Eben noch war sie sieben Monate im Jahr auf Reisen, unterwegs auf allen Kontinenten und in den Bergen der Welt, sie bestieg hohe Gipfel im Sommer wie im Winter. Sie genoss das Leben einer Abenteurerin in grenzenloser Freiheit. Astrid Därr war seit ihrer Kindheit in der Welt zuhause – und 42 Jahre alt, als ihr Lebensentwurf plötzlich in Frage gestellt wird: von der Geburt ihres Sohnes Nelion und von einer Pandemie. Noch immer sieht sie sich „irgendwie als Abenteurerin“, wie sie sagt, und das Irgendwie ist dabei mehr als nebensächlich.
Als alleinerziehende Mutter hat das Leben ihr zwar die eine oder andere zusätzliche Herausforderung verpasst, vom Reisen an sich hätte sie das aber nicht abgehalten. Doch so eine Pandemie mit ihren wiederholten Lockdowns kommt einer persönlichen Katastrophe recht nah. Abenteuerhungrige wie Astrid mögen viele heikle Situationen meistern, Situationen, die anderen Menschen Beklemmung, Angst und Probleme bereiten oder sie schlicht vor Rätsel stellen.
Doch abgeschnitten von der Welt zu sein, zurückgeworfen auf ein Leben, das für die allermeisten Menschen Alltag bedeutet – das ist für sie schwer zu ertragen. Davon abgesehen stellten sich durch Corona ganz existenzielle Fragen: Wie sollte es weitergehen mit dem Job als Reiseleiterin und Bergwanderführerin, Reisejournalistin und Reisebuchautorin, wenn sich Grenzen wieder schließen, der Tourismus einfriert? Doch Astrid hat noch immer einen Weg hinaus in die Welt gefunden, den Ausweg im wahrsten Wortsinn.
Geborene Globetrotterin - Abenteuer in Afrika
Verwunderlich ist das nicht, schließlich ist sie als Tochter der zwei bekannten Globetrotter Erika und Klaus Därr aufgewachsen: Bei ihrer ersten Afrikareise war sie ein Jahr alt. Ihre Eltern packten einen Geländewagen mit Windeln voll und fuhren mit ihr von München quer durch Ägypten und den Sudan nach Kenia. Mit einem Kleinstkind durch Afrika? Vor mehr als 40 Jahren, als es noch keine Smartphones, GPS und Satellitentelefone gab? Im Nachhinein gibt das auch ihr selbst zu denken: „Bei den Nuba im Südsudan kam damals kaum ein Weißer vorbei und befestigte Straßen gab es sowieso keine.“ Die Portion Glück war da wohl auch mit auf Reisen.
Von da an waren sie und ihr kleiner Bruder René jedes Jahr mindestens einmal auf großer Reise mit der Familie, meistens in Afrika, vor allem in Marokko, dem Steckenpferd der Mutter. Deren Reiseführer über Marokko und die Handbücher „Transsahara“ und „Durch Afrika“ mit vielen praktischen Infos waren damals die ersten dieser Art. Daraus entstand später „Reise Know-How“, der erste Verlag für Individualreisende. Beschreibungen von Routen durch die Sahara ohne GPS-Punkte? Gar nicht so einfach damals, wie sich Astrid erinnert. „Steinmännchen rechts, Akazie links. Sonst war da ja nichts.“
Die Arbeit mit den Reiseführern hat sie später geerbt. Genauso wie ihre Abenteuerlust. In der Kindheit folgten Reisen nach Libyen, Algerien, Westafrika und ins südliche Afrika – immer mit dem eigenen Auto, das Leben und das Lego-Spielzeug in Aluboxen verstaut. Direkt nach dem Abitur war Astrid zum ersten Mal länger selbstständig in Afrika unterwegs. In drei Monaten fuhr sie von zu Hause bis nach Ouagadougou in Burkina Faso. Nach dem Geografie- Studium erfüllte sie sich ihren Traum von einer Nord-Süd-Durchquerung Afrikas. Sie setzte alles daran, dafür ein geländetaugliches Auto zu erwirtschaften und baute es in ihr Heim auf Rädern um. Ihr Leben war schon immer „Vanlife“, über den heutigen Hype kann sie sich da nur amüsieren.
