Kurz vor dem Gipfel haben Motivation und Ausdauer ihren Tiefpunkt erreicht. "Ich kann nicht mehr", ruft jemand von hinten. "Und ich mag auch nicht mehr." Eltern, die mit ihren Kindern unterwegs sind, kennen solche Szenen zur Genüge. Ich weiß, wovon ich schreibe. Bei so mancher Bergtour habe ich meiner Mutter allerlei Motivationskunst abverlangt. Doch das liegt mittlerweile mehr als dreißig Jahre zurück. Diesmal bin nicht ich es, die keine Lust mehr hat, weiterzugehen. Beim Aufstieg hinauf zum Gipfel der Zugspitze ist es meine Mutter, die ihren Unmut kundtut. 65 Jahre ist sie alt, war früher recht passabel in Fels und auf Ski unterwegs, Letzteres auch auf Hochtour, doch das Alter und schwere Erkrankungen haben sie an Kraft und Ausdauer einbüßen lassen. Dabei war ihre Motivation am Vortag groß. Drei Stunden habe sie damals, als sie für die Besteigung des Kilimanjaro trainierte, über die Wiener Neustädter Hütte auf die Zugspitze gebraucht. Alles kein Problem. Ein schöner Aufstieg. Mühelos zu schaffen. Dass seitdem dreißig Jahre vergangen sind, daran dachte sie nicht. Und schon gar nicht daran, dass selbst der kürzeste Anstieg auf Deutschlands höchsten Gipfel alles andere als ein Spaziergang ist, garniert mit einem zwar kurzen und wenig anspruchsvollen, dennoch kraftzehrenden Klettersteig. Es kommt deshalb, wie es kommen musste: Kurz vor Deutschlands höchstem Punkt erreichen Motivation und Ausdauer ihren Tiefpunkt.
Es ist ein vielversprechender Morgen, als ich gemeinsam mit Mann, Bruder und Mutter an der Talstation der Tiroler Zugspitzbahn losmarschiere. Im Talkessel liegen verschlafen Ehrwald, Biberwier und Lermoos im Zugspitz-Schatten; Grubigstein und Gartnerwand bekommen die ersten Sonnenstrahlen des Tages ab. Auf einem Schild lesen wir, dass bis zum Gipfel der Zugspitze mit sechs Stunden Gehzeit zu rechnen ist.
"Wenn das so weitergeht, dann sind wir tatsächlich in drei Stunden oben", denke ich. Schnellen Schrittes führt uns der Weg auf einer grünen Schneise, die im Winter einstmals eine Skipiste war, den Berg hinauf. Im Stillen frage ich mich nicht nur, ob wir dieses Tempo bis zum Gipfel durchhalten. Ich frage mich auch, ob ich werde mithalten können, wenn es das steile Gamskar hinaufgeht. "Meint ihr nicht, wir sollten einen Gang zurückschalten?", melde ich angesichts der Schweißperlen, die von meiner Stirn tropfen, Zweifel an. Mutter protestiert. Wir anderen gehen trotzdem langsamer. Auch sie verlangsamt ihr Tempo. Jetzt macht auch die Unterhaltung wieder Spaß. Es ist ein angenehmer Aufstieg.
"Mit sechzig ist man ein Auslaufmodell"
Mit dem Alter lässt die körperliche Leistungsfähigkeit nach. "Der Alterungsprozess setzt nach dem Ende der Pubertät ein. Mit dem zwanzigsten Lebensjahr nimmt beispielsweise die Lungenfunktion ab, was man aus Kurven ablesen kann, die die Funktionsfähigkeit der Lunge aufzeichnen. Die biologische Funktion ist erfüllt, wenn der Mensch vierzig Jahre alt ist. Mit sechzig ist man ein Auslaufmodell. Und wer hundert wird, der hat ganz klar von der verbesserten Hygiene profitiert", sagt Oswald Oelz, 77 Jahre alt, Höhenmediziner aus der Schweiz und einstmals Expeditionsarzt bei Messners legendärer Everest-Expedition 1978. Der Körper könne den Alterungsprozess lange Zeit kompensieren, erklärt Oelz. "Bis man 40 oder 50 Jahre alt ist, spielt das keine Rolle. Erst ab 60 geht es steiler bergab. Und zwischen 60 und 70 gibt es sogar richtige Einbrüche bei der Leistungsfähigkeit", sagt der Mediziner.
