Mit 2653 Metern über Normalnull ist sie die höchste Hütte des Schweizer Alpenclubs im nicht ganz kleinen Graubünden. So gesehen ist der kürzeste Zustieg zur Chamanna Jenatsch mit gerade einmal achthundert Höhenmetern fast geschenkt.
Umso erstaunter wirken Jill Lucas und Daniel Sidler, als wir ihnen erzählen, dass wir nicht über die Fuorcla d’Agnel zu ihrer geliebten Hütte aufgestiegen sind, sondern einen etwas längeren Zustieg gewählt haben.
Sechsundzwanzig Kilometer Schnee liegen hinter uns, als wir uns am Abend mit großem Appetit auf einen leckeren Brotauflauf stürzen. Doch beginnen wir von vorn.
Erlebnisreiche Anreise
„Wir überqueren gleich das berühmte Landwasserviadukt, welches seit Juli 2008 zum Unesco-Weltkulturerbe zählt“, verkündet der Waggon-Lautsprecher. Schon die Anreise mit der Rhätischen Bahn zum Ausgangspunkt unserer Skidurchquerung ist ein Erlebnis für sich. Wenige Minuten nachdem der leuchtend rote Zug die 120 Jahre alten Steinbögen überquert hat, hält er schon am kleinen Bahnhof von Filisur.
Die Ski am Rucksack, wandern wir durch den verschlafenen Ortskern. Seine uralten Häuser sind verziert mit wunderschönen „Sgraffiti“, den für Graubünden typischen Wand-Kratz-Gemälden.
Die Frühlingssonne leistet nicht erst seit heute ganze Arbeit. Obwohl es erst Anfang März ist und wir uns auf ziemlich genau 1000 Meter Meereshöhe befinden, sind die Südhänge über dem kleinen Ort komplett schneefrei.
Ganz im Gegensatz zu den glücklicherweise weißen Schattenhängen oberhalb der Albula. Direkt an der Brücke des bereits mit Schmelzwasser sprudelnden Flusses beginnt unsere Durchquerung des Gebirges, das dem Wasser seinen Namen verdankt. Mit der klassischen Albula-Skiroute hat unser Weg aber nicht das Geringste zu tun. Was unter anderem dadurch deutlich wird, dass wir an diesem herrlichen Freitag die Einzigen weit und breit mit Tourenski sind.
Begrüßung auf Bargunseñer?
Im steilen Bergwald drücken die nicht ganz leichten Rucksäcke – wir werden die erste Nacht auf einer Selbstversorgerhütte verbringen – zunächst noch etwas auf die Schultern. Dann erreichen wir das gutmütig geneigte Val Spadlatscha und ziehen unsere Spur über die einsamen Almen Pitschen, Prosot und Pradatsch in Richtung Chamona d’Ela. Die ungewohnten Ortsnamen zeigen an, dass es in Filisur bis ins 20. Jahrhundert eine ganz spezielle romanische Sprache gab: Das auf der Sprachgrenze der Idiome Puter (Oberengadin) und Surmiran (Oberhalbstein) gesprochene „Bargunseñer“.
Um diesen besonderen rätoromanischen Dialekt zu erhalten, berichtet die Zeitschrift „Pro Bravuogn" regelmäßig über das Dorfleben. Auf der Website „Bargunseñer interaktiv“ gibt es unter anderem ein auditives Wörterbuch. Da wir auch den Rest des Hüttenzustiegs keiner Menschenseele begegnen, bleibt uns aber die Verlegenheit erspart, nicht genau zu wissen, wie man sich am Fuße des gewaltigen Piz d’Uglix sprachlich korrekt begrüßt.
Die dortige Ela-Hütte haben wir sofort ins Herz geschlossen. Wie die meisten Selbstversorgerhütten des Schweizer Alpenclubs ist die Küche der gemütlichen Stube perfekt ausgestattet. Inklusive Käsefondue-Caquelon und Rechaud. Die Gruppe vor uns hat – auch das ist in der Schweiz üblich – einen feinen Haufen Kleinholz bereitgelegt, mit dem sich der Ofen in Windeseile anschüren lässt. Während es knistert und die Raumtemperatur langsam aber beständig ansteigt, machen wir es uns gemütlich. Erst gibt es heißen Tee. Dann eine dampfende Gemüsesuppe als Vorspeise und danach ein italienisches Nudelgericht.
Die längste Etappe der Skisafari
Nach einer für alle wirklich erholsamen Nacht kostet das Verlassen der warmen Hütte am nächsten Morgen ziemliche Überwindung. Eiskalte Fallwinde und mit ihnen kleine Eiskristalle wehen uns vom Pass d’Ela ins Gesicht. Aber es hilft nichts. Wir müssen möglichst früh los. Schließlich steht heute die längste Etappe unserer Skisafari an. Zwischen riesigen Felsflanken steigen wir zügig im schattigen Talschluss bergan. Ein harter, nordseitiger Harschdeckel auf über knapp 2800 Metern deutet darauf hin, dass es hier in den Vortagen extrem warm gewesen sein muss. Wer auf solchen Eisrutschbahnen seine Harscheisen zu spät anlegt, muss ungewollte Zusatz-Höhenmeter in Kauf nehmen. So wie Bernadette, die bei einer Spitzkehre ausrutscht und fluchend den ganzen Schlusshang zum Pass d’Ela wieder hinunterrutscht.
