. Kein Wunder also, dass wir im ersten Moment nur eine Hand voll Gebäude sehen. Wir schnüren unsere Wanderschuhe und machen uns auf zu einer kleinen Erkundungstour.
In der Information verschaffen wir uns einen Überblick über die Wanderungen und Sehenswürdigkeiten. Beim Verlassen des Gebäudes fallen uns auch gleich die ersten Wegweiser auf, die die Wanderwege markieren. Auch wenn die Ausschilderung nicht ganz mit den Standards der Alpen mithalten kann und wir in den nächsten Tagen an der ein oder anderen Ecke ins Grübeln kommen werden, welchen Abzweig wir nehmen müssen, sind die Routen grundsätzlich gut gekennzeichnet. Neben der Touristeninformation gibt es einen kleinen Supermarkt. Das Angebot ist zwar überschaubar, er wird uns aber die nächsten Tage mit dem Nötigsten versorgen. Wir unterhalten uns mit ein paar Leuten, die – zurück von ihrer Wanderung – in einer kleinen Bar im Anschluss an den Supermarkt sitzen und ihr wohlverdientes Feierabendbier und eine Pizza genießen. Im Vorfeld haben wir uns schon ein paar Highlights des Tals herausgesucht und bekommen von den Gleichgesinnten noch weitere Tipps.
Das Rauschen des Wassers
Das erste Ziel steht fest. Der Grunas Wasserfall. Die Wanderung ist als leicht einzustufen, weshalb der Wasserfall zu einem der beliebtesten Ausflugsziele des Ortes zählt. Wir starten früh in den Tag. Ausgangspunkt für unsere Wanderungen ist die Touristeninformation. Der staubigen Schotterpiste und dem Lauf des kalten Bergflusses folgend, erreichen wir nach circa zwei Kilometern eine rote Stahlbrücke. Wir bemerken die aufgestauten Becken im Anschluss an den Weg – ob wir uns im Laufe der Tage wohl dazu überwinden können, in das eiskalte Wasser zu springen? Einen kurzen Anstieg und ein kleines, malerisches Café zu unserer Rechten lassen wir hinter uns und folgen dem Rauschen des Wassers. Den Grunas Wasserfall können wir anschließend nicht verfehlen. Die Wegweiser führen uns den letzten Kilometer zur Sehenswürdigkeit.
Über 30 Meter stürzt das Wasser hier in die Tiefe. Wir halten einen Moment inne. Es ist noch kalt im Tal. Die Sonne bahnt sich ihren Weg über die hohen Berge der albanischen Alpen, hat uns aber noch nicht erreicht. Die aufgewirbelten Wassertropfen fliegen uns ins Gesicht. Mir ist kalt, aber das frühe Aufstehen hat sich gelohnt. Wir sind allein, genießen die Ruhe, die Natur und schließlich auch die ersten Sonnenstrahlen, die sich langsam zwischen den Gipfeln zu uns vorwagen. Wir sitzen schweigend nebeneinander und verweilen noch ein paar Minuten, bevor die ersten Leute hier eintreffen.
Blautöne am Blue Eye
Das Blue Eye von Theth ist unser nächstes Ziel. Der Wecker reißt uns beide aus dem Tiefschlaf. Verschlafen ziehen wir unsere Wanderschuhe an und marschieren los. Im Sommer können die Temperaturen selbst hier in den Bergen auf über 30° C ansteigen und wir wissen, dass es die Wanderung zum Blue Eye in sich hat. Darüber hinaus haben wir gehört, dass es zur Mittagszeit bei dem Becken ganz schön voll werden kann. Entsprechend nehmen wir den Marsch im Morgengrauen gerne in Kauf.
