Eines der erfolgreichsten Programme des DAV der jüngeren Zeit begann, wie sich das bei einer runden Erfolgsgeschichte gehört, mit einem anständigen Gründungsmythos. Das anno 2000 aus der Taufe gehobene, jeweils über drei Jahre laufende Kaderprogramm für die besten deutschen Nachwuchsbergsteiger stand für Frauen zwar selbstverständlich offen, doch nur die wenigsten wagten sich da heran.
Gründungsmythen des Frauen-Expedkaders
Gründungsmythos erster Teil: "Eine kam durch!" Nämlich Dörte Pietron aus Heidelberg, sie war 2003-2005 mit von der Partie. Weitere Bewerberinnen wurden vom Prüfungsteam schweren Herzens, doch sämtlich abgelehnt: Die männlichen Kollegen waren einfach besser.
Gründungsmythos zweiter Teil: "Die furchtlosen Drei". Zum 2010 beginnenden Kader bewarben sich erstmals mehrere Frauen – Christina "Chrissy" Huber aus Garmisch-Partenkirchen, Yvonne "Yvo" Koch aus München, und Caroline "Caro" North aus Darmstadt. "Ich hab die anderen beiden ja vorher nicht gekannt", erinnert sich Caro, "daher war der erste Gedanke: großartig, zwei potenzielle Seilpartnerinnen! Konkurrenz war deswegen weniger das Thema." Am Ende kamen auch sie an den Männern nicht vorbei, wobei freilich erwähnt gehört, dass sich damals eine besonders leistungsstarke Schar beworben hatte. Diese drei jungen Frauen zeigten aber so viel Potenzial und Motivation, dass es die Verantwortlichen nicht nur mehr als üblich schmerzte, sie nicht mitnehmen zu können, sondern sie der Logik grünes Licht gaben: Galten nicht in sämtlichen anderen Sportarten getrennte Wertungen für Männer und Frauen – Leichtathletik, Kampfsport, Mannschaftssport? Und im Wettkampfklettern schließlich auch?
Ein eigenes Frauenteam
Der Vorschlag eines Expedkader-Frauenteams, parallel zum Männerkader, lag schon länger in den Ideen-Archiven – nun wurde er endlich Wirklichkeit. Die Idealbesetzung als Trainerin war Dörte "Eine kam durch" Pietron, hatte sie doch mittlerweile die Weihen zur Staatlich geprüften Berg- und Skiführerin erhalten. Sie lebte allerdings die Hälfte des Jahres auf der anderen Seite des Planeten, nämlich in Patagonien. Schließlich erreichten die DAV-Verantwortlichen eine völlig verdutzte Dörte am Telefon und konnten sie überzeugen; sie leitet den Frauenkader bis heute. Kurz vor dem Sichtungscamp der Frauen im Sommer 2011 gab es eine Episode, die vor dem großen Erfolg des Frauenkaders leicht vergessen wird, aber es unbedingt verdient, dass man hier noch einmal an sie erinnert: die JDAV-Frauenfahrt nach Albanien, auf der eine 800-Meter-Neutour in einem kaum erkundeten Land gelang – abgesehen von der geringen Meereshöhe also durchaus expeditionsähnliche Rahmenbedingungen. Caro North war mit von der Partie und fuhr anschließend aufs von Dörte geleitete Sichtungscamp für den ersten Frauenkader, wo sie erneut auf Chrissy Huber und Yvo Koch traf. Erwartungsgemäß schafften diese drei den Sprung in die Auswahl der besten sechs, gemeinsam mit Charlotte Gild (Würzburg), Mirjam Limmer (Ingolstadt) und Ursula Volz, ehemalige Wolfgruber (Bad Reichenhall).