Ihr Basislager, das war und ist Hohenthann, ein kleines Dorf zwischen grünen Hügeln und kurzem Weg in die Berge, oberbayerische Alpenvorland-Idylle. Maximal zwei Wochen am Stück blieb sie zuhause. Manchmal auch nur ein paar Tage. „Oberbayern war meine heimatliche Basis, um Wäsche zu waschen, einzukaufen und bald wieder zu packen.“ Immer wieder packen für die Reisen – man würde meinen, dass ihr das Spaß macht und locker von der Hand geht, ist es doch ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens. „Nein, Packen finde ich nach wie vor furchtbar. Und es ist jetzt noch schwieriger geworden“, sagt sie frei heraus.
Mit Sohn Nelion zu zweit auf Reisen
Heute packt sie für zwei, und wer mit Kleinkindern auf Reisen geht, weiß, wieviel dazugehört. Die größte Herausforderung war zuletzt der Bikepacking-Trip mit Kind von Genf bis ans Mittelmeer. Nur zwei 25-Liter-Radpacktaschen für alle Eventualitäten und jedes Wetter samt Campingausrüstung mit Kocher, Töpfen, Schlafsack, Zelt – das geht nicht ohne Komfortverzicht. Es ist ihr wichtig, dass Nelion von klein auf lernt, damit klarzukommen. Einmal auf Tour, kommt für Astrid die große Befreiung. Nicht nur die des Unterwegsseins in der Natur, sondern auch die des Auskommens mit dem Wenigen, das man dabeihat. Unterwegssein ist nicht nur Astrids Lebenseinstellung, sondern auch ihr Job, daher wird sie zukünftig nicht ganz auf Flüge verzichten können. Grundsätzlich versucht sie jedoch, ihr Leben nachhaltiger zu gestalten, indem sie vermehrt das Rad nutzt – wie zuletzt auf einer langen Bikepacking-Tour in Frankreich mit An- und Abreise per Bahn und Bus. Bei ihren mehrwöchigen bis -monatigen Campingreisen verbraucht sie zudem möglichst wenig Ressourcen – Verzicht gehört zu ihrem Reisestil. Nach der Reise ist vor der Reise.
Astrid Därr braucht immer wieder neue Ziele. Hauptsache bald wieder unterwegs. „Diese Rastlosigkeit ist Fluch und Segen zugleich“, gibt sie zu. Einerseits führe sie ein spannendes, ausgefülltes Leben mit einer Freiheit und mit Erfahrungen, um die sie andere beneiden. Andererseits lebt sie mit selbst geschaffenem Druck und Stress – und immer auch der drohenden Unzufriedenheit mit dem, was sie hat.
Könnte sie doch einfach mal in Ruhe und um vieles stressfreier ein paar Monate mit ihrem Kind zuhause bleiben und arbeiten, während Nelion in der Kita oder bei der Oma ist. Stattdessen geht sie in die nächste Planung von Ausflügen, Bergtouren oder Fahrradreisen. Dazu kommt: Erholung im klassischen Sinne sind ihre Reisen mit Kind als Alleinerziehende auch nicht. „Beim Camping kann ich ja nicht einmal allein duschen oder spazieren gehen“, erzählt sie.
Me-Time? Fehlanzeige. Wem sie damit etwas beweisen will? Am ehesten wohl sich selbst: Dass sie sie selbst bleibt, ihre Leidenschaft nicht aufgibt, weil sie nun Mutter ist. Ihre Reisen haben Astrid Därr zu einem überdurchschnittlich toleranten und weltoffenen Menschen gemacht. „Im Prinzip kann man mich überall aussetzen“, sagt sie. Egal ob Dschungel, Wüste oder Hochgebirge, egal welche Kultur oder Naturräume. Sie kann sich auf ihr Bauchgefühl verlassen.