Tipps für Touren mit älteren Bergsteiger*innen
Unabhängig vom Alter tut Bergsteigen Körper und Seele gut – ein Zwanzigjähriger kann dafür "zu alt", eine Seniorin topfit sein.
Der Leistungsabfall im Alter ist normal. Die eigene Leistungsfähigkeit deshalb realistisch einschätzen und die Tour entsprechend auswählen.
Kreislaufprobleme nicht unterschätzen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehören bei älteren Bergsteigenden zu den häufigsten Todesursachen am Berg.
Die Balance halten. Ein probates Mittel gegen nachlassende Gelenkigkeit sind Wanderstöcke. Sie schonen auch die Knie beim Abstieg.
Auf einem Stein finden wir in roter Schrift die Markierung "W.N.", Wiener Neustädter, das ist unsere Richtung. Während wir erst durch Latschen, später durch das nach oben immer steiler werdende Schotterkar aufsteigen, erzählt uns unsere Mutter von der "Stütze 4" und der legendären Skiabfahrt durch das Gamskar, die seit dem Brand und dem Neubau der Tiroler Zugspitzbahn eine geniale Skitour ist. Wir erfreuen uns später am Blick hinunter zum Eibsee und sind zufrieden, dass wir hinauf zur Wiener Neustädter Hütte gerade einmal zwei Stunden unterwegs waren. Die Sonnenterrasse der Hütte liegt an diesem Morgen noch im Schatten der mächtigen Felswände der Zugspitze. Wir machen trotzdem eine kurze Pause, streifen die Jacken über, kramen die Trinkflaschen aus dem Rucksack: "Mama, magst was trinken?" – "Nein, danke", antwortet sie und nimmt dann doch einen Schluck, als ihr die Flasche gereicht wird.
Die Wiener Neustädter Hütte mit dem grünen Blechdach und den roten Fensterläden ist für viele ein beliebter Zwischenstopp. Die Hütte liegt in 2213 Meter Höhe, etwa auf halbem Weg zum Gipfel. Nachdem 1879 der Weg durch das österreichische Schneekar gesichert worden war, wurde 1884 die Hütte errichtet. Heute wird sie durch die Tiroler Zugspitzbahn versorgt. Wenn der Hüttenwirt Nachschub braucht, dann legt die Seilbahn bei ihrer Fahrt in der Nähe der Hütte einen Zwischenstopp ein. Der Seilbahnschaffner öffnet die Schiebetür der Kabine und an einem Seil lässt er die bestellte Lieferung dreißig Meter hinunter. Wie ein Rennpferd drängt uns unsere Mutter zum Aufbruch. Weiter soll es gehen, möglichst schnell.
Nach einer weiteren Viertelstunde erreichen wir den Einstieg in den Stopselzieher-Klettersteig. Dort setzen wir den Helm auf, auf das Klettersteig-Set verzichten wir. Das Kraxelabenteuer kann beginnen. Über eine plattige Rampe, in die massive Trittbügel eingelassen wurden, erreichen wir einen Naturstollen. Wir klettern durch den niedrigen Stollenausgang. Es dauert nicht lange, dann geht es abermals über Trittbügel weiter hinauf. Der abgeschmierte Fels zeigt uns, dass hier schon sehr viele Bergenthusiast*innen aufgestiegen sein müssen. Der Anstieg, der sich wie ein Korkenzieher den Berg hinaufwindet – daher auch der Name –, ist sicher nicht mit dem spektakulärsten Aufstieg auf die Zugspitze durch das Höllental zu vergleichen, doch er ist eine gute und durchaus fordernde Alternative. Dort, wo der Klettersteig zu Ende ist und wir auf die Reste des letzten größeren Schneefalls treffen, ist bei unserer Mutter die Luft raus. Der anstrengende Aufstieg, mal die eine Hand am kalten Felsen, mal die andere am Stahlseil, hat seinen Tribut gefordert. Die Geschwindigkeit verlangsamt sich merklich. Von den großen Tönen des Vortags ist nichts mehr zu hören. Der Enthusiasmus und die kaum zu bremsende Euphorie der ersten halben Stunde sind verflogen. "Ich kann nicht mehr", ruft sie von hinten. Ich gehe voraus, und versuche, durch kleine Schritte und den Hinweis auf gute Tritte den Aufstieg im Schrofengelände zu erleichtern.
