Es ist ein herrlicher Herbsttag im Allgäu, an dem mich Christoph in seiner Werkstatt in der ehemaligen Volksschule in Vorderhindelang begrüßt. Der Raum strahlt eine tiefe Ruhe aus und ist erfüllt von Holzduft und dem Geruch alter Maschinen. Über die alte, makellos renovierte Holztreppe steigen wir in den ersten Stock, ins ehemalige Zimmer der zweiten Klasse. Heute hat Christoph hier seine Ausstellung. Wir kennen uns seit Jugendzeiten und so landen wir schnell bei seiner Familie, seiner Frau Angelica und Tochter Alba. Christoph erzählt, wie sehr er es liebt, mit seiner Familie zu klettern – dieses Jahr waren sie auf Kalymnos. Doch er hatte immer auch Phasen, teilweise über Jahre hinweg, in denen er nicht kletterte. Dann fehlte ihm der Sport auch überhaupt nicht! Nach seiner Zeit als Bundestrainer bekamen andere Lebensbereiche seine volle Aufmerksamkeit: Er gründete eine Familie, widmete sich leidenschaftlich der Kunst. Das Klettern fing er erst wieder an, als seine Tochter vier oder fünf Jahre alt war. Alba zeigte schnell Interesse am Klettern, für den Papa ein Startpunkt: Nicht nur in der Halle, sondern draußen klettern und mit Reisen verbinden und so der Tochter etwas von seinem Gefühl aus der Jugend vermitteln: Von der Freiheit und von der Möglichkeit, die schönsten Plätze der Welt zu erkunden und unkompliziert Leute kennenzulernen.
Doch wie öffnete sich für Christoph das Tor zur Kletterwelt, wo doch seine Eltern keinen Bezug dazu hatten? Die DAV-Jungmannschaft im Oberallgäu ermöglichte ihm den Einstieg. Als Teenager nahm er, anfangs gemeinsam mit seiner älteren Schwester, am Vereinsleben teil: Im Winter ging es auf Skitour und im Sommer in den Klettergarten Weihar hoch über Bad Hindelang. Am Anfang war da einfach die pure Lust am Klettersport, samt Interrail-Reisen mit wenig Geld und viel Abenteuerdrang – Wettkämpfe und eine straff durchorganisierte Förderung von Klettertalenten gab es zu dieser Zeit noch nicht. Das war für Christoph aber auch nicht von Belang, schließlich verfolgte er nie das Ziel, an Wettkämpfen teilzunehmen. „Ich war einfach viel beim Klettern, hatte vielleicht auch ein bisschen Talent und dann hat man halt mal einen Wettkampf mitgemacht.“ Dass das etwas werden könnte mit dem Wettkampfklettern, das hat er „immer zu hören gekriegt“. Anfangs hemmte ihn die Leistungssportperspektive, sagt Christoph von sich, er sei kein Wettkampftyp gewesen. Er sei lieber allein unterwegs, sein eigenes Ding machen, ohne dass jemand dabei zusieht. „Auf einmal im Mittelpunkt zu stehen und die Erwartungen zu spüren, hat mich gestresst.“ Es reichte dennoch für viele Siege auf regionaler Ebene.
Ins Wettkampfklettern reingeschlittert
Wir springen ins Jahr 1989, Christoph hatte gerade den Führerschein gemacht und fuhr nach Nürnberg. Im Rahmen der Consumenta-Messe wurden damals sowohl der Franken-Cup als auch ein Kletterweltcup ausgetragen. „Das war richtig groß aufgezogen, mit einer riesigen Entre-Prises-Wand. Eine ganze Halle für die Wettkämpfe, davon kannst du heute nur träumen. 5000 bis 6000 Zuschauer waren da vor Ort“, schwärmt Christoph. Der Franken-Cup war offen für alle, zu gewinnen gab es eine Wildcard für den Weltcup zwei Tage später. Das reizte den Allgäuer Kletterer und so übernachtete er in seinem Auto auf dem Messeparkplatz, frühstückte im offenen Kofferraum sein Müsli und gewann den Franken-Cup. Christoph war für den Weltcup qualifiziert. Und zog um ins Hotel, das erste Mal allein, mit eigenem Fernseher – für Christoph purer Luxus. Der Allgäuer wurde bei seinem Weltcupdebüt auf Anhieb Siebter. Und war von da an im Kader, fuhr gleich mit zum nächsten Weltcup nach Wien. „Damals waren noch so große Kletternamen wie Stefan Glowacz, Guido Köstermeyer und Christoph Bucher im Team.“ Er selbst sei da einfach so reingeschlittert, wie er es ausdrückt. Und irgendwann war es dann auch beim Klettertalent Finkel aus Bad Oberdorf so, dass er einen Weltcup gewinnen wollte, und er trainierte entsprechend professionell.