Reisen als Mutter sind anders
Es sind andere Dinge, die sie nervös machen. Zum Beispiel die Verantwortung für Nelion mitzutragen, statt nur für sich selbst. „Was immer ich vorhabe, ich muss die Lage richtig einschätzen, sei es beim Wildcampen, auf einer entlegenen Route in Patagonien, oder beim Wandern mit Nelion allein.“ Ganz so unbeschwert ist Astrid nicht mehr unterwegs.
Dennoch lohnt sich das alles für sie. Sohn Nelion hat schon mehr gesehen als die meisten anderen Kinder seines Alters und mehr als viele Erwachsene. Mit drei Monaten war er auf seinem ersten Roadtrip durch Florida. Delfine, Pelikane, Alligatoren – das alles kennt er nicht aus Büchern oder dem Zoo. Mit vier Monaten reiste er mit Astrid nach Marokko und mit fünf Monaten ging’s durch Patagonien. Während sie erzählt, dass der Name ihres Sohnes einem Afrikabuch von Henning Mankell entstammt und ein Gipfel des Mount Kenya, ihres Lieblingsbergs, den gleichen Namen trägt, spielt der Blondschopf neben ihr gedankenverloren im heimischen Sandkasten.
Für Astrid bedeutet Mutterglück, ihren Sohn die Dünen in Marokko hinunterrutschen und im Wüstensand spielen zu sehen, grad so, als wäre er in der Sahara zu Hause. Dann nämlich kommen ihr die Bilder von sich selbst als kindlichem Blondschopf in der Wüste in den Sinn und dann fühlt sie sich darin bestätigt, trotz aller gelegentlichen Zweifel mehr richtig zu machen, als sie manchmal glaubt. „Ich darf meine in der Kindheit gewachsene Reiselust und Naturliebe an meinen Sohn weitergeben. Dafür nehme ich vieles in Kauf.“
Mit Ski auf Vulkane steigen
Sicherlich wird Nelion eines Tages auch ihre andere große Leidenschaft kennenlernen: die Besteigung von Vulkanen, am liebsten mit Ski. Mit ihrem früheren Partner hat sie das Skibergsteigen intensiv betrieben. Auf einer Skitourenreise in der amerikanischen Cascade Range kamen sie auf die Idee, noch mehr schneebedeckte Vulkane am Pazifischen Feuerring mit Ski zu besteigen. Vulkane, ihre Präsenz in der Landschaft, die alles rundherum dominiert, das hat sie schon immer fasziniert. Während im Sommer die steilen, schottrigen Flanken aber oft nur mühsam zu ersteigen sind, ist die Neigung der baumlosen Hänge von 30 bis 40 Grad für Skitouren im Winter ideal.
Auch wenn sich ihre Reisen heute anders anfühlen, sie die hohen Berge vorerst links oder in der Ferne liegen lassen muss, abenteuerlich bleiben sie mit Kleinkind allemal, wenn auch auf andere Weise.
In der Welt zuhause:
Mehrere Sahara-Durchquerungen auf eigene Faust (Algerien, Libyen, Mauretanien, Mali, Niger, Sudan)
Afrikadurchquerung von Nord nach Süd auf der Ostroute
Über zehn Jahre Reisen im südlichen Afrika
Seit 2017 mehrere Reisen in Patagonien, Vulkanbesteigungen im Sommer und Winter
Seit 2005 Reiseleitungen weltweit von Peru bis Papua-Neuguinea, von Kamerun bis Kamtschatka
Tauchreisen und Besteigungen von aktiven Vulkanen (u.a. Tambora in Sumbawa) auf diversen Inseln in Indonesien
Abenteuer Berge:
Besteigung von 40 Vulkanen (davon 20 mit Ski)
Vier erfolgreiche Sechstausender-Besteigungen
Mehr als 15 Fünftausender-Besteigungen, davon einige mehrmals (Ararat, Kilimanjaro u.a.)
Führung von (Höhen-)Trekkings weltweit seit 2005 und Bergwanderführungen in den Alpen
Zahllose selbstständige Ski(hoch-) und Bergtouren in den Ost- und Westalpen