Von: Larissa Mackert
Am nächsten Mittag treffe ich meine Reisegruppe sowie unseren Bergführer Richard Oberkalmsteiner in Vent. Als mit mir bereits vier der sechs Teilnehmer*innen am Treffpunkt warten, erreicht uns die Nachricht, dass sich die beiden fehlenden Teilnehmerinnen verspäten. Somit starten wir zunächst zu fünft zu unserer Stützpunkthütte, der Breslauer Hütte. Die gemütliche Schutzhütte der DAV-Sektion Breslau liegt auf 2844 Meter direkt am Fuß der Wildspitze.
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Der Hüttenzustieg beginnt mit einer Fahrt mit dem Sessellift zur Bergstation Wildes Mannle auf 2646 Metern. Von hier aus wandern wir gemeinsam zur Hütte hinauf und beziehen unser Zimmerlager. Im Anschluss stehen die Verteilung der Leihausrüstung, bestehend aus der Gletscherausrüstung, und eine kurze Programmbesprechung auf der Agenda. Noch vor dem gemeinsamen Abendessen stoßen die beiden fehlenden Teilnehmerinnen zu uns. Die Stimmung ist bestens und alle freuen sich auf die kommenden Tage.
Überraschenderweise schlafe ich in der ersten Hüttennacht sehr gut und gehe ausgeschlafen um 7:30 Uhr zum Frühstück. Frisch gestärkt und bei strahlendem Sonnenschein starten wir mit unserer Tour auf das Wilde Mannle. Den Anstieg nutzen wir schon, um verschiedene Übungen zur Trittschulung zu machen und bewältigen die letzte steile Passage im weglosen Gelände. Bald haben wir den ersten Gipfel der Woche erreicht: das Wilde Mannle mit einer Höhe von 3023 Metern. Oben genießen wir bei herrlichem Sonnenschein das grandiose Bergpanorama.
Nach dem Abstieg stehen weitere Ausbildungsinhalte auf dem Programm: Knoten- und Ausrüstungskunde. Richard bringt uns die wichtigsten Knoten bei, die wir auf Hochtouren beherrschen sollten, und wir üben fleißig, bis die Knoten quasi von allein ge- und aufgeknüpft werden. Währenddessen stärken wir uns, damit wir im Anschluss genug Kraft für den nächsten Programmpunkt haben. Mit frischer Energie wandern wir in Richtung Gletscherzunge des Rofenkarferners. Mit Steigeisen an den Füßen und in zwei Seilschaften geht es hinauf auf den Gletscher. An einer geeigneten Stelle üben wir das Gehen mit Steigeisen, den richtigen Umgang mit dem Pickel und das Abbremsen von Stürzen. Alle machen voll motiviert und mit großer Begeisterung mit und die Zeit vergeht wie im Flug. Nach dem Gletscherabstieg lagern wir unsere Ausrüstung in einem selbst gebauten Depot. Der erste Ausbildungstag ist passé und auf dem Rückweg zur Hütte steigt die Vorfreude auf das Abendessen und einen gemütlichen Tagesausklang.
Spaltenrettung hautnah
Der nächste Morgen startet erneut mit einem guten Frühstück. Im Anschluss machen wir uns auf, um unser gestern angelegtes Depot wiederzufinden. Angekommen in der Steinwüste können wir zunächst nur Gämse beobachten. Wo ist denn das Lager? Hier? Oder doch dort? Die erste Herausforderung des Tages lässt sich dann aber dank guter Zusammenarbeit und gegenseitiger Motivation meistern. Wir packen die Ausrüstung ein und wandern weiter in Richtung Gletscher.
Auch diesmal bilden wir zwei Seilschaften und steigen zum Ötztaler Urkund auf. Die Sonne strahlt vom Himmel und wir genießen den Aufstieg, der volle Konzentration erfordert. Wir queren einige Gletscherbrücken und stehen schließlich auf 3554 Metern am Gipfel. Mithilfe der Peak-Finder-App bestimmen wir gemeinsam die Berge um uns herum und erfreuen uns an dem herrlichen Panorama – so eine grandiose Fernsicht hatten wir nicht erwartet. Selbst König Ortler zeigt sich uns.
Nach einer ausgiebigen Stärkung treten wir den Rückweg an und nutzen den Abstieg für einige Übungen zur Spaltenrettung. Darauf war ich besonders gespannt und auch etwas nervös. Wir erleben das Innenleben der Spalten hautnah und üben sämtliche Rettungsmethoden: Mannschaftszug, T-Pickel-Bergung, zusätzliche Rückversicherung, Bergung mittels Eisschraube. Nervenkitzel, Freude, Erlebnis, Spannung, Herausforderung, Glück, … sind nur ein paar wenige Ausdrücke, die das Spaltenrettungserlebnis beschreiben.
