„Meine Begeisterung hat sich in Grenzen gehalten“, erinnert sich Valeria Steck, „denn eigentlich hatte ich nicht geplant, den Sommer auf einer Alm zu verbringen.“ Doch viel zu überlegen gab es damals nicht. Denn vor drei Jahren übernahm ihr Vater die Planeiler Alm – und dazu gehörte neben Ausschank und Küche auch die Sennerei. Kurz vor dem Start der Saison eignete sich die 22-Jährige das Wissen in einem Sennkurs an. „Damit kam die Leidenschaft fürs Käsen“, erzählt Valeria, „danach allerdings wurde ich ins kalte Wasser geschmissen. Im Kurs klang alles ganz easy, da wird Käse mit hundert Liter Milch gemacht und dann kommt man auf die Alm und hat auf einmal einen Kessel mit 1200 Litern Milch vor sich.“
Mittlerweile hat Valeria Routine, und die Planeiler Alm in einem einsamen Seitental des Vinschgaus entwickelte sich zu einem Geheimtipp für Käsefans – bei der Käseolympiade in Galtür werden die Produkte regelmäßig ausgezeichnet. Nicht die einzige Besonderheit der wunderschön gelegenen Alm: Im kilometerlangen Planeiler Tal gibt es keine weiteren Jausenstationen.
Keine Ausnahme, wie ein Blick auf die vom Vinschgau in die Ötztaler Alpen ziehenden Täler zeigt. „Bei uns gibt es zwar Landschaft im Überfluss“, sagt Gerald Burger, Geschäftsführer der Ferienregion Reschenpass, „aber leider wenig Almen, auf denen man einkehren kann.“ Im Grunde ist das gesamte Gebiet zwischen Langtaufers, Vinschgau und dem Schnalstal, das geografisch zu den Ötztaler Alpen zählt, ein ruhiger Fleck inmitten touristisch eher stark besuchter Bergregionen. Erstaunlich, denn hier begeistert eine einsame und faszinierende Landschaft, die vom fast schon mediterranen Vinschgau mit seinen endlosen Apfelplantagen auf rund 600 Meter Höhe bis zur vergletscherten Weißkugel auf 3738 Meter reicht.
Vom Apfel zum Eis
Einen guten Eindruck von den unterschiedlichen Höhenstufen gewinnt man bereits am ersten Tag einer fünftägigen Runde, auf der man sich Schritt für Schritt vom Vinschgau mit seinen Seen, Wiesen und Wäldern entfernt und schließlich am Fuß der Weißkugel ein Gelände erreicht, das gerade erst vom Gletscher freigegeben scheint. Am besten startet man die Tour bei der Grauner Alm und wandert so von Beginn an im freien Wiesengelände. Die Wege beim Anstieg auf das Großhorn sind weder breit noch ausgetreten. Vereinzelt helfen ein paar verblasste Markierungen auf Felsblöcken, doch im Grunde sucht man sich seinen Weg auf dem Wiesenrücken selbst. Die Belohnung: Traumhafte Aussichten in den Vinschgau, in dem neben den sattgrünen Wiesen das tiefblaue Wasser von Haider- und Reschensee verführerisch glitzert. Über allem thront als schönstes Motiv der alles beherrschende, leuchtend weiße Ortler. „Da geht dir das Herz auf“, schwärmt auch Gerald Burger, „es ist immer wieder wunderschön, wenn du auf einem Gipfel stehst, auf den Ortler schaust und das Panorama genießt.“ Traumhaft ist auch die Fortsetzung der Tour zum Mittereck, bei der man sich je nach Lust und Laune seinen eigenen Weg suchen kann. „Wir haben 330 Kilometer Wanderwege in der Region“, erzählt Gerald, „und 30 Gipfel über der 3000-Meter-Marke.“ Viele davon sieht man vom breiten Gipfelrücken und man ahnt beim Blick auf die endlosen Geröll- und Schuttfelder, dass die meisten wenig Besuch erhalten. Selbst auf der Tour über das Mittereck sieht man eher einen Bartgeier als einen Wanderer. Von Overtourismus kann hier keine Rede sein, das weiß auch Gerald Burger: „Die Leute schätzen, dass sie bei uns Ruhe finden.“
Zufrieden scheinen auch die Hühner, Truthähne, Schweine und Kühe auf der Planeiler Alm. „Die Kühe stehen Tag und Nacht auf der Weide und kommen nur zum Melken in den Stall“, erzählt Valeria und findet: „Das ist für die wie Urlaub für uns.“ Für die Sennerin dagegen ist der Sommer sehr arbeitsintensiv. Um halb vier in der Früh steht sie täglich auf, um die Milch vom Vortag zu verkäsen – und tagsüber hilft sie im Service. „Vor einigen Jahren gab es noch 114 Kühe auf der Alm“, weiß Valeria, „heute sind es noch 70 und die kommen aus der kompletten Region – nur drei sind aus Planeil.“ In dem kleinen Ort mit den schmalen Straßen leben rund 150 Menschen, Tendenz fallend. „Früher gab es ein Geschäft und einen Kindergarten“, erinnert sich Valeria, „wir waren 18 Schulkinder – heute sind es fünf.“ Wenigstens ein Gasthaus mit Übernachtungsmöglichkeit gibt es noch, so dass man anderntags direkt vom Quartier starten kann.