Der Weg ist zunächst der gleiche wie zum Grunas Wasserfall. Man könnte die beiden Ziele auch kombinieren. Vor dem Wasserfall biegen wir rechts ab und folgen der rot-weißen Markierung mit dem Schriftzug „Ndërlyasaj“. Der Pfad führt uns über Anhöhen entlang des Flusslaufes weiter Richtung Süden. Wir überqueren den Fluss und erreichen nach insgesamt 8,5 Kilometern eine kleine Ansiedlung alter Häuser mit großen Gemüsegärten. Ndërlyasaj. Ab hier beginnt der anstrengende Teil. Wir verlassen das weitläufige Tal und folgen einem kleinen Zufluss in die Berge. Die nächsten 2,5 Kilometer führen stetig bergauf. Das Blue Eye ist bald in Hörweite. Wir überqueren den malerischen Bach und erreichen nach ein paar weiteren hundert Metern unser Ziel.
Das Wasser schimmert in allen erdenklichen Blautönen. Fast allein können wir die Aussicht genießen. Kurz überlege ich, ob ich einen Sprung wagen soll, doch der kühle Luftzug lässt erahnen, wie kalt das Wasser ist. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und merke schnell, dass das mit dem Vollbad hier nichts wird. Nach ein paar Sekunden ziehe ich meine schmerzenden Zehen aus dem eiskalten Wasser und versuche mich in der warmen Mittagssonne wieder aufzuwärmen. Die anderen Menschen sind mittlerweile weitergezogen und wir sind wieder allein. Der Hunger macht sich langsam breit. Wir entscheiden zurück zur kleinen Brücke zu gehen und am seichten Bachlauf Mittag zu machen. Früh dran sein lohnt sich auch hier. Auf dem Rückweg kommen uns mehrere Wandergruppen entgegen. Auf die Frage, wie weit es noch sei, antworten wir nur schmunzelnd, gleich geschafft.
Erfrischungen und Fehlentscheidungen
Wir erreichen erneut Ndërlyasaj. „Jetzt ist es so weit“, sage ich zu Luisa und lege den Rucksack ab. Beim Café, das den Einstieg in die letzten 2,5 Kilometer der Wanderung markiert, ist ein großes, flaches Becken, das sich ideal zum Abkühlen eignet. Gut, dass wir bei Wanderungen zu solchen Zielen immer unsere Badesachen im Gepäck haben. Nach kurzer Überwindung treibe ich bereits im kristallklaren Wasser und genieße die Erfrischung. Lange halte ich es aber auch hier nicht aus. Als wir gerade unseren Rückweg nach Theth antreten wollen, parkt vor uns ein Minivan. Für 10 € pro Person kann man mit dem Bus zurück nach Theth fahren. Verlockend. Wir sehen uns kurz an, nicken und lassen den weißen Transporter links liegen. Wir haben in den nächsten Tagen noch mehr vor und sehen den Marsch zurück als gute Trainingseinheit. Schon nach zwei Kilometern erkennen wir, dass das ein Fehler war… jetzt ist es allerdings zu spät. Der Pfad zurück in den Ort geht meist bergauf und zieht sich wie Kaugummi. Wir sind beide heilfroh, als wir unser Heim in den albanischen Alpen schließlich wieder erreichen. In Sachen Unterkünfte gibt es im kleinen Bergdorf eine große Auswahl. Die meisten Herbergen werden familiär geführt, was einem sofort bei der Ankunft das Gefühl vermittelt, willkommen zu sein. Viele Unterkünfte bieten nach anstrengenden Wanderungen auch Verpflegung an. Meist wird ein leckeres, traditionelles Menü aufgetischt, das es dann für alle gibt.
Tierische Begleitung auf den Peja-Pass
Nächster Morgen, nächstes Ziel. Heute haben wir uns für eine Etappe des Fernwanderweges „Peaks of the Balkan“ entschieden. Der Peja-Pass soll eine der schönsten Touren des über mehrere Länder hinweg verzweigten Wandernetzwerkes sein. Obwohl wir beide noch müde sind, treiben uns Motivation und Vorfreude auf das nächste Abenteuer im malerischen Ort Theth an die frische Luft.
