So schnell kann es gehen. Gerade wanderte man vom Sellajoch aus noch bequem auf einem schmalen Pfad fast eben unter den Felswänden der Sella entlang – und schon steht man mitten in der Vertikalen. Die Schuhe auf Reibung, die Karabiner des Klettersteigsets eingeklinkt im straff gespannten Drahtseil des Pößnecker Klettersteigs, der im morgendlichen Schatten gefühlt in direkter Linie durch die nahezu senkrechten Abbrüche neben den Sellatürmen verläuft. Mit jedem Meter gewöhnt man sich mehr an die Luft unter den Sohlen und hat Zeit, aus der Senkrechten die einmalige Kulisse mit dem wuchtigen Felsmassiv des Langkofels zu bewundern – Klettersteigfeeling pur.
Der Pößnecker Klettersteig wurde bereits im Jahr 1912 nach zwei Sommern Arbeit eröffnet und zählt damit zu den ältesten Eisenwegen in den Dolomiten. Der Steig war einer der vielen Puzzlesteine bei der Erschließung der Sellagruppe: Ausgehend von der Bamberger Hütte, die die gleichnamige Sektion im Jahr 1894 am Fuß des Piz Boè errichtete, wurden in alle Himmelsrichtungen Wege gebaut. Für eine Verbindung vom Sellajochhaus und den Anschluss an die Steige über die Hochfläche musste man allerdings die Westabbrüche der Sella überwinden. Die Aufgabe übernahm die befreundete Thüringer Sektion Pößneck, wobei die Linie teilweise eine im Jahr 1907 erstbegangene Kletterroute zum Piz Selva von Gabriel Haupt und Paul Mayr berührt. „Für die Erstbegeher war das kein Problem“, meint Ivo Rabanser, „der Gabriel Haupt war sogar bei der Eröffnung dabei – und feierte nach der Durchsteigung in der gerade erweiterten Bamberger Hütte weiter“.
Ein Drahtseil gab es anfangs nur an einigen Stellen. „Beim Pößnecker Steig handelte es sich, wie der ursprüngliche Name bereits suggeriert, um eine Steiganlage“, erzählt der Bergführer und Autor mehrerer Kletterführer, „und die erleichtert mir an schweren Stellen das Steigen“. Daher dienten die beim Bau in den Fels gehauenen Tritte sowie die Stifte, Klammern und kurzen Seilstücke vor allem als Hilfe beim Aufstieg – um sich festzuhalten und nicht, um sich zu sichern.
Entstehung eines Klassikers
Ivo Rabanser, ein vorzüglicher Kletterer aus Gröden, der mit zwölf Jahren das erste Mal auf dem Langkofel stand und mittlerweile auf über 150 Erstbegehungen in den Dolomiten zurückblickt, ist ein wandelndes Lexikon über die Alpingeschichte. „Das Zusammentreffen von ästhetischer Schönheit und historischer Relevanz hat mich schon immer fasziniert“, meint er. „Für mich handelt es sich bei Bergen und den Menschen, die dort etwas gemacht haben, um eine epische Geschichte“. Früher legte er den Fokus vor allem auf Wiederholungen der großen, klassischen Routen: „Das ist wie ein Museum – da kannst du mit Händen fassen, was gemacht wurde.“ Mittlerweile hat er eine Zusatzausbildung zum Klettersteigbauer und war bei der Sanierung des im Jahr 2022 kurzzeitig gesperrten Pößnecker Klettersteigs dabei – ein Via Ferrata-Klassiker der Dolomiten.
