Ich stapfe durch den Schnee, schiebe ihn mit den Füßen vor mir her. Der Himmel so hell wie das Weiß, durch das ich mich bergan kämpfe. Alfred, der Wanderführer, steigt voran, immer weiter Richtung St. Antönier Joch. Ich war noch nie in verschneitem Gelände jenseits der 2000-Höhenmetergrenze unterwegs – aber ich erahne, wie sich endlose Freiheit anfühlen muss. Der Wind reißt an meiner Kapuze, ich höre mich atmen. Ansonsten Stille, die Raum für lautes Gefasel in meinem Kopf schafft. Irgendwo hinter dem Nebel versteckt sich der Gipfel, den wir erreichen wollen...
Nächster Halt: Schruns
Zwei Tage zuvor: Ich sitze im Zug in Richtung Schruns. Irgendwann nach dem Bodensee wird die Bahnstrecke eingleisig. Und auch die Haltestellen sind keine Bahnhöfe mehr, sondern eher die Vorgärten von Häusern. Neben den Schienen stehen Zäune, spielen Kinder. In meiner Unterkunft holt mich die Wanderführerin Imelda ab. Es regnet, Berge sieht man keine. „Löchrige Berge“, sagt Imelda, als ich sie frage, was Montafon bedeutet. Das Montafon ist ein knapp vierzig Kilometer langes Tal, das sich von der Bielerhöhe bis Bludenz zieht. Und Löcher in den Bergen gibt es, weil schon die Kelten und Römer nach Eisenerz gegraben haben. Bis vor knapp hundert Jahren wurden im Montafon noch Silber und Erz abgebaut.
Wir fahren den Bartholomäberg hoch. Die kleinen Hügel mit den vertrockneten Halmen auf den Wiesen markieren die ehemaligen Eingänge in die Unterwelt der Berge. Imelda weiß viel über ihre Heimat. Die Walser und Räter, die die Gegend früh besiedelten, hätten „sich gegenseitig die Weiber ausgespannt“, sagt sie und lacht. Dabei werden ihre Augen klein und ihre Nase wirft zarte Falten. Sie lacht ständig – beim Reden, beim Wandern, und wenn sie andere Menschen grüßt. Man kennt sich hier im Montafon. „Luag amol“, sagt Imelda immer wieder. Sie zeigt mir die mit winzigen Schindeln verzierten Häuser, während wir immer weiter bergauf Richtung Rellseck-Kapelle wandern. Manche Wiesen sind von Zäunen durchzogen, dem „Schragazu“ – einer Konstruktion ohne Nägel aus ineinander gesteckten Holzlatten.
Imelda deutet auf die vielen kleinen Hütten auf den Bergwiesen und -hängen. Sie sind typisch für das Montafon. Wenn nach dem Winter das Heu aus war, ist man mit dem Vieh auf das Maisäß auf 1200 bis 1600 Meter Höhe gezogen. Waren die Wiesen um das Maisäß abgegrast, wurde das Vieh weiter rauf auf die Alpe getrieben. Über Generationen hinweg hat man die Dreistufenlandwirtschaft gelebt. Heute dagegen sind viele Maisäß nur noch Relikte vergangener Zeiten. Als wir die Kapelle erreichen, stürmt es. Wir gehen zurück. Imelda bringt mich nach Hause und wir drücken uns fest – „Ma siaht sich allig zwämol im Leba“, sagt sie auf Montafonerisch und lacht.
Unterwegs auf dem Themenweg Wiegensee
Der nächste Morgen beginnt neblig. Die Tafamuntbahn bringt uns auf knapp 1500 Meter unterhalb der Baumgrenze. Gerlinde, die heutige Natur- und Wanderführerin, leitet uns auf einem schmalen Pfad in den Wald. Wir steigen über armdicke Wurzeln und Felsplatten. Flechten zieren Felsblöcke, die vor tausenden von Jahren durch Gletscher hierher geschoben wurden. Gerlinde hält an, lauscht dem Bach und bittet uns, die Augen zu schließen.
Wir gehen weiter, kommen an eine Lichtung. Hier neigen sich die langen Gräser, formen grüne Wellen im Morgenlicht. Der Tau verdunstet in der Sonne. Als der Pfad nach rechts biegt, zeigt sich das Bergpanorama. Kitschig wie in einem Bob-Ross-Gemälde liegen die schneebedeckten Montafoner Berge vor uns – Bielerspitze bis Hochmarderer – im Hintergrund sieht man den Großlitzner und bis hin zum Seehorn. Wir queren ein weites Latschenfeld, an dessen Horizont sich die Breitspitze aus den Wolken hebt.