Der erste "Expedkader Frauen" endete überaus erfolgreich mit mehreren Erstbegehungen im indischen Satling Valley. Und vor allem "die furchtlosen Drei", die sich auf der Sichtung 2010 kennengelernt hatten, wechselten anschließend auf die Überholspur: Yvo und Caro durchstiegen die Eiger-Nordwand im Winter auf der klassischen Heckmair-Route, Caro und Chrissy gelang der Cerro Torre als zweiter Frauenseilschaft. Wobei Dörte wertvolle Tipps geben konnte, denn sie hatte die erste Frauenbegehung jener Route ja selbst unternommen. Eines fiel bei der Recherche zu diesem Beitrag auf: wie sehr alle den Aspekt unterstreichen, dass sie in einem rein weiblichen Umfeld mehr Selbstvertrauen entwickelt haben. Keine Schuldzuweisung an die Männer, eher achselzuckend: "Hmhh, war einfach so."
Die Berchtesgadenerin Nina Schlesener, die sich einst erfolglos für den Kader bewarb und dann direkt zur Bergführerin durchstartete, steht entsprechend länger im Beruf und kennt ein ähnliches Phänomen auch bei ihren Gästen: "Wenn mir ein weiblicher Gast am Telefon sagt, sie geht so und so schwer, stellt sich oft raus: Die kann viel mehr. Frauen stellen ihr Licht oft untern Scheffel; frag mich nicht warum, aber es ist immer wieder so. Darum führe ich so gern Frauen – denen musst du nur ein klein wenig Mut zusprechen, dann trauen die sich, haben riesige Erfolgserlebnisse und sind glücklich. Wenn ein männlicher Gast am Telefon sagt, er geht so und so schwer, dann ziehe ich gleich ein paar Prozent ab. Ist einfach ein Erfahrungswert." Ganz allgemein beschreiben die Teilnehmerinnen von damals die Zeit im Kader übereinstimmend als einen Abschnitt, der ihr Leben verändert hat. Mirjam Limmer: "Es gab mir in dem Sinne keine neue Richtung, aber eine tiefe Bestätigung und Bestärkung darin, dass sich mein Leben um den Bergsport drehen soll." Bei fünf von sechs hat das den Beruf mit eingeschlossen: Sie haben die Bergführerausbildung absolviert. Beim Kader der Männer ist das ähnlich, auch hier nimmt ein Großteil der Teilnehmer mit einem frischen Motivationsschub den Abzweig zum Bergführer.
Qualifiziert als Bergführerin?
Aus dem Arbeitsalltag als Bergführerin – früher oder später das Brot der meisten Teilnehmerinnen des Frauenkaders – erzählen sie von nach wie vor unangenehmen Momenten, in denen Männer sie für die Bedienung halten oder ihre Qualifikation bezweifeln. Andererseits muss es auch nicht gleich als diskriminierend gelten, wenn Hüttenwirte vorm Aufbruch einer Frauenseilschaft vielleicht zweimal nachfragen, ob sie sich die Tour auch wirklich zutrauen: Es haben sich halt noch nicht alle daran gewöhnt, mit wie viel mehr Selbstvertrauen und Kompetenz Frauen am Berg heute unterwegs sind. Und auf dem Arbeitsmarkt haben Bergführerinnen es heute im Großen und Ganzen sogar eher leichter als Männer. Dass sich Frauen in einem weiblichen Umfeld leichter tun, darf weder als weibliche Schwäche gelten noch als schuldhaftes Verhalten der Männer. Und dass es für sie einen eigenen Kader gibt, keinesfalls als gönnerhafte Förderung, um irgendein "weibliches Handicap" auszugleichen. Sondern: Die separate Nachwuchsförderung für Frauen wie Männer ist heute eine Selbstverständlichkeit, über die es nichts mehr zu diskutieren gibt. Zudem hat der DAV mit dem Kader eine Plattform geschaffen, die jungen ambitionierten Bergsteigerinnen die Türen zum Bergführerberuf deutlich weiter geöffnet hat, als das vorher der Fall war. Keine schlechte Bilanz für ein Programm, das noch nicht einmal zehn Jahre lang läuft.
Was machen sie heute, die sechs aus der "Klasse von 2011"?