„Über die Jahre wurden sukzessive immer mehr Seile reingehängt“, erzählt Ivo, „das war wirklich eine Kollektion aus dicken und dünnen Drahtseilen sowie unterschiedlichen Stiften – und es gab immer noch einige schwere, ausgesetzte Stellen komplett ohne Sicherungsmöglichkeit“. Interessant waren auch die unterschiedlichen Techniken bei der Herstellung der Stifte oder beim Verlegen der Drahtseile. Teilweise wurden die Seilenden sogar überaus aufwendig direkt in einen Stift eingeflochten. Letztlich entsprach der Pößnecker, bei dem in den 1990er Jahren bereits der steinschlaggefährdete Einstieg verlegt wurde, nicht mehr den Sicherheitsvorschriften. „Aber jetzt ist alles nach Norm“, erzählt Ivo stolz und zeigt beim Einstieg auf die neuen Sicherungen, „du brauchst eine besonders starke Endverankerung, das Seil wird mit drei Klemmen fixiert und gleich danach kommt der erste Stift“. Die Löcher dafür wurden früher mit der Hand gebohrt und waren eher oval. Ivo deutet auf einen alten, abgeflexten Stift, bei dem man noch den alten Holzdübel sieht: „Die haben in das Loch Holz reingeschlagen und anschließend den Stift.“ Das alte Sicherungsmaterial wurde komplett entfernt, obwohl viele Haken gefühlt für die Ewigkeit verankert waren: „Wir haben das von einem Statiker testen lassen – das war vor über hundert Jahren handwerklich wirklich perfekt gemacht.“
Auch wenn nach Aussagen eines Schlossers der damalige Stahl besser war, aufgrund der fehlenden Norm musste man alles austauschen. Geblieben ist der Charakter des Steigs, der nach wie vor luftig und von der Gesamtanforderung sehr anspruchsvoll ist. Man bewegt sich fast durchgehend in einer senkrechten Wand mit gewaltigen Tiefblicken. Die Schwierigkeiten reichen bis C/D, allerdings gibt es auch kurze Kletterstellen im zweiten Grad. „In dieser Rinne war früher überhaupt kein Seil“, erklärt Ivo beim Erreichen des ersten Kamins, der auch heute noch alles andere als einfach ist. „Der untere Teil wurde gewollt ungesichert gelassen, da es kein Absturzgelände ist, aber oben wurde jetzt zumindest ein Seil gespannt“, fährt er fort.
Gut zwei Wochen benötigten Ivo Rabanser und das Team der Firma Via Ferrata Experts, um den Pößnecker Klettersteig im Juni 2022 zu sanieren. „An den vorhandenen Seilen konnten wir uns sichern und so die neue Anlage bauen“, erzählt er, „die hat im Großen und Ganzen genau den gleichen Routenverlauf, nur ein paar Meter sind minimal verlegt, etwa von einer steinschlaggefährdeten Rinne auf einen benachbarten Sporn“. Und natürlich ist jetzt alles normgerecht. Im senkrechten Gelände kommt spätestens nach fünf Metern ein Stift, dazu gibt es schwarze Stopper, damit es im Falle eines Sturzes nicht zu einer Hebelwirkung am Karabiner kommt. Hier und da wurden auch einige künstliche Tritte entfernt, dennoch wurde der Steig technisch nicht anspruchsvoller. „Vorher war das Seil manchmal eher unangenehm“, erklärt Ivo, „jetzt läuft es zentraler, damit du dich besser festhalten kannst“.
Egal ob bei den Punkten Linienführung oder Erlebnis, der Pößnecker Klettersteig durch die jähen Westabbrüche der Sella ist das Aushängeschild im Grödener Klettersteigangebot. Da kann selbst der Klettersteig Sass Rigais, der sogar auf dem zweithöchsten Gipfel der Geislergruppe endet, nicht mithalten.
Viel zu schauen in der Furchetta
Ein faszinierender Steig mit grandiosem Blick auf die benachbarte Furchetta, der allerdings konditionell sehr fordernd ist – und beim teilweise ungesicherten Abstieg über die steile Südwestflanke bei jedem Schritt volle Aufmerksamkeit erfordert. Dabei gibt es so viel zu schauen. Denn genau wie die Langkofelgruppe und die gegenüberliegende Sella bietet auch die Geislergruppe die ganze Faszination der Dolomiten: „Jeder Gipfel hat eine Identität, es gibt schlanke Türme und große Wandfluchten“, schwärmt Ivo, „die Sella etwa schaut aus wie eine mittelalterliche Burg mit horizontalen Linien, während der Langkofel eher einem gotischen Dom ähnelt mit Linien, die alle nach oben ziehen“. Das faszinierende ist der Kontrast zwischen Horizontale und Vertikale, der krasse Übergang von grünen Almwiesen in senkrechte Wände, die wie eine Mauer aufragen. Und zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter unterschiedliche Färbungen zeigen. „Mir wird das nie langweilig“, schwärmt Ivo, „ich bin ja jetzt wirklich viel in den Dolomiten unterwegs und doch ist es immer wieder faszinierend und anders“.