Wir wollen gerade durchstarten, als ein wuscheliger Vierbeiner unseren Weg kreuzt. Seine Freude über die frühe Begegnung ist ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben. Uns geht es ähnlich und so lassen wir uns auf eine kurze Streicheleinheit ein. Diesmal geht es flussaufwärts. Nach ein paar hundert Metern fällt mir auf, dass wir verfolgt werden. Der braune Vierbeiner ist uns dicht auf den Fersen. Aus Angst, dass ihm die Distanz oder die Hitze zu schaffen machen, versuchen wir ihn zu vertreiben. Vergebens. Auf einer unwegsamen Schotterpiste passieren wir zu dritt alte Häuser der Streusiedlung und erreichen schließlich das Ende des Tals. Wir stehen vor einer hohen Bergwand und ahnen, was uns erwartet. Tausend Höhenmeter. Bruno, wie wir unseren einheimischen, vierbeinigen Wanderguide getauft haben, macht den Anschein, als würde er diesen Weg nicht zum ersten Mal beschreiten. Der Höhenweg war in der Vergangenheit eine wichtige Verbindung für Karawanen, die in das nahe Montenegro und die Stadt Peja im Kosovo zogen. Heute trifft man auf dem Pfad nur noch vereinzelt Menschen.
Vorbei an riesigen, alten Kiefern bahnen wir uns unseren Weg über unzählige Serpentinen langsam nach oben. Die Mittagshitze hat mittlerweile eingesetzt und unser vierbeiniger Begleiter hechelt von einem Schatten zum nächsten. Der Ausblick am höchsten Punkt des Passes ist dann aber atemberaubend und alle Mühen wert. Von hier aus geht es durch eine Senke, bis sich der Blick wieder weitet. Ein kleines Tal liegt vor mir und ich verstehe, warum der Pass zu einer der schönsten Routen des Fernwanderwegs zählt. Der Blick verliert sich in den Details der abwechslungsreichen Landschaft. Nach einer kurzen Stärkung machen wir uns auf den Heimweg. Die Sonne brennt erbarmungslos auf uns herab und alle drei sind wir nach 19 Kilometern und 1040 Höhenmetern mehr als erleichtert, als wir erschöpft ins Ortszentrum stolpern.
Über Nacht in Valbona
Unser letztes Abenteuer in Theth sollte auch gleichzeitig das Highlight unseres Aufenthaltes im kleinen Bergdorf darstellen. Wir starten wieder früh in den Tag und passieren gerade den kleinen Supermarkt, als uns ein über das ganze Gesicht strahlender Bruno entgegenwatschelt. Die Freude ist ganz unsererseits, allerdings nur kurz. Denn unser Plan ist es, in das benachbarte Valbona zu wandern, dort eine Nacht zu bleiben und morgen den gleichen Weg wieder zurück nach Theth zu marschieren. Aus Sorge, dass die Fellnase auf der Strecke bleibt oder nicht mehr zurückfindet, versuchen wir heute energischer zu verhindern, dass uns Bruno begleitet. Natürlich vergebens! So laufen wir erneut zu dritt los. Während wir anfangs denselben Weg nehmen wie am Vortag, geht langsam die Sonne auf. Allerdings müssen wir nach ein paar hundert Metern bei einem Restaurant rechts abbiegen. Wir folgen den betonierten Serpentinen über einen ausgetrockneten, mit Geröll gefüllten Sturzbach und erreichen ein paar Häuser. Hier geht es links in einen kleinen Trampelpfad. Wir kämpfen uns den steilen Anstieg nach oben und sind froh, dass der Großteil des Weges zum Gipfel bewaldet ist. Vereinzelte Lichtungen erlauben einen Blick auf den Talkessel von Theth, bis die Sicht wieder durch mächtige Buchen eingeschränkt wird.
Wir passieren ein kleines Café, das Erfrischungsgetränke und kleine Snacks anbietet, dann lassen wir die letzten Bäume hinter uns. Der breite Wanderweg wird schmäler und ab sofort ist Trittsicherheit gefragt. Zu unserer Rechten geht es steil nach unten. Als wir in die letzte Spitzkehre einbiegen und langsam über die Kuppe des Passes sehen, trauen wir unseren Augen kaum. Wir blicken in ein weites Tal, das sogenannte Valbona-Tal. Links und rechts türmen sich massive Berggipfel auf, hinter uns das Tal von Theth und die umliegenden Berge. Ich bemerke einen kleinen Trampelpfad, der auf einen Gipfel abseits des Hauptweges führt. Wir zögern nicht lange, lassen jedoch Bruno den Vortritt. Nach ein paar Minuten erreichen wir den höchsten Punkt und sind beide sprachlos. Ein unfassbares 360-Grad-Bergpanorama. Kein Haus, keine Seilbahn und da wir so früh gestartet sind, auch kein Mensch. Wir sitzen staunend da und genießen die Stille und diesen atemberaubenden Ausblick.
