Der Jura liegt vor meiner Haustür. Mein Partner sagt als Alpinist, der Jura sei langweilig. Gut, dass die meisten von ihnen so denken, es bewahrt den Jura vor dem Trubel. Eher zufällig entdecke ich das Buch von Maurice Chappaz „Die Haute Route im Jura“ in der Unibibliothek. Vergilbt, zerfleddert. Zu einer weiteren Auflage nach 1985 kam es nie. Aber das Werk lässt sich mit etwas Glück im Antiquariat erstehen. Deshalb kostbar.
Es wird zu meinem winterlichen Wegbegleiter über die Höhenzüge des Jura. Als Poet der Berge ging Chappaz in die Literaturgeschichte ein. Auch als Revoluzzer. Besonders in Rage brachte den Walliser die Vereinnahmung der Berggebiete durch profitorientierte Hochtechnologie wie in Verbier, das vor seiner Haustür lag.
Historische Reise durch den Jura
Sein Pamphlet „Die Zuhälter des ewigen Schnees“, ein Aufschrei gegen die Zerstörung seiner Heimat, stieß auf Empörung im Filz von Politik und Korruption. Kein Wunder, dass ihm der nur wenig besiedelte Jura gefiel, ihn in den Bann zog: „Der wahre Jura, wie er ist ohne Sonne, herb und düster, unheimlich und verführerisch“. Chappaz liebte „diese Verschlossenheit, diese Unversöhnlichkeit der Felstäler, diesen Irrgarten von Mulden und Tälern“, diese nordische Horizontale, die so ganz im Kontrast steht zu der Vertikalen seiner Walliser Heimat.
Mit einer Gruppe machte sich der damals 60-jährige Schriftsteller im Februar 1976 auf, den Jura zu durchqueren. Auf Langlaufski über die Jurakämme von Basel nach Genf. Begleitet von Radio Suisse Romande und der Lausanner Tageszeitung „24 Heures“, die darüber berichteten. Und dennoch verkam die Route nicht zu einer der sogenannten Radiowanderungen, die in jener Zeit schweizweit Horden in die freie Natur lockten. Sie bleibt ein Abenteuer.
Damals hätte man wegen des Schnees noch ab Basel starten können, „die Stadt auf den Brettern durchqueren. Was für ein Hochgefühl, wenn die Natur die Städte zurückerobert [...]. Der Winter, der richtige Winter verwandelt alles! Weiße Manschetten an den Ästen der Bäume, während die Stämme vor Nässe immer schwärzer werden, die Geräusche entfernen sich, die Häuser ziehen sich die Kapuze über, die hässlichsten werden schön und alterslos, wie die Frauen im Paradies.“
Und heute? Der Schnee will seit Jahren nicht bis nach Basel kommen. In solchen Zeiten ist der Weissenstein ein guter Start. Schneesicherer. Immerhin liegen Gipfel und Hochplateau auf bald 1300 Metern. Ein großer Teil der Route lässt sich über Loipen begehen. Wegen der ungespurten Abschnitte dazwischen wollen wir uns mit Offtrack-, also Backcountry-Langlaufski aufmachen. Diese sind breiter, passen aber dennoch in die Loipenspur, und sie haben Kanten.
Auf zum Chasseral
Mit schwerem Rucksack eine Erleichterung. Das Wetter wie damals bei Chappaz: „Wind. Schneegestöber. Die Flocken schießen waagrecht auf uns zu und machen uns blind.“ Es passt zum Jura. Zu seinen rauen Höhen. So abgelegen und einsam, dass der Bischof von Basel den Wiedertäufern (auch Mennoniten oder Anabaptisten genannt, eine Gruppe, die sich im 16. Jahrhundert von den Reformisten separierte) die Jurahöhen als Zuflucht anbot und versprach, dort könne er den Religionsverfolgten Sicherheit garantieren.
Mitunter pustet die Bise, der kalte und trockene Nordostwind des Schweizer Mittellandes. Gottlob treibt er am dritten Tag die Wolken weg, entblößt den Chasseral. Im Winter ein Kunstwerk der Natur mit Eisskulpturen der sonderbarsten Formen. Dass hier gerne raue Temperaturen und scharfe Winde herrschen, erzählen auch die windschiefen Bäume, die nur in Richtung Lee ihre Äste entfalten, erzählen die Eiskristalle, die auf den Weidepfosten lustige Pfeile bilden.
Der Chasseral gebärde sich trotz seiner geringen Höhe von 1606 Metern wie ein Dreitausender, sagt der Wirt des Gipfelhotels. Tonnen von Schnee trennen uns vom kleinen Skigebiet von Savagnières. Nur das Schild am Col de Chasseral verrät, dass wir die Straße erreicht haben, tief vergraben unter unseren Füßen. Eine kaum sichtbare Unebenheit im Schnee zeigt ihren Verlauf in ein Tälchen. Die Abfahrt in die Mulde bleibt nicht ohne Purzelbäume.