Bio auf dem Berg
Über die Spitzige Lun, einen Aussichtsgipfel, geht es hinüber ins erste Bergsteigerdorf Südtirols. Rund 460 Menschen wohnen im Matscher Tal, das voll auf Bio setzt. Ein Vorzeigebetrieb ist dabei die Gondaalm mit ihren 85 Milchkühen, die seit dem Sommer 2019 als Bio-Betrieb bewirtschaftet wird. „Die Bauern in Matsch wollen Bioprodukte produzieren“, erklärt Manfred Heinisch vom Glieshof, „mit ihren kleinen Flächen können sie nicht mit den Großbetrieben mithalten und brauchen ein Nischenprodukt, um einen guten Preis zu erzielen.“ Und so entdeckt man auf der gemütlichen Wanderung von Matsch entlang des Ackerwaals zum Glieshof immer wieder Felder, auf denen Beeren, Blumenkohl oder Karotten wachsen. Ob man jetzt von der Spitzigen Lun über Matsch und den durch die grünen Wiesen verlaufenden Waalweg oder über die höher gelegene Gondaalm zum Glieshof wandert, kann jede*r für sich entscheiden. Endpunkt der Etappe ist das in den letzten Jahren ausgebaute Hotel, das mehr als die Hälfte der Übernachtungen des Tales auf sich vereint.
„Ich habe mit mehr Anfragen von Bergsteiger- oder Alpenvereinsgruppen gerechnet“, sagt er. Möglichkeiten zum Wandern, aber auch für Skitouren gibt es jedenfalls genug. „Außerdem ist das Matscher Tal sonnig und hat ein für die Höhenlage sehr angenehmes Klima“, sagt Heinisch. Und als Höhepunkt die Saldurseen, die zu den schönsten Bergseen Südtirols zählen.
Zwar ist der Anstieg abschnittsweise recht steil, doch spätestens an der Seenplatte ist jegliche Anstrengung vergessen. Zwischen 2750 und 3100 Meter Höhe verstecken sich mehrere kleinere und sechs größere Seen – ein siebter ist mittlerweile verlandet. Gleich daneben liegt ein See mit Sandstrand und einer Farbe, die eher an die Karibik erinnert. Statt Palmen prägen endlose Schuttfelder und Moränen diese Bilderbuchlandschaft – Reste der Gletscher, die sich längst in die obersten Winkel der Kare zurückgezogen haben und in einigen Jahren Geschichte sein werden. Noch größer sind die Moränen beim Abstieg zur Oberetteshütte, die wie eine Oase inmitten grüner Wiesen unterhalb des ehemaligen Oberettesferners steht und eine bewegte Geschichte hat. Schon im Jahr 1883 bot die damalige Karlsbader Hütte ihren Gästen Schutz. Im Jahr 1945 brannte das Haus bis auf die Grundmauern ab, ehe es viele Jahre später neu erbaut und 1988 eingeweiht wurde.
