Der Verkehrsverbund verbindet die Kantone St. Gallen, Thurgau, Appenzell, Glarus, Schaffhausen und das Fürstentum Liechtenstein zu einem einheitlichen durchdachten Verkehrskonzept, das mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks funktioniert. Der gebirgige Teil erstreckt sich zwischen Bodensee, Liechtenstein, Walensee und Glarus.
Wer in der Schweiz Urlaub macht, hält sich häufig nicht lange in der Nordostschweiz auf, man fährt nur durch auf dem Weg in die „richtigen Berge“, beispielsweise nach Graubünden, in die Zentralschweiz oder ins Tessin. Die Nordostschweiz – die sagt vielen gar nichts, sieht man von den „Highlights“ ab, die es auch hier gibt und die große Menschenmassen anziehen: Um das Gasthaus Aescher, die Fünf-Seen-Wanderung, den Säntisgipfel oder den Rheinfall soll es aber hier nicht gehen. Diese Kulminationspunkte des Tourismus sind ausreichend beschrieben, ausreichend besucht, ausreichend fotografiert und auch wirklich lohnend. Doch die eigentlichen Höhepunkte suche ich nicht dort, wo alle anderen auch sind, sondern auf einsamen Wiesen und Pfaden, auf Gipfeln ohne bekannte Namen, auf Wanderwegen abseits der ersten hundert Treffer einer Suchmaschine. Ich erreiche sie am besten mit dem öffentlichen Nahverkehr; wandern im Kreis und zurück zum Parkplatz wäre nicht in meinem Sinne.
Herbst: Südseite des Säntis im Alpstein
Der Säntis, Wahrzeichen im Alpstein, von fast jeder Richtung aus weithin sichtbar, steht für ein großes Wanderparadies und eine grandiose Aussicht in alle Richtungen, jedoch auch für Seilbahntourismus und einen betonierten Gipfel mit Hotelanlage und großem Sendemast. Es ist der höchste Punkt des Alpstein, einem großen freistehenden Kalkstein-Bergmassiv zwischen Rheintal, Toggenburg und Appenzell. Die Schartenhöhe des 2500 Meter hohen Berges beträgt unglaubliche 2000 Meter, so viele Höhenmeter tief müsste man zunächst absteigen, um dann den nächstgelegenen, gleich hohen Punkt zu erreichen. Nicht nur auf der bekannteren Appenzeller Nordseite des Alpstein mit ihren malerischen Seen, sondern auch an der unbekannteren Südseite im Toggenburger Hochtal bei Wildhaus bieten sich im Herbst sonnige Wanderungen an, bei denen man vom Massentourismus am Säntisgipfel nicht das Geringste spürt. Ein Blick auf den Schweizer Wetterbericht, der die Nebelobergrenze am Vorabend ziemlich zuverlässig vorhersagt, zeigt an, wie hoch man steigen muss, um nicht im Oktobernebel hängen zu bleiben.
Ich suche einen schönen Weg irgendwo zwischen Stooss und Lütispitz und wandere von Unterwasser aus los, das mit dem Postauto (schweizerdeutsch für Postbus) jede halbe Stunde erreichbar ist. Nach ein bis zwei Stunden Wanderung komme ich aus dem Nebel in die goldene Oktobersonne, es hat sich gelohnt. Hier oben sind die Schafhütten bereits winterfest verschlossen, die Wiesen leuchten goldfarben und es ist wieder einmal fast kein Mensch unterwegs. Viele sind nämlich gegenüber auf der im Winter sehr schattigen Seite des Tals am Fuß der Churfirsten, denn dort gibt es Seilbahnen und Gasthäuser. Und noch viel mehr laufen heute zu Tausenden am Bodenseeufer, gar nicht weit von hier, den Dreiländermarathon ohne Sonne unter dem Hochnebel. Mein Ausblick reicht von den sieben Churfirsten bis zu den hohen Graubündner Bergen, auch ein paar Glarner und Urner Gipfel kann man erahnen, man könnte hier stundenlang bleiben. Heute ist die frühe Dämmerung der begrenzende Zeitfaktor, nicht die letzte Busverbindung: die Abfahrt im Tal wäre auch um 22 Uhr noch möglich, dank eines vorbildlichen Verkehrskonzepts in der Nordostschweiz, das aus Wanderungen ein ganztägiges Gesamterlebnis macht.
