Wenn Ash nur dürfte, wie er will. Dann würde er sicher zu den Murmeltieren hinübersprinten, die auf der anderen Seite der Wiese auf der Alpe Toggia pfeifen. Oder er würde der Fährte des Steinbocks folgen, der sich ganz oben in den Gipfelfelsen des Poncione di Braga zu einem Nickerchen hingelegt hat. So aber muss sich der Border-Collie-Mischling an der Bocchetta di Val Maggia darauf beschränken, seine Wanderbegleitung um ihre Pausenbrote anzubetteln. Ash ist mit seinem Herrchen Matteo Zanoli unterwegs auf dem „Trekking dei laghetti alpini“ im hintersten Maggia-Tal.
Zanoli ist so etwas wie der oberste Wegewart der Region Locarno und er hat diese Streckenführung 2019 mitentwickelt: über 60 Kilometer auf und ab in alpinem und weltabgeschiedenem Ambiente. Los gehtʼs in Fusio (1289 m): Alte, beige und bunt verputzte Steinhäuser scharen sich pittoresk um den markanten Glockenturm. Gerade mal ein paar Dutzend Menschen wohnen hier noch. Ein steiles Sträßchen führt in die Einsamkeit der oberen Vallemaggia und bald in den Lärchenwald. „Die Bäume und ihr Schatten machen das Wandern in den heißen Sommern im Tessin erträglich“, sagt der Wanderführer Pierre Crivelli. Ohne große Umschweife steigt der Weg zur Alpe di Röd an, wo das Ödland beginnt. Noch sind es vor allem Schafherden, die über den neu geschaffenen Pfad laufen. Zwei Jäger kommen der Gruppe entgegen. Stolz berichten sie, gerade einen Hirschen erlegt zu haben. Das bleibt vorerst die einzige Begegnung.
Tiefe Täler, lange Anstiege
Tief sind die Täler im schweizerischen Südkanton Ticino, entsprechend lang die Anstiege. Das tun sich nicht allzu viele an. Schon der erste Pass, die Bocchetta di Pisone (2478 m), will erkämpft sein. Rund 1200 Höhenmeter sind es von Fusio bis zum Übergang vom Val Lavizzara ins einsame Peccia-Tal. Dass die Scharte lange Zeit nicht mehr benutzt wurde, zeigt sich beim Abstieg: Beim Wegebau wurden zwar hilfreiche Stufen in die Steilwiesen gehackt. Ein Fehltritt aber ist in der Flanke nicht angesagt, denn der hätte fatale Folgen. Bei Nässe oder gar Schnee ist diese Passage zum Tourauftakt wohl die heikelste. Zumal zum konditionell fordernden Tagwerk noch ein 1000-Meter-Downhill und ein Gegenanstieg hinauf zur Capanna Poncione di Braga (2001 m) gehören. Das Kuhglockengeläut von der Waldweide der Alpe Sròdan signalisiert dann aber: Bald ist die Hütte erreicht, puh! Auf der Eingangsschwelle hat sich schon Ivan Mattei aufgebaut. Der junge Wirt versorgt nicht nur die gelegentlich heraufkommenden Gäste: Mit seinen drei Schwestern kümmert er sich auch um 140 rostbraune Highland-Rinder. Die tragen zum lokalen Mahl aus der offenen Küche der Hirten-WG bei. Das Ragout auf der Pasta „stammt von den Tieren, die da draußen rumspazieren“, erläutert Mattei. Genau wie die Fleischstreifen zum nächsten Gang. Möhren und Salat kommen aus dem Bauerngarten der Familie im Tal, die Kräuter standen bis eben noch im Topf neben der Hüttentür. Frischer geht’s nicht! „Ein nachhaltiges Null-Kilometer-Menü also“, frohlockt der Guide Pierre Crivelli. Der lässt am nächsten Morgen schon im Frühtau starten.
Seen in allen Farben
Hinauf geht’s über Weiden, durch Alpenrosenfelder oder über glatte Felsplatten zum Froda-See (2363 m). Weiter oben verläuft der Weg über dem Taldunst, die Gipfel der Tessiner Alpen tauchen einer nach dem anderen im Panorama auf. Der Geologie-Fan Crivelli kommt in Fahrt: Brauner Fels und Quarzadern hier, gleich gegenüber ganz anderes Gestein. „Hier sehen wir uralte Sedimentschichten von den Meeresböden – und gleich daneben Gestein der Europäischen Erdplatte.“ Einige kleine Schneefelder später ist die Bocchetta della Froda (2691 m) erreicht. Und beim Abstieg nach Robiei wartet ein landschaftlicher Höhepunkt. Kleine Teiche, einzelne Pfützen und – natürlich – die Seen, die dem alpinen Trekking den Namen verpasst haben: Zahllose glitzernde Wasseraugen blinken im Licht, als der Pfad die Geröllflanken und Steilhänge hinunterführt. Von oben sehen alle Seen eigentlich grün aus. Doch die Namen sagen anderes. Der Lago Bianco zum Beispiel sei ein Stausee, sagt Pierre Crivelli. Das Gletscherwasser, das darin gesammelt wird, erscheine weiß – wegen der Mineralien. Und der Lago Nero wirke doch wirklich schwarz und dunkel, oder? Na ja … Eine holprige Querung noch zur Basòdino-Hütte (1855 m) hinüber, dann geht wieder ein vielstündiger Wandertag zu Ende. Das traditionelle Haus aus grobem, grauem Fels mag bei seinem Bau 1926 eine alpinistisch gute Lage gehabt haben: weit oben im Bavona-Tal und fern der Zivilisation. Heute schwebt die Schwerlast-Gondel der Maggia-Kraftwerke direkt über das Hüttendach. Werksseilbahnen, Strommasten und asphaltierte Wirtschaftsstraßen bilden ein Netz zwischen Staumauern, Turbinenhäusern und Ausgleichsbecken der Wasserwirtschaft in Robiei.