Als Entschädigung erwartet sie – und uns natürlich auch – eine großartige Abfahrt durchs weltentrückte Cotscha-Tal. Weit und breit ist keine einzige Skispur zu entdecken. Wir sind wohl seit Langem die Ersten, die ihre Schwünge in den fast perfekten Firn legen. Ziemlich genau siebenhundert Höhenmeter tiefer liegt es dann vor uns: das ebenfalls menschenleere und gewaltige Val dʼErr. Gut vier Kilometer Luftlinie trennen uns von seinem bombastischen Talschluss. Über ihn müssen wir den Übergang zur Chamanna Jenatsch ersteigen.
Beim zweiten Aufziehen der Felle brennt die Märzsonne schon kräftig herunter. Zum Glück haben wir viel „Marschtee“, wie es auf Schweizerisch heißen würde, mit dabei. Nach den ersten zwei Tal-Kilometern hätten wir allerdings gegen Käseplättli, Salsiz, Huusbrot oder die berühmten Meringues von der Alp d’Err als Stärkung nichts einzuwenden. Aber die altehrwürdige Alm liegt unter einer dicken Schneedecke noch im tiefen Winterschlaf.
Je näher wir dem Talschluss kommen, desto höher baut er sich vor uns auf. Beeindruckt sind wir uns einig: Bei schlechter Sicht dürfte der Aufstieg zur Fuorcla Laviner nicht leicht zu finden sein. Die selbsterfüllende Prophezeiung setzt in Form von dichtem Nebel etwa 200 Höhenmeter unterhalb des alles entscheidenden Sattels ein. Wenn man nicht mehr viel sieht, ist der direkte Weg nach oben meistens am besten. Was aber auch bedeutet, dass die Ski auf den Rucksack kommen und Stufe um Stufe in den zum Glück recht günstigen Trittschnee getreten wird. Dennoch brennen oben die Oberschenkel gewaltig. Zusammen mit der schlechten Sicht und starkem Wind ist das ein guter Grund, den nur wenig höheren Piz Laviner auszulassen und gleich zur Hütte abzufahren.
Verwöhnprogramm in der Chamanna Jenatsch
Neun Stunden nach unserem Start an der Chamona d’Ela erreichen wir ziemlich stolz die auf einer Karschwelle stehende Chamanna Jenatsch. Schon lange liegt die Berghütte im Schatten des mächtigen, direkt über ihr thronenden Piz Picuogl und wartet wie jeden Abend gelassen darauf, dass die Sonne am nächsten Morgen wieder neben dem Piz Ot aufgeht.
Heute Abend genießen wir es sehr, nicht selber zu kochen, sondern uns von Jill, Daniel und ihrem netten Team verwöhnen zu lassen. Zudem ist die Hütte im Coronawinter 20/21 nur halb belegt. Ein ganzes Matratzenlager haben wir für uns alleine. Wobei … in dieser Nacht hätte uns wohl auch das lauteste Sägewerk nicht aus dem Tiefschlaf geholt.
Am dritten und letzten Tag unserer Durchquerung erreichen wir nach einem erneut vollkommen einsamen Aufstieg über den spaltenarmen Vadret Traunter Ovas den beliebten Piz Surgonda. Am genauso aussichtsreichen wie unschwierigen Westgrat kommen die Ski ein zweites Mal auf den Rucksack und wir betreten auch ein zweites Mal das Schutzgebiet des „Parc Ela“.
Direkte Demokratie im Naturpark
Warum wir es gestern und heute zwischenzeitlich verlassen haben, hat mit direkter Demokratie zu tun. Bei der Gründung des mit mehr als 600 Quadratkilometer größten Naturparks der Schweiz war es im „Mutterland der Volksbeteiligung“ eine Selbstverständlichkeit, die dort lebenden Menschen mit ins Boot zu holen.
Im Herbst 2010 stimmte die Bevölkerung aller Parkgemeinden über die Zukunft des Parc Ela ab. 19 von 21 entschieden sich, Teil des Naturparks werden zu wollen. Nur zwei Gemeinden entschieden sich dagegen, weil sie Einschränkungen fürchteten – unter ihnen Tinizong-Rona, zu der das lange Val d’Err gehört. Daher sieht die Karte des Naturparks etwas seltsam aus: Der große Nordteil um Tiefencastel und der kleinere Südteil rund um Bivio sind nur durch einen schmalen Korridor miteinander verbunden.
Zum Schluss unserer Drei-Tage-Tour gehen wir noch einmal eigene Wege. Vom Piz Surgonda fahren wir nicht wie meist üblich zum Julierpass hinab (wo sich auch eine Bushaltestelle für uns befände), sondern wenden uns nach Westen in Richtung Bivio. Das hat außer der erhofften Ideal- Abfahrt auch kulturelle Gründe: Mein (Künstler-)Freund Wolfgang wird beim Aufstieg zur Fuorcla digl Leget mit jedem Meter aufgeregter. Schließlich kommen wir kurz vor dem Übergang an einem spektakulären Felsentor vorbei. Dort möchte er im nachfolgenden Sommer eine große Uhr installieren, deren Zeiger im Sinne von Slowmotion langsamer tickt, je näher man ihm kommt.
Viel Zeit brauchten auch die Kräfte der Erosion, aus dem unterschiedlich kompakten Dolomitgestein einen Landschaftsbogen auf 2640 Metern Höhe zu schaffen, von dem wir alle ziemlich beeindruckt sind.
Noch einprägsamer – und das im ebenfalls sehr positiven Sinn – als der uralte Steinbogen gestaltet sich zum Schluss unserer Albula-Durchquerung die exakt 1000 Höhenmeter lange Abfahrt von der Fuorcla digl Leget (2709 m) nach Marmorera (1709 m). Die schier unendlichen Firnhänge des Val da Natons enden fast direkt an der dortigen Bushaltestelle.
Dass uns der Postbus keine Viertelstunde später zurück nach Tiefencastel bringt, war natürlich geplant.