Ausbaufähig, so könnte man es nennen: Zwar machten 33 Prozent der jungen Menschen mit Einschränkungen zwischen 18 und 29 Jahren Sport, aber nur sieben Prozent derjenigen mit einer geistigen Behinderung, erzählt Markus Reichart. Er ist zuständig fürs Klettern bei den Special Olympics, die sich ebendieser Zielgruppe widmen. Woran das liegt? In den Vereinen fehle eine Willkommenskultur, so Markus‘ nüchternes Fazit. Dabei sei Sport so wichtig fürs Selbstbewusstsein, um Freundschaften zu schließen und letztlich an der Gesellschaft teilzuhaben. Beim „wettbewerbsfreien Angebot“ der Special Olympics, das parallel zu den offiziellen Wettkämpfen läuft, kommt es nicht aufs Gewinnen an. Eine ideale Möglichkeit für Menschen mit geistiger Behinderung, Freude am Klettern zu entdecken. Der DAV ist eine von 1200 Mitgliedsorganisationen der Special Olympics und auch Sektionen können in Kooperation eine solche Veranstaltung anbieten – wie die Sektion Kaufbeuren-Gablonz mit großem Engagement gezeigt hat.
Basislager für Inklusion
Schwung bringen auch die 85 Ehrenamtlichen aus den DAV-Sektionen zur Tagung und Fortbildung „Klettern und Inklusion“ mit nach Bad Aibling. Es gab sogar eine Warteliste. „Immer mehr Menschen im DAV möchten Kletterangebote für alle zugänglich machen“, freut sich Judith Lattner, die gemeinsam mit Inka Steuber und Anja Pinzel vom Projekt Alpen Leben Menschen (A.L.M.) die Veranstaltung organisiert hat. Auch Stefan Winter, der Leiter des Ressorts Sportentwicklung, sieht darin ein gutes Signal: „Die Inklusion im DAV schreitet immer weiter voran.“
Das Basislager der Sektion Stützpunkt Inntal hätte als Veranstaltungsort nicht besser gewählt werden können. Es versteht sich selbst als inklusive Kletterhalle und Begegnungsstätte. Nicht nur baulich wurde sichergestellt, dass Menschen mit und ohne Einschränkung zusammen klettern können. Die Halle wird darüber hinaus durch ein inklusives Team betreut. „Hier wird jeder so akzeptiert, wie er ist – und alle geben ihr Bestes“, erzählt der Hallenleiter Achim Haug.
Aha-Erlebnisse
Wie man am besten die Wand hochkommt? Mittels einer „ökonomischen Kletterbewegung“, so drückt es die Sportwissenschaftlerin und Physiotherapeutin Dr. Claudia Kern aus. Ein typischer Fehler beim Klettern sind zum Beispiel hochgezogene Schultern oder nach innen gekippte Knie. „Wenn der Körper kompensiert, wo er es nicht soll, ergeben sich Dysbalancen oder Fehlstellungen“, erklärt Claudia. Um die Bewegung zu optimieren, muss man seinen Schultergürtel beobachten: Wie werden die Muskeln eingesetzt, wie stehen die Gelenke? Die Schulterblätter sollten am Rumpf verankert sein, nicht nach hinten herausstehen. Beim Versuch, sie nach unten zu ziehen, merken viele Teilnehmende: „Oh, das ist nicht so einfach, ich kann das gar nicht ansteuern!“
Ein Aha-Erlebnis auch für Christoph Schnizler von der Sektion Reutlingen: „Es ist wichtig, einen genaueren Blick für die Bewegungsabläufe bekommen.“ Barbara Janssen von der Sektion Hamburg-Niederelbe hat sich bereits eine Übung für ein Mädchen aus ihrer Inklusionsgruppe überlegt, um ihr das Klettern zu erleichtern.
Wie fühlt es sich an der Wand an, wenn man nicht gut oder kaum sehen kann? Oder halbseitig gelähmt ist? Im Kurs von Markus Mair und Hajo Netzer können die Teilnehmenden dies einmal selbst spüren. Neun verschiedene Brillen liegen auf dem Boden der Halle bereit, die unterschiedliche Einschränkungen von Grünem Star bis Doppelsichtigkeit simulieren. Es zeigt sich: „Mit Grauem Star sind weiße Griffe an der Wand kaum zu erkennen“, wie Markus Mair erklärt. Schienen werden an Arme und Beine angelegt, um das Klettern mit einer halbseitigen Lähmung nachzuempfinden. Dabei wird schnell deutlich: Je nachdem, auf welcher Seite die Lähmung vorliegt, muss die Route entsprechend anders geschraubt werden.
Motiviert in die Höhe
Vertieft wird dieses Thema beim Workshop zum inklusiven Routenbau. Kisten mit Klettergriffen und Werkzeuge stehen bereit, in Kleingruppen wird an mehreren Routen in der Halle Hand angelegt. Die Aufgabe ist „Routen so zu gestalten, dass möglichst viele eine Chance haben, eine coole Bewegungserfahrung zu machen, Zugang zum Klettern zu finden“, erklärt Julius Kerscher, der den Kurs gemeinsam mit Peter Zeidelhack leitet. Nur wenige der Teilnehmenden haben Erfahrung im Routenbau. „Bei den Leuten spürt man aber eine große emotionale Beteiligung am Thema“, freut sich Julius. „Es geht ihnen darum, sich besser mit den Routensetzenden in den Hallen auszutauschen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen.“ Zum Beispiel darüber, wie man es schafft, ein paar Routen der Halle im Einstiegsbereich so zu bauen, dass alle motiviert und sicher die ersten Meter in die Höhe kommen.
Einfach mal machen
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch so viel neuen Input bekomme“, resümiert Lisa Pfalzgraf aus der Sektion Ludwigsburg die Fortbildung. Den Austausch mit so vielen Engagierten aus den unterschiedlichsten Bereichen fanden die Teilnehmenden besonders wertvoll. „Ziel sollte sein, dass Menschen mit Behinderung an jedem Kurs der Sektion teilnehmen können“, findet Christoph Schnizler. Dafür brauche es neben engagierten und geschulten Leuten aber auch die entsprechenden Rahmenbedingungen.
„Im zugänglichen Klettersport wird ganz viel erreicht, wenn man einfach mal anfängt, was zu tun“, rät Julius Kerscher. Und wie Christiane Werchau mit auf den Weg gibt: „Unperfekt ist schon perfekt genug!“