So freuen sich die Naturfans der Wandergruppe, als der Hütehund Ash sie zielstrebig ins Valletta di Fiorina treibt. Weit unter dem Basòdino-Gletscher schlängelt sich der Pfad nun empor. Das flache Eisfeld unter dem höchsten Gipfel hier (3272 m) hatte schon am Vortag die Blicke auf sich gezogen. Dort oben herrscht hochalpines Ambiente, etliche Berg-Etagen weiter unten wiegen sich Wollgrasfelder im Wind, als der Trupp mal wieder eines der zahllosen namenlosen Seelein passiert. 14 „alpine Seen“ werden auf der Route offiziell versprochen – mindestens! Allerorten blitzen Gumpen und Weiher in der Sonne, auch auf der anderen Seite der Bocchetta di Val Maggia (2633 m), als es beschwerlich durch Blockwerk zu den beiden wässrigen Augen der Laghi Boden hinabgeht. Und dann breitet sich auch schon die azurblaue, gekräuselte Fläche des Lago Toggia vor den Weitwander*innen aus – die übrigens nicht auf ständig gemütliche Trails hoffen sollten, sondern immer wieder auf alten Hirten-, Jäger- und Viehpfaden unterwegs sind. Am Fahnenmast vor dem Rifugio Maria Luisa (2160 m) knattern drei Flaggen im Wind: das Schweizer Kreuz, die blaue Europa-Fahne und die italienische Trikolore – hier im Val Formazza macht die Route einen Schlenker nach Italien. Zwar hatte man im Tessin die Idee für das „Trekking dei laghetti alpini“. Doch beim Hüttenwirt Giovanni Maceraudi rannten sie damit offene Türen ein. Der hisst die drei National-Wimpel nämlich schon seit Langem gemeinsam. Die Stippvisite nach Bella Italia erlaubt Dolce Vita beim Abendessen mit Pasta und Vino Rosso.
Eine Etappe mit Pfiff
Der Lago Toggia – wieder ein Stausee – prägt die nächste Etappe, weil der Weg zum Passo San Giacomo (2306 m) an seinem Ufer verläuft. Am Pass bei der kleinen weißen Kapelle endet die Italo-Eskapade, hier ist wieder Schweizer Boden erreicht. Von der gegenüberliegenden Talflanke des Val Bedretto grüßen die Gipfel der südlichen Urner Alpen herüber, derweil schlängelt sich der Weiterweg steil zum Passo Grandinagia (2694 m) hinauf, dem höchsten Punkt der Tour. Dieser Abschnitt ist zwar blau-weiß markiert, was für „schwerer Weg“ steht, präsentiert sich aber harmlos. „Bei Schnee sieht das ganz anders aus, dann wird es schnell heikel“, warnt der „Pfadfinder“ Zanoli. Die Crux der fünf Tage wartet beim folgenden Wegstück oberhalb des Lago dei Cavagnöö: Kurze Kletterei, ein steiles Hartschneefeld und heikle Schleicherei über kiesbestreute Felsplatten geben der Passage den rechten Pfiff. Kein Problem für den tierischen Begleiter: Ash hat sein Leben lang als Berg-Hund nichts anderes gemacht und huscht die Absätze hinauf, dass die Wandergruppe kaum folgen kann.
Nach der traumhaft schönen Passage oberhalb des Cavagnöö-Sees ist es noch mal ein ordentliches Stück bis zum Etappenziel, der Capanna Cristallina (2566 m). Kantig, praktisch, gut: 1999 wurde die schuhkartonartige Hütte eröffnet, nachdem eine Lawine den Vorgänger vom Pass gefegt hatte. Der Ausblick von der Panorama-Terrasse ist gigantisch am Abend. Von hinten wärmt das aufgeheizte Holz der Fassade. Von vorne strahlt das warme Orange des Dämmerlichts, wenn die Sonne hinter den Gletscherflächen am Basòdino untergeht. Eisig kalt ist es dagegen am nächsten Morgen, als Ash in der Frühe zum Aufbruch drängt. Die Hunde-Nacht unter der Veranda war wohl ungemütlich. Hinab ins Val Torta, unter düsteren Felsflanken entlang. Der Vollmond steht am stahlblauen Himmel. Wärmende Sonne verwöhnt die Trekkinggruppe erst am Passo del Narèt (2437 m), wo wieder das Maggia-Tal erreicht ist. Und abermals blinkt dahinter Wasser in der Tiefe: Azurblau erscheint der Lago del Narèt in der Draufsicht. Auch Ash scheint vom Schauspiel gefangen, als weiß schillernde Reflexe über die See-Oberfläche tanzen. Küchenschellen-Felder wiegen sich leicht im Wind. Irgendwann wird aber auch der Vierpfoter unruhig und bettelt bei Herrchen Matteo Zanoli: weiter jetzt! Er will seinen fünftägigen Kontrollgang auf dem Seen-Trekking beenden – und er weiß, dass die Schlussetappe nach Fusio sich zieht. So lässt sich Ash auch vom keck pfeifenden Murmeltier oberhalb der Alpe di Campo la Torba nicht beirren.