Vor zwölf Jahren übernahmen Karin und Edwin Heinisch die Hütte, für beide eine völlig neue Erfahrung. „Wir hatten vorher gar nichts mit Gastronomie zu tun“, erzählt Edwin, „aber wir haben es einfach mal probiert.“ Mittlerweile sind sie echte Profis und die Hütte ist für ihr gutes Essen bekannt. Anfangs waren sie zu viert hier oben, heute packen sie in der Hauptsaison zu acht an. War früher die Weißkugel die Hauptattraktion, so locken mittlerweile auch Angebote wie „Bergferien für Familien“ der Alpenvereine oder ein markierter Anstieg auf die Schwemserspitze. Dazu gibt es einen Übergang ins Langtauferer Tal, der so neu ist, dass er noch nicht einmal in den Landkarten eingezeichnet ist. Vor einigen Jahren wärmte Edwin die alte Idee eines Übergangs wieder auf und fand in Kassian Winkler einen engagierten Unterstützer. Immer wieder hat der Wanderführer das Gelände erkundet, um den optimalen Wegverlauf festzulegen. „Schließlich habe ich angefangen, den Steig zu markieren“, erzählt Kassian, „an einigen plattigen Stellen wurden Eisenstifte gebohrt, im vorletzten Jahr dann zwei Baumstämme als Brücke über den Abfluss vom Matscher Ferner eingeflogen und im Jahr 2020 montierte ich die letzten Schilder.“
Das erste Stück ist identisch mit dem Normalweg zur Weißkugel über den Speiksee, ehe man am Beginn der flachen Querung zum Matscher Ferner die Route verlässt. Der Schriftzug „Matscher Jochsee“, der unübersehbar auf einem vom Gletscher glatt geschliffenen Felsrücken aufgepinselt wurde, gibt die Richtung vor.
Die Markierungen führen durch das einst vom Eis geformte Gelände, ehe ein kurzer Abstecher zum Gletschertor des Matscher Ferners führt. Weiter geht es im Auf und Ab durch die Hänge, wobei es sich hier keinesfalls um einen Steig, geschweige denn einen Weg handelt. Mit viel Fantasie sind hier und da Trittspuren zu erkennen, mehr nicht. Oder, wie Kassian betont: „Geschaufelt wurde nichts.“ Dennoch glaubt man ihm gerne, dass er den bestmöglichen Routenverlauf gefunden hat. „Ich bin sogar auf die Freibrunner Spitze rauf, um den Planeilferner zu umgehen“, erzählt er, „aber ich habe schnell gesehen, dass man hier niemanden raufschicken kann.“ Und so muss man jetzt nach dem mühsamen Anstieg ins Matscher Joch ein Stück am Rand des Gletschers absteigen. Für Kassian bisher kein Problem, doch im Sommer 2020 war alles ausgeapert. Statt über harmlose Schneefelder führten einige Meter über blankes Eis, das man dank vieler Steine ohne Steigeisen überwinden konnte.
Alles in Bewegung
Mehr Aufmerksamkeit erforderte der anschließende Gegenanstieg über die Seitenmoräne – gefühlt ist hier alles in Bewegung. „Die Tour ist nur etwas für Leute mit guter Kondition, die zudem schwindelfrei und trittsicher sind“, betont Kassian, der sich in so einem Gelände sichtlich wohlfühlt. Eine lange Stange auf einem Felsrücken markiert den Ausweg aus dem Blockgelände und die Fortsetzung der Route zur Planeilscharte. Beim Abstieg ins Langtauferer Tal bestätigt sich eindrucksvoll, dass das Gelände überaus anspruchsvoll ist. Es ist alles in Bewegung, einen Steig anzulegen ist aussichtslos – hier kann man nach jedem Winter wieder von vorne anfangen zu schaufeln. Erst weiter unten ist buchstäblich Gras über den Schutthaufen gewachsen und man wandert auf guten Wegen hoch über dem Langtauferer Tal nach Maseben – allerdings nicht, ohne immer wieder zurückzuschauen auf die vergletscherten Gipfel im Talschluss. Als Skigebiet hatte Maseben keine Zukunft. Doch es geht auch ohne Liftzubringer, wie Alessando Secci beweist. Zusammen mit ein paar Partnern kaufte er das Gebiet und lockt die Gäste mit Sternwarte und gutem Essen. Im Winter läuft für die Haus- und Tagesgäste, die sich vom Tal zu Fuß auf den Weg machen, der Schlepplift – quasi ein Privatskigebiet mit Naturschnee. Ähnlich privat und individuell ist auch die fünftägige Runde durch die südwestlichen Ötztaler Alpen, die von den sanften Gipfelformen direkt über dem Vinschgau mitten hinein ins Hochgebirge führt. Dabei begeistert nicht nur die Königsetappe auf dem neu markierten Steig über die Planeilscharte. Hier sammelt man Schritt für Schritt unglaublich viele Eindrücke. Die leben daheim sofort wieder auf als Bilder im Kopf – bei der Jause mit Valeria Stecks Käse, den man nur bei ihr auf der Alm kaufen kann.