Doch unser Tagesziel ist noch nicht erreicht. Nur schwer können wir uns von diesem Aussichtspunkt lösen. Wir folgen dem Hauptwanderweg weiter nach Valbona. Langsam kommen uns die ersten Menschen entgegen, die ebenfalls auf dieser Etappe des „Peaks of the Balkan“ unterwegs sind. Eine spannende Alternative zu unserer Route ist es, den ebenfalls sehr sehenswerten Koman Stausee mit einem Boot zu durchqueren und anschließend von Valbona nach Theth zu wandern. Wir erreichen nach einiger Zeit auch auf dieser Seite des Bergkamms ein kleines Café und entscheiden uns, eine kurze Rast einzulegen. Der Teil der Wanderung bietet nicht mehr so viel Schatten und die Sonne hat mittlerweile ihren Höchststand erreicht. Wir sind erleichtert, als wir schließlich unten ankommen, ohne zu wissen, was noch auf uns warten sollte. Denn dieser Abschnitt war für uns ohne Zweifel der härteste. Über mehrere Kilometer folgen wir einem ausgetrockneten Flussbett. Schatten ist auf der kompletten Strecke Fehlanzeige und der Untergrund besteht aus losen Steinen, die an unseren Kräften zehren. Wir erreichen die ersten Ausläufer des Ortes. Allerdings handelt es sich auch hier um eine Streusiedlung und wir müssen weitere drei Kilometer auf der Straße marschieren. Erschöpft erreichen wir nach 20 Kilometern, 1100 Höhenmetern und sieben Stunden reiner Gehzeit unsere Unterkunft.
Letzte Blicke auf die verwunschenen Berge
Bruno sieht uns fragend an und aus Angst, dass er in der Nacht weglaufen könnte, fragen wir den Besitzer, ob er mit auf das Gelände kann. Ein altes Bauernhaus. Ein kleines Zimmer. Ein Bett. Eine Toilette. Eine Dusche. Einfach, aber mehr wollen wir auch nicht. Nach einer wohlverdienten Abkühlung mache ich mich auf den Weg zu einem Supermarkt, um die Vorräte für den Rückweg morgen aufzustocken. Das Einzige, was ich finde, ist ein kleiner Kiosk. So haben wir wenigstens Trinkwasser. Da ich nichts Essbares bekommen habe, machen wir uns auf die Suche nach einem Restaurant. Aber auch das gestaltet sich schwieriger als gedacht. Wir werden schließlich fündig.
Am nächsten Morgen sind wir froh, dass Bruno noch draußen auf der weitläufigen Wiese liegt. Die Sonne geht gerade auf und wir schließen das hölzerne Gartentor hinter uns. Auch wenn es derselbe Weg wie gestern ist, genießen wir die Stille, die Wanderung und ein letztes Mal die atemberaubende Aussicht auf die verwunschenen Berge, wie die Gipfel von den Einheimischen genannt werden.
Wir haben mittlerweile schon einiges von der Welt gesehen, doch Theth ist einer der Orte, der uns komplett überrascht hat und an den wir auch heute noch gerne denken. Auch wenn wir sicher sind, dass sich Theth in den nächsten Jahren in Sachen Tourismus rasant verändern wird, werden wir definitiv noch einmal hierherkommen. Neben unseren Reisezielen waren die malerische, kleine Kirche, die einmalige Landschaft und die Ruhe besondere Highlights des kleinen Ortes. Und natürlich die streunenden Hunde, wie unseren Bruno, der uns in der Hoffnung, ein kleines Stück von der wohlverdienten Mahlzeit am Gipfel abzubekommen, treu begleitet hat.