Im Vordergrund eine schon fast vergilbte, hochalpine Wiese. Im Hintergrund sieht man die graue Gipfelketter der Leoganger Steinberge.
Wer am Kammerlinghorn unterwegs ist, hat die Leoganger Steinberge immer an seiner Seite. Foto: Axel Klemmer
Touren im Bergsteigerdorf Weißbach

Im grünen Bereich

Zum Durchfahren viel zu schade: Das Bergsteigerdorf Weißbach im salzburgischen Pinzgau bietet Zugang zum wunderbaren Tourengebiet auf der Südseite der Berchtesgadener Alpen – und enge Verbindungen zu den bayerischen Nachbarn in Ramsau.

Er ist einer dieser Berge, die man unterschätzt – weil er einfach nicht aufhört. Der breite Weg, auf dem noch die elektrifizierten Mountainbikes heraufschnurrten, endet. Dahinter führt ein schmaler Weg zuerst über die Wiese – über eine wirklich sehr große Wiese –, danach durch Krummholz, und endlich sieht man vor sich den Gipfel. Und ist immer noch nicht oben. An einer Abzweigung gilt es sich zu entscheiden: Steigt man anspruchsvoll in leichter Kletterei über den Ostgrat oder - etwas zermürbend, aber einfacher - im Bogen links unter dem Grat herum mit einigem Höhenverlust und zuletzt durch die Latschen steil hinauf zum Gipfel?

So oder so, es lohnt sich. Der Hochkranz (1953 m) steht mittendrin im Naturpark Weißbach, 1300 Meter über dem Tal der Saalach und über den Dächern von Weißbach. Die kleinste Gemeinde im Pinzgau, dem Bezirk Zell am See im Bundesland Salzburg, ist vor allem bei sportlichen Tagestourist*innen beliebt, die sich auf vier kürzeren Klettersteigen und mehreren Klettergärten mit zusammen rund 800 Routen vergnügen. Den meisten Besuch erhält die Seisenbergklamm mit ihrer spektakulären Weganlage, größte Attraktionen – im wahren Wortsinn – sind jedoch die Weißbacher Hausberge. Fast 2000 Meter hoch ragen sie über dem Ort auf: die Leoganger Steinberge mit dem Birnhorn (2634 m), die Gipfel der Berchtesgadener Alpen mit dem Großen Hundstod (2593 m), dem Kammerlinghorn (2484 m) und der Hocheisspitze (2521 m).

Dass der Hochkranz so ein idealer Aussichtsberg ist, liegt also auch daran, dass er die 2000er Marke knapp verfehlt. Die Gipfelkulisse rundum erscheint so noch mächtiger. Nicht ganz so ideal ist freilich der Umstand, dass man den Berg nicht überschreiten kann, sondern auf demselben langen, wenngleich schönen Weg zurück zur Kallbrunnalm absteigen muss. Sie ist die größte der drei Weißbacher Gemeinschaftsalmen: ein gewaltiger, nach Osten ziehender Wiesenrücken mit Kuppen und Mulden, durchzogen von waagrechten Viehtritten, Zeichen von über sechs Jahrhunderten Bewirtschaftung. Über die Blockhütten mit ihren steinbeschwerten Holzschindeldächern fällt der Blick auf die graue Pyramide des Birnhorns. 16 Landwirt*innen aus Bayern und 14 aus dem Pinzgau bilden die interregionale Almgenossenschaft, die über dem Käsekeller jüngst auch eine Jausenstation samt Käseverkaufsraum und Naturpark-Informationsstelle errichtet hat.

Blickfang auf dem Seehorn: das imposante Horn des Großen Hundstod. Dazwischen liegt eine rissige Platte, die ein bisschen aussieht wie Gletschereis, aber verkarsteter Kalkfels ist.

Und dort beginnt eine weitere, größere Tour. Durch lichten Wald geht es zunächst zum kleinen Seehornsee. Beim Aufstieg über den freien, breiten Westrücken des Seehorns wird man sich viel umdrehen, denn im Rücken weitet sich das Panorama mit Loferer und Leoganger Steinbergen und der Kallbrunnalm zum großen grau grünen Landschaftskunstwerk. Auch ein Stück Technik gehört dazu: In der Tiefe erblickt man den schmalen Dießbachstausee mit seiner Stau mauer. Ist der Gipfel des Seehorns erreicht, fügen sich auch noch Hochkalter und Watzmann in die 360-Grad-Schau. Absoluter Blickfang auf dem Seehorn ist aber das imposante Horn des Großen Hundstod, genau gegenüber. Zwischen ihm und dem Seehorn liegt das versteckte Kleinod der Hochwies, zu der man nun absteigt – unmittelbar neben einer mächtigen, vielfach zerrissenen Platte, die ein bisschen aus sieht wie Gletschereis, tatsächlich aber verkarsteter Kalkfels ist. Ein traumhafter Pfad führt über die zauberhafte Grasebene, neben einem murmelnden Bachlauf, der irgendwann in einem Karstloch verschwindet.