Winter: über schneebedeckte Wiesen von Hof zu Hof im Kanton Appenzell
Oft führt meine Anreise über St. Gallen, das große Verkehrszentrum in der Nordostschweiz und wichtigster Knotenpunkt im Verkehrsverbund Ostwind. Schon das Bahnhofsgewölbe erinnert an große Bahnhöfe der Welt, allerdings im Miniaturformat. Am Bahnhofsvorplatz halten die St. Galler Buslinien, die teils elektrisch mit Oberleitung fahren, das Postauto und auch die Appenzeller Bahn, eine Privatbahn mit Schmalspur, die hier ähnlich einer Straßenbahn durch die Stadt fährt und erst außerhalb eine eigene Trasse hat. Die Vernetzung der Verkehrsmittel funktioniert hervorragend, und das Angebot wird intensiv genutzt, auch zum Wandern, für Besorgungen und die Freizeit oder natürlich zum Pendeln.
Ich fahre nur noch ein paar Minuten lang mit dem Bus von St. Gallen weiter bis nach Stein AR, ein kleines hübsches Dorf, dem Zentrum der Appenzeller Käsereifung. Angehängte Großbuchstaben wie „AR“ (Kanton Appenzell Ausserrhoden) schließen in der Fahrplanauskunft die Verwechslung mit namensgleichen Orten in anderen Kantonen aus. Nach kurzer Stärkung mit einem Stück Appenzeller Käse direkt vom Lager (mild oder rezent, Rahmstufe, Bio oder höhlengereift) geht es auf meine heutige Winterwanderung, die ich spontan dem Wetter und meiner Kondition anpasse. Wo ich wieder in die Bahn oder den Bus steige, steht ohnehin noch nicht fest. Wieso auch, ich kann ja fast überall wieder einsteigen. Es geht zunächst über Wanderwege durch die verschneite Bilderbuchlandschaft mit ihren verstreuten Einzelhöfen, dann dank gefrorener Wiesen auch querfeldein über den Schnee.
Die hervorragende App Schweiz-Mobil zeigt mir Topographie, Wanderwege und Haltestellen des öffentlichen Verkehrs in bester Präzision, der Maßstab ist so weit zoombar, dass man sich an jedem Wegkreuz, alleinstehenden Bäumen, jedem noch so kleinen Pfad und sogar am Grundriss der Häuser orientieren kann. Irgendwo, nach vielen Stunden, beispielsweise am Bedarfshalt Zürchersmühle (Haltewunschtaste am Bahnsteig drücken!) steige ich wieder in den kleinen roten Zug der Appenzeller Bahn bis Herisau. Nach Kaffee und Appenzeller Nussgipfel (Nusshörnchen mit viel Nussfüllung und wenig Hefeteig) geht es mit der S-Bahn über den beeindruckenden Sittertobelviadukt, die höchste Bahnbrücke der Schweiz, zurück nach St. Gallen.
Hier im Hügelland südwestlich von St. Gallen bieten sich gerade im Winter auch die vielen unbekannteren Aussichtsberge an, ihre Höhe liegt zwischen 1000 und 1600 Meter, daher sind sie meistens auch ohne Schneeschuhe bezwingbar. Ob man beispielsweise Hundwiler Höhi, Hochhamm, Wilkethöchi, Hochalp in die Wanderung einbaut oder den bekannten Kronberg, der dank Seilbahn deutlich stärker besucht ist – so oder so: der beeindruckende Ausblick Richtung Säntis ist überall inklusive.
Frühjahr: steile Alpwiesen im Grenzgebiet Liechtenstein/Schweiz
Das Fürstentum Liechtenstein ist Teil des Verkehrsverbundes Ostwind und auch in vielen anderen Belangen an die Schweizer Verwaltung angelehnt. Im Frühjahr suche ich schneefreie Wanderungen in Südausrichtung. Es ist die ideale Jahreszeit für die Mittlerspitz oberhalb des Ortes Balzers, der mit dem Liechtensteiner Bus perfekt erreichbar ist. Zunächst geht es steil im Wald bergauf, bis die Alp Guscha in der Schweiz erreicht ist. Hier erhält ein Verein die historischen Alpgebäude, die sonst dem Verfall preisgegeben wären. Man kann sich sogar in einem der Gebäude per Selbstbedienung mit Getränken stärken.