Vereinzelt sieht man dick verschneite Höfe. Métairie nennt man sie hier im Chasseralgebiet, vom lateinischen „medietas“ (die Hälfte) abgeleitet, und so bezeichnet, weil die Pächter dieser Bauern- und Meierhöfe einst dem Grundbesitzer die Hälfte des Bodenertrags abliefern mussten. Die meisten haben heute auf Gastronomie umgestellt, urige Einkehrstationen, in manchen kann sogar übernachtet werden.
Die scheinbar längste Langlaufroute der Welt?
In Savagnières trifft man auf die ersten TJS-Schilder. Hier beginnt (oder endet) die Traversée du Jura Suisse. „163 km de rêve“ verspricht sie in großen Lettern. Und das ist kein Marketing-Bluff, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ein Traum.
Pierre, den wir in einer Beiz kennenlernen, kann es nicht fassen. Seine Kollegen aus Biel am Fuße des Jura fahren extra ins Wallis, um sich dort ein paar mickrige Kilometer im Kreis zu drehen, dabei könnten sie quasi direkt von der Haustür schier endlos gen Süden langlaufen. Der Jura fade, weil ihm die Viertausender fehlen? Ansichtssache. Nirgends lässt sich die Alpenkette besser bestaunen als von seinen Höhenzügen. Wann immer es die Zeit erlaubt, picken sich Pierre und seine Frau einen Part aus dem insgesamt rund 3000 Kilometer umfassenden Loipennetz des Jura heraus. Weltweit dürfte es eines der größten sein.
Als goldener Faden zieht sich die TJS hindurch, von Savagnières, dem kleinen Skigebiet südwestlich des Chasseral, bis nach La Cure südlich des Vallée du Joux. Am Tête de Ran, eine Etappe nach dem Chasseral, darf man sich entscheiden, entweder der TJS zu folgen, die hier auf die zweite Jurakette abzweigt, oder auf der ersten Jurakette zu bleiben, um weglos die Haute Route bis zum Creux du Van zu meistern.
Täuschend echt: der "Krater" Creux du Van
Eine abenteuerliche Etappe, die mit einem Naturdenkmal sondergleichen belohnt wird. Steht man an ihrem Rande, wirkt die Felsenarena des Creux du Van wie ein Vulkankrater. In Wirklichkeit handelt es sich um den Einbruchstrichter einer ungewöhnlich hohen Jurafalte. Der Bogen der Felswände, die senkrecht an die 200 Meter ins Val de Travers stürzen, misst fast vier Kilometer. Ein leichtes Spiel, hier droben Steinböcke oder Gämsen zu beobachten. Bereits 1882 wurde das geologisch und botanisch wertvolle Gebiet zum ersten privaten Naturschutzgebiet der Schweiz erklärt und schließlich 1960 unter kantonalen Schutz genommen.
Wir schauen Richtung Südosten und entdecken unter der Mont-Blanc-Kulisse ganz in der Nähe die Cabane Perrenoud. Nur an Wochenenden bewartet, kann man sich für werktags aber den Code des Schlüsseldepots geben lassen. Sowohl Ausstattung wie Lage sind sensationell. Allein schon die Wasseranlage, die das Zisternenwasser mittels UV-Behandlung in Trinkwasser verwandelt hat, sobald ein grünes Licht aufleuchtet. Wo Quellen fehlen, braucht es innovative Lösungen. Das zeigt auch die Schwerkraftheizung, mit der die Wärme vom Küchenofen in die obere Schlafetage gelangt.
Rast bei La Rondenoire
Das Drei- Seen-Land zu Füßen versinkt langsam im Schatten, rot glühen die Alpen vom Säntis bis zum Mont Blanc. Auch kein Erwachen könnte schöner sein als mit diesem Ausblick. Direkt an der Hütte zieht die sehr stille Loipe vorbei. Erst in die Nähe der Ferme von La Rondenoire treffen wir auf andere, die zum Bauernhof streben. Camille, die quirlige Wirtin, hat schon Dutzende von Kuchen gebacken, schiebt ununterbrochen Croûtes au fromage in den Ofen, brät knusprige Rösti. An einem sonnigen Samstagmittag lässt sich nur schwer ein Platz finden.
Abgesehen von wenigen Knotenpunkten treffen wir kaum auf Menschen. Mit uns nur das Knirschen des Schnees, das Säuseln des Windes in den Bäumen. Immer wieder Tierspuren, einmal können wir auch einen Luchs erspähen. Keine Landschaft in der Schweiz lässt sich mit der des Juras vergleichen. Eine grenzenlose Weite vermittelt diese parkähnliche Prärie, wo auf offenen Weiden mächtige Fichten staunen lassen. „Wie Pagoden“ ragen sie in den Himmel, Maurice Chappaz könnte es nicht besser ausdrücken. Aber auch mein Partner wird philosophisch: Sind die Alpen zackig und hart wie ein Mann, schmiegt sich jenseits davon der Jura in weichen, harmonischen Formen, doch launisch ist das Wetter wie eine Frau...