Sprudelndes Wasser begleitet einen dann wieder auf dem steileren, steinigen Weg hinab zur Mitterkaseralm. Der Abzweig zum Ingolstädter Haus auf dem Steinernen Meer bleibt links liegen, wir folgen dem Fahrweg zum Dießbachstausee, den seit 1964 eine 730 Meter hohe, atemberaubend steile Druckrohrleitung mit dem Kraftwerk im Tal verbindet. Dort unten rauscht der Verkehr oft lauter als die Saalach. Doch die Pinzgauer Landesstraße B 311 ist ebenso Fluch wie Segen: Gäbe es sie nicht, würden in Weißbach sicher längst weniger als die aktuell 405 Menschen leben. Ein reiner Segen für wandernde und bergsteigende Menschen ist dagegen der Almerlebnisbus, den ÖBB-Postbus und Regionalverkehr Oberbayern (RVO) gemeinsam betreiben. Er fährt zwischen Ende Mai und Ende Oktober von Weißbach durch den Naturpark hinauf zur Grenze auf dem Hirschbichlpass (1183 m) und jenseits durch den bayerischen Nationalpark Berchtesgaden hinunter ins Klausbachtal zum Hintersee – wo man Anschluss an den Linienbus Richtung Ramsau und Berchtesgaden hat.

Schon zu Römerzeiten wurde der Pfad über den Hirschbichl genutzt, später baute man ihn zum Saumweg aus, und im 13. Jahrhundert konnten bereits Karren und Fuhrwerke darauf fahren. Heute ist die schmale Straße auf der Salzburger Seite ab dem Abzweig zur Kammerlingalm für den allgemeinen Verkehr gesperrt. Unmittelbar hinter der Passhöhe steht der Alpengasthof Hirschbichl, der vielen Generationen von der Familie Hohenwarter betrieben wird. Das ehemalige Zollhaus ist heute ebenfalls als Gästeunterkunft eingerichtet. Warum also nicht über Nacht bleiben? Nachmittags könnte man noch über die Litzlalm zum Litzlkogel (1625 m) aufsteigen und über die Latschen auf die geheimnisvolle Hochfläche des Gerhardsteins schauen, wo der Bergwald seit rund zehn Jahren verwildern darf. Bis ins frühe Mittelalter reicht die Nutzung der Bergwälder über der Saalach zurück. Das Holz wurde auf dem Fluss nach Reichenhall getriftet, wo es unter den Sudpfannen verbrannte. Zusammen mit der Saline wurden um 1500 auch die privaten Waldungen der Reichenhaller Sudherren bayerischer Staatsbesitz, und 1829 vereinbarten Österreich und Bayern die Salinenkonvention, die den bayerischen Waldbesitz auf österreichischem Gebiet bestätigte; heute wird sie als der älteste noch gültige Staatsvertrag Europas bezeichnet.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Hirschbichl zieht der Grenzkamm nach Osten hinauf zu Kammerlinghorn und Hocheisspitze, den Endpunkten im Hochkalterstock. Aufsteigen kann man entweder von der Salzburger Südseite oder von der bayerischen Nordseite. Empfohlen sei hier die zweite Variante. Hinter der Mittereisalm führt der Steig in den urigen Bergwald und steil hinauf auf den breiten Rücken und über ihn hinauf zum Kammerlinghorn. Es ginge auch noch weiter, doch der Verbindungsgrat zur Hintereisspitze wird eher in der umgekehrten Richtung begangen, weil dann die schwierigsten Stellen – immerhin III. Grad – im Aufstieg bewältigt werden können. So oder so handelt es sich um alpines Gelände, von dem Unerfahrene ihre Füße und Finger lassen sollten. Stattdessen gehen sie wieder auf dem Aufstiegsweg hinab, bis links, südlich, ein steiler Pfad durch den Bergwald zu den Wiesen der Kammerlingalm führt. Sie liegt touristisch ein wenig im Schatten der Kallbrunnalm, bietet am Feichtenkaser aber ebenfalls einen sehr netten Almausschank.

Hinter dem Hirschbichl erschließt der Almerlebnisbus das grandiose Nationalpark-Tourenrevier der bayerischen Nachbarn. Ein Beispiel? Bitte: Ankunft an der Haltestelle Engert Holzstube um 8.40 Uhr. Hier beginnt der Schaflsteig hinauf zur Reiteralm. 900 steile (!) Höhenmeter weiter oben leitet eine ungemein faszinierende Querung unter dem Stadelhorn zum Klettersteig auf die Mayrbergscharte. Nach der Überschreitung (oder Umgehung) des Wagendrischlhorns folgt man dann zunächst noch ein Stück weit dem aussichtsreichen Kamm über der Reiteralm, um schließlich über den ebenfalls rustikalen Böslsteig rechts hinab Richtung Hintersee abzusteigen.

Es ist eine fantastische Tour, die einige Bergerfahrung und sehr gute Kondition erfordert. Der letzte Bus zurück Richtung Weißbach fährt von der Haltestelle Hirschbichlstraße im Klausbachtal um 17.35 Uhr ab. Man hat also neun Stunden Zeit. Das ist gut zu schaffen, trödeln oder schwächeln darf man aber nicht – und es gibt unterwegs keine Einkehr. Traut man sich die große Tour nicht zu (oder dem Wetter nicht über den Weg), bleibt man eben im Tal und wandert auf schönen Wanderwegen neben der Straße von Weißbach zum Hintersee oder noch weiter nach Ramsau, von Bergsteigerdorf zu Bergsteigerdorf. Und vielleicht nimmt man ja drüben in Bayern zum dritten Mal Quartier. Eine Tour auf den Hochkalter würde dem Besuch bei den Bergsteigerdorf-Nachbarn die Krone aufsetzen...