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Sentiero Alpino Calanca

Weitwandern in Graubündens Süden

Wer auf der Suche nach einer anspruchsvollen Mehrtagestour mit spannenden Gipfelabstechern und eindrucksvollen Tiefblicken ist, wird auf dem Sentiero Alpino Calanca seine Freude haben. Nicht von ungefähr gilt er als einer der schönsten Höhenwege der Alpen.

Wind kommt auf. Plötzlich ziehen dichte Nebelschwaden über den menschenleeren Pian Grand. Beim Aufstieg zur gleichnamigen Selbstversorgerhütte bin ich Anfang August froh um meine warme Mütze. Neunzig Minuten zuvor hatten Jana, Wolfgang und ich auf einem spannenden Gipfelabstecher noch ordentlich geschwitzt. Und voller Vorfreude vom Gipfelsteinmann des Piz d´Arbeola den Ausblick auf die kommenden Bergtage genossen. Vor uns liegen knapp vierzig Kilometer auf einem der schönsten Höhenwege der Alpen. Zwischen den tief eingeschnittenen Tälern Calanca und Mesocco führt der „Sentiero Alpino Calanca“ genau in Nord-Südrichtung an der südlichsten Schneide Graubündens entlang.

Dass wir in unserer ersten Unterkunft nicht alleine sein werden, war schon bei der Anreise klar. Schließlich ist heute der 1. August, Schweizer Nationalfeiertag. Zudem wurde uns bei der Anmeldung auf der Capanna Buffalora - der einzigen bewarteten Hütte des Sentiero Alpino Calanca - mitgeteilt, dass wir die letzten freien Plätze am Pian Grand ergattert hätten. Doch wie die Menschen in der Schweiz so sind, geht es im und rund ums Rifugio ruhig und überaus höflich zu. Da gibt es kein Gerangel um die zwei Gasherde. Und ab 22 Uhr sind alle mucksmäuschenstill.

Wie kommen wir nur an dem Hirtenhund vorbei, der, auf einem Felsblock sitzend, seine Zähne fletscht?

Entsprechend ausgeruht starten wir am nächsten Tag zur langen zweiten Etappe, die zwar keine zusätzlichen Gipfelbesteigungen, dafür aber neben unzähligen anderen Eindrücken den idyllischen „Härzlisee“ im Programm hat. Ganz leicht wird uns der Weg zum Lagh de Calvaresc allerdings nicht gemacht. Trittsicher wie wir sind, stellt uns ein satter Wolkenbruch noch vor keine unlösbaren Probleme. Wie aber kommen wir an dem Hirtenhund vorbei, der auf einem Felsblock direkt über unserem Weg seine Zähne fletscht?

Dass der Sentiero Alpino Calanca am bellenden Ungetüm vorbei führt, ist kein Zufall. 1977 begann der Schweizer Wilfried Graf zusammen mit vielen weiteren Gründungsmitgliedern der Associazione Strade Alte della Calanca (ASAC) damit, Überreste uralter Alpwege und unscheinbare Wildwechsel zu einem großartigen Höhenweg zu verbinden. Aus allen Teilen Europas beteiligten sich damals Jugendliche an unzähligen Arbeitseinsätzen in oft schwierigstem Berggelände. Seit 1983 ist der Sentiero Alpino Calanca durchgehend begehbar. Wir sind also genau zum vierzigsten Geburtstag hier oben unterwegs!

Drei einfache Selbstversorgerhütten sowie die komfortable Capanna Buffalora wurden entlang der Strecke für passionierte Berggeher*innen errichtet. Und bis heute kümmert sich die ASAC um den Unterhalt der Wege und der Unterkünfte. Und freut sich dabei auch weiterhin über tatkräftige Freiwillige.

Doch zurück zum „besten Freund des Menschen“. Wenige Meter vor uns trauen sich zwei weitere Weitwanderer nicht an dem Hirtenhund vorbei. Nach sechs Stunden Gehzeit ist Umkehren natürlich keine wirkliche Alternative. Wir fassen uns ein Herz und gehen langsam aber entschieden weiter. Der Hund hat uns im Blick. Wir schauen ihm besser nicht direkt in die Augen und lassen die Schlüsselstelle des heutigen Tages erleichtert hinter uns. Was folgt ist reiner Berggenuss. Nach dem sanften Anstieg zum Piz de Ganan, der eher eine Bergschulter als ein eigenständiger Gipfel ist, steigen wir auf schmalen Pfaden zum herzförmigen „Härzlisee“ hinab. Wie gut, dass der anstrengende, dreistündige Talzustieg den See bisher davor bewahrt hat, ein überlaufener Instagram-Hotspot zu sein.

Mit jedem Schritt im märchenhaften Lärchen-Kiefernwald kommt mehr und mehr die Sonne heraus.

Das Wasser glitzert wunderschön. Wegen des frischen Windes kommt dennoch keine Badestimmung auf. So geht es nach einer kleinen Pause weiter. Auf etwa derselben Höhe queren wir in einem riesigen Bogen den Bergkessel Pianon de Calvaresc. Und mit jedem Schritt im märchenhaften Lärchen-Kiefernwald kommt mehr und mehr die Sonne heraus - und wir der heiß ersehnten Buffalora-Hütte näher.

Unverkennbar: Der Härzlisee. Foto: Michael Pröttel

Nach gut sieben Stunden reiner Gehzeit haben wir uns ein frisches Helles mehr als verdient und sind etwas überrascht. Das leckere „Quöllfrisch“ wird nicht auf schwyzerdütsch, sondern auf sächsisch serviert. Denn die Buffalora-Hütte wird in zweiwöchigem Wechsel von Freiwilligen bewartet. Was in der Schweiz nicht selten ist. Diese Woche ist Stefanie Fischer aus dem Erzgebirge an der Reihe, die ihr Herz in Helvetia verloren hat. Gut für uns, denn von ihr und ihrer Schwester werden wir äußerst lecker bekocht.
Der Tag klingt mit einem Blick auf die über der Hüttenterrasse funkelnden Sterne aus. Glücklich, satt und müde fallen wir in unsere Betten und sind von dem gelungenen Massivholz-Neubau begeistert. Nachdem 1985 eine Lawine die erste Buffalora-Hütte zerstört hatte, wurde 1987 die zweite auf einem sicheren Geländerücken errichtet. 2014 wurde diese dann mit Augenmaß renoviert und erweitert.

Auch wenn der letzte Tag von der Strecke her noch etwas länger ist als Etappe zwei, wollen Jana und ich noch einen ordentlichen Gipfel mitnehmen. Während Wolfgang im kühlen Augustwind auf dem Pass de Buffalora ausharrt, sprinten wir knappe vierhundert Zusatz-Höhenmeter zur Cima de Nomnom hinauf. Weiter oben dämpft Felsblockgelände zwar das Tempo, nicht aber den Spaß. Wieder sehen wir eine wunderschöne, aber schier endlose Bergkette vor uns, hinter der angeblich unser Zielort Santa Maria liegen soll.

Wieder sehen wir eine wunderschöne, aber schier endlose Bergkette vor uns.

Dass dem so ist wissen wir gut sieben Stunden später und sind uns einig, dass der kleine Bergort ein besonders tolles Weitwanderziel ist. Gepflasterte Fußwege führen uns zwischen alten Steinhäusern zur wunderschönen Pfarrkirche. Und direkt über ihr verlangt die dunkle Stiege des mittelalterlichen Wehrturms uns die letzten Oberschenkel-Kraftreserven ab.