Die steile Hanglage führt dazu, dass früh im Jahr eine schneefreie Wanderung bis auf die Mittlerspitz (1899m) möglich ist. Hier hat man den Falknis immer im Blick, den nicht nur die Fans der Heidi-Geschichten kennen dürften. Überhaupt ist die Aussicht sehr gut, da das Rheintal tief eingeschnitten ist. Die App Schweiz-Mobil zeigt die Landkarten auch auf Liechtensteiner Gebiet in gleicher Qualität an. Im sonstigen Ausland endet allerdings die Präzision dieser App exakt an der Landesgrenze. Die Wanderwege in der Schweiz sind in drei Farben markiert: gelb steht für einfachere Wanderwege, rot für normale bis anspruchsvollere Bergwege sowie blau für schwierige Wege. Vorsicht: blau heißt wirklich blau, und auch schon rote Wege können hier und da anspruchsvolle oder ausgesetzte Passagen enthalten. Der Abstieg erfolgt über St. Luzisteig nach Fläsch oder ins Wein- und Heididorf Maienfeld. Hier befinde ich mich bereits außerhalb des Verkehrsverbundes Ostwind, nämlich im Kanton Graubünden. Selbstverständlich kann ich auch von hier aus die Heimfahrt antreten. Da ich aber eine Tageskarte des Verkehrsverbundes nutze, wandere ich noch schnell nach Bad Ragaz (Kanton St. Gallen), wo ich wieder im Verbundgebiet bin.
Natürlich sind die Schweizer Preise hoch, was man beim Essen, Reisen und Übernachten deutlich merkt. Verschiedene Angebote machen die Öffentlichen in der Schweiz dennoch erschwinglich. Trotzdem werden manche abwinken und sich wieder dem Auto zuwenden, das angeblich viel weniger Kosten verursacht. Tatsächlich? Man sollte das individuell für sein Auto einmal durchrechnen, aber grob überschlagen kostet ein Auto pro Monat zwei- bis vierhundert Euro. Apropos Franken: Zwei Fettnäpfchen für Menschen aus dem Ausland gilt es auf jeden Fall zu vermeiden: Über teure Preise laut zu sprechen, kommt nicht gut an. Auch für viele in der Schweiz Lebende ist das hohe Preisniveau im Alltag meist nicht erfreulich. Und das Wort „Fränkli“ gibt es im Schweizerdeutschen nicht. Überhaupt ist es nicht ratsam, „-li“ an Worte anzuhängen und zu glauben, sich damit vor Ort beliebt machen…
Sommer: einsame Wanderwege im Weisstannental
Südlich von Sargans, einem Knotenpunkt dreier Bahnlinien, zweigt das recht unbekannte Weisstannental ab, das wegen der steilen Hänge nur wenig erschlossen und trotzdem mit dem Bus gut erreichbar ist. Ein kleiner hübscher Talort mit zwei Gasthäusern, das war’s fast schon. Der Rest des Tals sind ein paar Alpgebiete und sehr viel unberührte Natur. Glücklicherweise gibt es diese Täler noch immer, in denen kein Skilift läuft und kein hässliches Hotel steht, wo man nicht versucht, den Tourismus durch künstliche „Attraktionen“ anzukurbeln. Bei mir geht es heute von Weisstannen durch das steile Rappenloch aufs Horn (1841m), weiter über die Alpe Scheubs wieder ins Tal zurück. Und unerklärlicherweise bin ich in schönster Natur bei bestem Wetter fast allein unterwegs.
Ich frage mich immer öfter, ob man die „Zentren des Tourismus“ schrecklich finden oder aber ihnen vielleicht doch dankbar sein sollte, dass sie viele Menschen anziehen und bündeln, denen „Fun“ und „Action“ so wichtig sind. Dass beim Ausbau der Skigebiete oder beim „Downhillen“ über feuchte Wiesen die Natur Schaden nimmt, merkt man angesichts des großen Spaßfaktors nicht, oder ist es vielen einfach egal? Auch die Nordostschweiz kennt sehr wenige solche Zentren des gebündelten Bergtourismus, die man aber zum Glück leicht umgehen kann: meidet man konsequent Skigebiete mit mehr als drei Liften, ist man schon außerhalb des „Wanderspektakels“ und mittendrin im Erleben der Natur.