Auch heute vergeht die Zeit rasend schnell. Wir steigen ab, deponieren unsere Ausrüstung und gehen zurück zur Hütte, um uns wieder einmal bei einem köstlichen Abendessen zu stärken. Nach dem Essen besprechen wir gemeinsam den morgigen Tag, denn aufgrund der guten Wetteraussichten steht morgen das Highlight der Woche auf dem Programm: die Besteigung der Wildspitze. Vorfreude pur!
Highlight: das Dach Tirols
Der große Tag beginnt früh! Bereits um 5:00 Uhr gibt es heute für uns Frühstück. Gut gestärkt, motiviert und voller Tatendrang starten wir mit Stirnlampen Richtung Ausrüstungsdepot. Die Stimmung ist fast magisch, als wir durch die Dunkelheit wandern und nur die Lichter der Stirnlampen und der Sterne uns den Weg weisen. Mittlerweile haben wir keine Schwierigkeiten mehr, unser Depot zu finden und so steuern wir auch im Dunkeln zielstrebig unser Ausrüstungslager an, packen das Material ein und wandern weiter in Richtung Gletscherzustieg.
Dort angekommen legen wir die Ausrüstung an, bilden eine Seilschaft und beginnen unseren Weg über den Gletscher. Nach der Gletscherquerung wandern wir durch felsiges Blockgelände, für das wir unsere Steigeisen wieder ausziehen. Nach einem steilen Anstieg eröffnet sich ein grandioser Blick über die Gletscherfläche. Faszinierend! Wir ziehen erneut unsere Steigeisen an und setzen den Aufstieg zum Tagesziel fort. Über eine Flanke und einen Grat kommen wir im ständigen Auf und Ab dem Gipfel immer näher, bis wir schließlich oben stehen – auf der Wildspitze, auf 3768 Meter, dem Dach Tirols. Bisher hat sich das Wetter leider nicht von der besten Seite gezeigt, aber oben angekommen klart es auf. Nur für einen kurzen Moment, aber dieses Gefühl und dieser Blick sind unbeschreiblich.
Den Abstieg bereichert Richard mit einer weiteren Übung, in der es um folgende Themen geht: das Abseilen und der Bond-Effekt. Was ist wohl der Bond-Effekt? Stellt euch mal die Frage, wie ihr eine Eisschraube zum Abseilen nutzen könnt, ohne diese hinterlassen zu müssen? Tadaaa – der Bond-Effekt machts möglich. Fasziniert von diesem Trick, machen wir die Übung nach.
Auf dem Rückweg zur Hütte wird auch die letzte Lektion der Tour abgeschlossen: die Pflege der Ausrüstung, also die Reinigung der Steigeisen und die ordnungsgemäße Verstauung. Glücklich und etwas erschöpft erreichen wir unsere Hütte am frühen Nachmittag und freuen uns auf ein leckeres Hüttenschmankerl. Nach der exzellenten Stärkung besprechen wir die heutige Tour nach und vertreiben uns den weiteren Nachmittag mit ein paar theoretischen Lerninhalten zu den Themen Wetter, Tourenplanung und Ausrüstungskunde. Am Abend lassen wir die wunderschöne Bergwoche gemütlich ausklingen und vor allem die erlebnisreiche Tour heute Revue passieren. Schließlich fallen wir glücklich und erschöpft ins Bett.
Am nächsten Morgen überkommt mich ein kleiner Abschiedsschmerz. Viel zu schnell bricht der letzte Tag des Hochtourenkurses an und ich genieße ein letztes Mal das Frühstück. Es ist fast so, als bedauere auch das Wetter unsere bevorstehende Abreise, denn es regnet in Strömen. Wir nutzen daher den Vormittag für eine weitere Theorieeinheit und vertreiben uns die Zeit auf der Hütte. Nach dem gestrigen Tag fällt uns der eher gemütliche Morgen jedoch nicht besonders schwer. Plötzlich tauchen ein paar Gämse vor der Hütte auf – ein seltenes Zeichen, dass Schnee kommen wird, wie uns der Hüttenwirt Alexander erklärt, denn die heimischen Tiere sind sehr selten zu dieser Jahreszeit in so tiefen Gefilden zu sehen.
Am Mittag stellt sich eine leichte Wetterbesserung ein und wir machen uns auf zum nahegelegenen Winterraum für eine letzte Übung zur Seiltechnik. Danach geht eine wunderbare, erlebnisreiche und spannende Ausbildungswoche zu Ende. Wir steigen zum Sessellift ab und genießen noch einmal die frische Bergluft bei der Fahrt nach unten. In Vent verabschieden wir uns voneinander und treten die Heimreise an, erfüllt mit unvergesslichen Erlebnissen, neuen Erfahrungen und riesiger Vorfreude auf die nächste Bergauszeit.
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