Der Pfad führt uns zum Wiegensee auf über 1900 Meter Höhe – einem fast 65 Hektar großen Moorkomplex aus Hoch- und Niedermooren und Latschenmoorwäldern. Es ist der älteste Naturstausee Europas und liegt entsprechend geschützt in einem Natura-2000- Gebiet. Der Schwingrasen wächst vom Ufer aus auf das Deckenmoor und schwimmt sozusagen auf der Oberfläche des Wassers – eine absolute Seltenheit in Mitteleuropa und sonst eher in Skandinavien zu finden. Die große Höhe, der viele Niederschlag und der wasserstauende Untergrund sind die Voraussetzung für dieses außergewöhnliche Moor. Wir setzen uns ans Ufer, machen Pause und teilen unsere Brotzeit.
Holzstege führen über das Moor, die Landschaft zeigt sich in Rostrot bis Ocker. Die Wiesen an den Berghängen sind mager, vergilbt vom heißen Sommer. Der Himmel zieht wieder zu und wir wandern im Nebel über einen Abschnitt des Schwabenkinder-Wegs in Richtung Kopssee. Noch vor ein paar Generationen war man hier so arm, dass man seine Kinder, voller Hoffnung auf ein besseres Leben als das eigene, nach Schwaben schickte. Dort sollten sie arbeiten. Tausende Kinderfüße müssen sich hier durch Schnee und Fels über die Berge gequält haben … Wir erreichen den Kopssee und fahren mit dem Bus zurück ins Tal.
Auf dem Pfad der Schmuggler entlang der Schweizer Grenze
Am letzten Tag geht es mit Wanderführer Alfred auf den Riedkopf. Wir queren den Hang, ein Trümmerfeld aus verschneiten Felsblöcken. Wegmarkierungen sieht man nicht mehr. Bisher sind wir beide wortkarg. Als wir an einem winzigen See vorbeikommen, frage ich, wie er heißt. „Das ist wohl ein namenloser See“, sagt er. „Wie viele Tage im Jahr bist du in den Bergen unterwegs?“, frage ich Alfred. Er überlegt. „Bestimmt über hundert Tage. Im Sommer wandere ich barfuß. Da musst du mal mit“, meint er.
Es geht steil bergauf, der Hang liegt hinter uns. Man sieht schon die Schilder vom St. Antönier Joch. Auf den letzten Metern nach oben flattern drei Schneehühner davon. Ich ärgere mich, weil wir sie aufgeschreckt haben. Der Mensch stört eben meist … Als wir das Joch erreichen, deutet Alfred ins Tal und berichtet, dass da die Schweiz ist. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Grenze hier streng bewacht, weil manche versuchten in die Schweiz zu fliehen. Einheimische halfen und schmuggelten Menschen gegen Geld.
„Hast du Angst, Janina?“, fragt Alfred. Angst habe ich keine. „Dann kraxeln wir über den Grat“, sagt er und ich nicke. Wir stapfen los, der Schnee wird mehr und bleibt trotzdem pulverfein. Der Wind schießt über die Gipfel, die vereisten Flocken fühlen sich wie Papierschnitte im Gesicht an. Alfred zeigt mir, wie man nach einem sicheren Tritt sucht. Er setzt den Fuß auf den Stein, schiebt den Schnee mit dem Schuh zur Seite und belastet vorsichtig sein Bein. Erst dann zieht er den anderen Fuß nach. Ich brauche meine Hände, halte mich an den mit Schnee bedeckten Felsen fest.
Der Wind reißt an uns. In der Ferne lassen sich Himmel und Landschaft kaum voneinander unterscheiden, so sehr geht das Weiß in das helle Grau über. Der Pfad, auf dem wir laufen, ist oft nicht breiter als ein Fuß lang ist. Nein, ich habe keine Angst. Im Gegenteil – ich fühle mich zu Hause. Hier draußen, wo man sich dem so nahe fühlt, wie der Mensch vor tausenden von Jahren wohl gelebt haben muss. Wenn jetzt einer von uns abstürzt, fallen wir mehrere Meter tief. Doch durch den Schnee sieht es so aus, als würden wir weich landen.
Als wir am Gipfel ankommen, umarmen wir uns. Alfred lächelt, sein Schnauzer zuckt dabei. „Eigentlich habe ich immer einen Gipfelschnaps dabei, aber ich dachte mir, ich bringe was Süßes mit” sagt Alfred und zieht zwei Kokospralinen aus seiner Jacke. Es stürmt und wir beschließen abzusteigen und weiter unten zu rasten. Auf einem Vorsprung mit Bank halten wir an, um zu jausen. Der Blick auf Roßberg und Schmalzberg wird immer wieder von Wolken verdeckt.
Alfred erzählt mir von Galtür und anderen Lawinenunglücken. Ich frage ihn, ob er mal in eine Notsituation kam. Er überlegt und schüttelt den Kopf. Dann setzt er an und erzählt, dass er auf einer Tour mit Freunden einmal eine Höhle in den Schnee gegraben hat und sie dort notbiwakierten. „Ich könnte das nicht“, antworte ich und denke daran, in einer Schneehöhle gefangen zu sein. Alfred lächelt und sagt nur, dass es mit genug Glühwein schon ginge und es auch ganz warm sei...