Erschöpfung ist oft ein Grund, weshalb die Bergrettung teilweise noch spät in der Nacht Richtung Zugspitzgipfel ausrücken muss. Haben wir das Alter unterschätzt und unsere Mutter in Gefahr gebracht? Wegen der im Alter abnehmenden Kraft und schlechteren Koordination besteht die Gefahr von Abstürzen selbst auf technisch einfacheren Wegen. Und Probleme mit dem Herz-Kreislauf-System – respektive Herzinfarkt oder Hirnschlag – gehören zu den Haupttodesursachen älterer Bergsportler*innen. Laut dem Österreichischen Kuratorium für Alpine Sicherheit zählt beim Wandern und Bergsteigen die Herz-Kreislauf-Störung zu den häufigsten Todesursachen. Jeder dritte tödliche Alpinunfall ist darauf zurückzuführen. Fast drei Viertel derjenigen, die am Berg den Herztod sterben, sind aus der Altersgruppe der über 60-Jährigen.
Motivation ist alles
Doch diese Gedanken werden bald weggewischt. "Ich kann nicht nur nicht mehr. Ich mag auch nicht mehr", hören wir es hinter uns murren. Der plötzliche Leistungseinbruch hat also keine körperliche Ursache. Er ist vor allem dem Kopf geschuldet. Dieses Wissen beruhigt uns zumindest ein Stück weit, löst das Problem aber nicht. Auch die letzten zweihundert Höhenmeter müssen wir noch aufsteigen. Gerade beim Bergsteigen spielt die Motivation eine wichtige Rolle. Was alles möglich ist, wenn der Wille da ist, hat Marcel Remy, der Vater der Schweizer Kletterikonen Claude und Yves bewiesen. Mit 94 Jahren stieg er mit seinen Söhnen durch die 450 Meter hohe Kalkplatte des Miroir de l’Argentine. Zu viel mentale Stärke kann aber auch und gerade im Alter zur Gefahr werden. Im Oktober 2018 musste im Montafon ein Rettungshubschrauber zwei Mal zu einem 88 Jahre alten Wanderer fliegen, der sich trotz erkennbarer gesundheitlicher Probleme zunächst nicht vom Berg ins Tal bringen lassen wollte. Doch was tun, wenn mitten in einer anspruchsvollen Tour die Motivation nachlässt? Kindern erzählt man Geschichten über lustige Zwerge und sagenhafte Trolle. Bei Erwachsenen funktioniert diese Strategie nicht. Wir Kinder sind überfordert mit dieser Frage. Wir bleiben in Rufweite, überlassen unsere Mutter aber ihrem Schwiegersohn, von dem wir annehmen, dass er als Bergführer mit solchen Situationen umgehen kann. Ob es dessen Engelsgeduld ist oder die Aussicht auf das Gipfelbier im Münchner Haus, der Aufstieg auf die Zugspitze findet jedenfalls ein glückliches Ende. Alle erreichen den Gipfel. Und auch wenn die Zeit bekanntlich keine Rolle spielt, bleiben wir beachtliche anderthalb Stunden unter der im Tal angegebenen Zeit. Für unsere Mutter ein Motivationsschub für die nächste Tour