Landschaftlich ein Traum ist auch der Oskar- Schuster-Klettersteig auf den Plattkofel. Bereits der Zustieg durch die faszinierende Fels- und Geröllwelt der Langkofelgruppe mit ihren versteckten Karen, Rinnen und Felszacken begeistert. Der Klettersteig selbst folgt einer Route von Oskar Schuster. Der deutsche Kletterpionier fand im Jahr 1895 einen überraschend leichten Anstieg durch das ostseitige Felslabyrinth über dem Plattkofelkar – eine starke Leistung, denn ohne Drahtseil als Orientierungshilfe würde man in der unglaublich stark gegliederten Wand schnell den Überblick verlieren. Die schwersten Stellen sind gut gesichert, doch nicht alles entspricht der aktuellen Norm. „Schau mal da“, meint Ivo und deutet auf ein in den Fels geklebtes Seilende, „das schaut zwar schön aus, aber das würde dir heute kein Statiker mehr abnehmen“. Außerdem gibt es immer wieder ungesicherte Passagen, die unbedingt Trittsicherheit und alpine Erfahrung erfordern. Gelegentlich müssen dort auch einmal die Hände an den Fels.
Neben dem Klassiker Pisciadù, der vielleicht beliebtesten Ferrata der Dolomiten, und dem Klettersteig Kleine Cirspitze gibt es mit der Ferrata Furcela de Saslonch in die Langkofelscharte auch einen komplett neuen Klettersteig in den Bergen über dem Grödnertal.
Ein kurzweiliger Steig, den Konditionsstarke gut mit dem Oskar-Schuster-Klettersteig kombinieren können. „Wir haben beim Klettern immer wieder diesen Sporn gesehen und gemeint, da könnte man einen Klettersteig bauen“, blickt Ivo Rabanser auf die ersten Überlegungen zurück, „denn dort wäre keine Kletterroute betroffen, außerdem sind Zu- und Abstieg kurz – ideal!“
Letztlich wurde die Idee im September 2021 innerhalb von zwei Wochen umgesetzt. Deutlich länger dauerten die Vorarbeiten. „Armin Senoner und ich sind die ganze Route durchgeklettert und haben Fixseile gespannt, um die Linie festzulegen“, erinnert er sich, „und dann kam ein Geologe, um sich das anzuschauen“. Das Ergebnis überraschte auch den erfahrenen Kletterer Ivo. „Es gab ein paar Stellen, bei denen ich an der Felsqualität zweifelte, aber die waren ok – und andere, bei denen ich keine Bedenken hatte, mussten wir wegen Steinschlaggefahr verlegen“.
Auf der Suche nach der harmonischen Linie
Die Linie an sich hat der Berg, in diesem Fall die Felsrippe, vorgegeben. „Im Grunde musst du die Schwachstellen der Felsstruktur zusammen komponieren“, erklärt Ivo seine Überlegungen bei der Planung, „ich gehe also nicht direkt über die Platte rauf, wenn es daneben viel einfacher ist. Es macht keinen Sinn, in steiles Gelände reinzugehen und das dann mit Tritten zu pflastern, weil’s zu schwer ist – wenn du das Gelände nutzt, dann hast du auch viele natürliche Tritte.“ Im Grunde geht es Ivo wie beim Klettern um eine harmonische Linie, wobei die Suche danach durchaus etwas Kreatives ist. „Der Klettersteig Langkofelscharte ist daher keine moderne Ferrata, die die Schwierigkeiten sucht, sondern ein klassischer Steig mit schöner, harmonischer Linie wie der Pößnecker“.
Und dann begann die mühsame Arbeit mit Bohren, Bohrlöcher sauber machen und Haken kleben. Die in der Regel zwanzig oder dreißig Zentimeter langen Stifte wurden so platziert, dass man beim Umhängen kraftsparend stehen kann. Im Anschluss wurde der Steig von einem Statiker abgenommen, der prüfen musste, ob die Anlage fachgemäß gebaut wurde. Die Wartungsverantwortung liegt sowohl für den Langkofelscharte- als auch für den Pößnecker Klettersteig beim Tourismusverein Wolkenstein, wobei die Kontrolle von den Bergführern Ivo Rabanser, Armin Senoner und David Demetz durchgeführt wird. Während der Pößnecker Klettersteig auch nach seiner Sanierung aufgrund der Länge und Höhe eine hochalpine Unternehmung ist, bei der die Tour am Ausstieg auf dem 2941 Meter hohen Piz Selva noch lange nicht zu Ende ist, entwickelt sich der neue, durchgehend mit einem Drahtseil gesicherte Klettersteig Langkofelscharte zu einer beliebten Spritztour und einem echten Anziehungspunkt über dem Sellapass. Kein Wunder, vom Sellajochhaus ist der Einstieg schnell zu erreichen – und der Ausstieg befindet sich gleich bei der Bergstation der einmaligen Stehgondelbahn und dem benachbarten Rifugio Demetz. Mit einem Schritt wechselt man von einem der neuesten Klettersteige Südtirols aus der Vertikalen in den Trubel auf der Langkofelscharte – so schnell kann es gehen.