Chrissy Huber verdient als Einzige ihr Geld in einem "Zivilberuf", nämlich als Steuerberaterin. Auch sie kletterte den Eiger im Winter – zusammen mit Caro, die damit diese legendäre Wand zweimal im Winter gemacht hat. Chrissy war im heimischen Garmisch-Partenkirchen die erste Frau in der Bergwacht. "Mein Vater hat in jungen Jahren mal getönt, ‚wenn hier in der Bergwacht Frauen sind, trete ich aus‘. Insofern war irgendwie klar, dass ich da hinmusste", lacht sie, "am Ende war er dann total stolz auf mich. Im Grunde ist das aber schon ein Beispiel für die Widerstände, die Frauen zu bewältigen hatten: Viele lassen sich von so was ja abschrecken." Als Einzige der Klasse von 2011 hat sie die Bergführerausbildung nicht gemacht, was aber keine endgültige Entscheidung ist: "Kann gut sein, dass ich das noch nachhole."
Yvonne Koch lebt als Profibergführerin mit ihrem Lebensgefährten – ebenfalls Bergführer – in Strengen, Tirol, und geht auch mal auf Expeditionen. Vor dem Kader hatte die Münchnerin eine klassische Sektions-Sozialisation erfahren: Kindergruppe, Jugendgruppe, Jungmannschaft, und sie leitete auch selbst eine Gruppe.
Charlotte Gild, die zwar aus einer bergaffinen Familie stammt, aber mit dem Klettern erst im Studium in Innsbruck anfing, hat als Bergführerin einzelne Maßnahmen des Frauenkaders mit betreut, aber aktuell zum Führen wenig Zeit. Sie lebt weiterhin in Innsbruck, ist seit 2018 Mutter und schreibt "nebenher" ihre Doktorarbeit.
Caro North beendete ihr Studium der Umwelttechnik an der Uni Lausanne, begann die Bergführerausbildung in der Schweiz und steuert auf einen Status als Profibergsteigerin zu: Sie ist beinahe permanent auf Expedition. Wenn sie nicht im Himalaya, in Patagonien, Kanada oder auf Bergführerkurs war, tourte sie durch die Alpen und schlief häufiger im Bus als in ihrem Zuhause am Genfer See. Ihre Sponsoren zahlen die Expeditionen und einen Teil des Lebensunterhalts, den Rest verdient sie dazu: "Ich musste für die Bergführerprüfungen hier in der Schweiz erst mal extrem viel Skifahren trainieren und hab bei der Gelegenheit die Prüfung als Schweizer Kinderskilehrerin gemacht, das war ein Job, der ziemlich viel Spaß gemacht hat. Aber jetzt kann ich endlich führen!"
Mirjam Limmer hat es ins Rheinland verschlagen, wo sie als Bergführerin den Fachbereich Bergsport der Deutschen Sporthochschule Köln leitet: "Ich würde gern mehr in der Forschung arbeiten, bin aber so sehr in Lehre und Ausbildung eingebunden, dass dafür wenig Zeit bleibt. Kann mich aber auch nicht beklagen, denn ich bin so viel unter freiem Himmel wie nur wenige Kollegen hier."
Ursula Volz – damals noch: Wolfgruber (ihr Bruder Sebastian war im Kader 2003- 05) – lebt in Anger bei Bad Reichenhall und arbeitet in einer Vollzeitstelle als Lehrerin. Für sie war die Bergführerausbildung langwierig, da die Kurse selten in die Schulferien passten. Sie führt, so viel es an Wochenenden und in den Ferien geht, "aber permanent stressen deswegen will ich mich jetzt auch nicht".
Dörte Pietron stieg ins DAV-Lehrteam Bergsteigen ein und leitet den Kader im zehnten Jahr, aktuell jedoch nicht mehr von Patagonien aus – sie lebt seit 2018 im Allgäu. Ihr Lebensgefährte Daniel Gebel ist ebenfalls Bergführer und war zeitweilig Co-Trainer des Herrenkaders.