Rudi Klausner, damals noch beim DAV als Trainer aktiv und Visionär des modernen Sportklettertrainings, begleitete Christoph auf diesem Weg sehr intensiv. Zunächst jedoch diente Wolfgang Güllichs „Sportklettern heute“ als Trainingsvorlage, weitere Inspiration war der französische Kletterer Patrick Edlinger, dessen Film „Das Leben an den Fingerspitzen“ Christoph gierig in sich aufsaugte. Heute aber auch sagt, dass das Vorbild Edlinger im Nachhinein nicht ganz vorbehaltlos sei. Denn viele berühmte Kletter*innen verlassen sich in Christophs Wahrnehmung zu stark auf ihren Sport als alleinigen Lebensinhalt. Können die persönlichen Leistungsspitzen dann nicht mehr erreicht werden, fehlen die bisherigen sinnerfüllenden Perspektiven. „Entscheidend ist nicht, was man macht, sondern mit welchem Bewusstsein etwas gemacht wird.“
Aktuelle Ausstellung bis 16. April 2023
Christoph Finkel im Museum Penzberg – Sammlung Campendonk
Christoph ist froh, dass er seine Kunst als zweiten Lebensinhalt hat. In diese tauchte er bereits ein, als er noch Mitglied der Nationalmannschaft war. Und in Nürnberg ein Studium an der Kunstakademie für Bildhauerei begann – nicht ohne Umwege: Nach der Schule war zwar klar, dass Christoph etwas mit Holz machen wollte, schließlich verbrachte er von Kindheit an viel Zeit in der Holzwerkstatt seines Vaters, schnitzte schon in jungen Jahren erste Figuren. Handwerklich arbeiten? Unbedingt, aber auf Auftragsbasis? Auf keinen Fall! Die Holzbildhauerschule war der Plan.
Wegen eines Kletterunfalls am Schleierwasserfall mit zwei gebrochenen Wirbeln verstrichen alle Bewerbungsfristen in Deutschland. Nach der Reha versuchte Christoph es in Elbigenalp an der Holzbildhauerschule – es missglückte. Zu traditionell, zu viele Vorgaben und Figurenschnitzen? Erst im dritten Jahr! Dann halt Kunstakademie, möglichst an einem Ort, wo man auch klettern kann. Die Wahl fiel auf Nürnberg, wobei ihn die Felsen im Frankenjura nur wenig gesehen haben. Er fuhr dann doch lieber ins heimatliche Oberallgäu, an den Weihar. Dazwischen gab es immer wieder Phasen, in denen er gar nicht trainierte, ihn alle schon abgeschrieben hatten. Und dann kam er mit größter Disziplin und mentaler Stärke wieder zurück und gewann.
Die Kunst und das Klettern: Christoph liebte sein Doppelleben. An der Akademie wusste niemand, dass er 1992 als zweiter Deutscher überhaupt den Weltcup in Laval/Frankreich gewonnen hatte. Der Kletterszene hingegen blieb lange Zeit sein künstlerisches Talent verborgen. So konnte der Freigeist in beiden Welten ungeniert flanieren – ohne eine Richtung dogmatisch zu verfolgen. Zwei Dinge brannten sich ihm in dieser prägenden Phase ein: Ein Kletterer löffelte mühsam den Milchschaum vom Cappuccino ab, um Kalorien zu sparen. Für Christoph total lächerlich, genauso wie die erzwungene Bewertung von schlechten Skizzen an der Kunstakademie. „Man muss den Überblick behalten, darf sich nicht überschätzen oder gar starrsinnig und abgestumpft werden“, so Christophs Erkenntnis.
Wichtig ist für ihn, die Eigenverantwortung zu behalten und die Freiheit zu haben, auf nicht festgelegten Wegen zu gehen. „Meine Werke sind keine Auftragsarbeiten, sie erfüllen keinen Zweck. Auf die Arbeit mit Holz bezogen bedeutet das, dass man sich unterordnen muss, weil ja schon etwas gegeben ist.“ Christoph fängt mit einem Zustand an, den nicht er definiert. „Man muss mit dem Baumstamm einen Deal eingehen: Ich will etwas damit machen, und was lässt der Baum, das Material Holz zu? Man findet gemeinsam eine Lösung. Und das wiederum ist auch nichts anderes als das, was du beim Klettern machst: Du gehst an einen Felsen, siehst eine Linie und willst sie klettern. Da fängst du ja auch nicht an, Griffe zu schlagen, nur weil du es nicht besser kannst.“ In diesem Verständnis liegt der gemeinsame Kern. „Es hat Jahre gedauert, bis ich das verstanden habe. Denn auch für mich war es komisch, warum mich Kunst und Klettern so stark faszinieren. Aber im Grunde nimmst du dir einen naturgegebenen Zustand raus und versuchst, mit deinen Fähigkeiten damit etwas zu gestalten, zu erreichen – ohne dass du den Zustand zerstörst. Du musst dich unterordnen, beim Holz und dem Felsen.“
Nach der Zeit in der Nationalmannschaft wurde Christoph Bundestrainer Bouldern, dann auch fürs Klettern. Er baute den ersten Boulderkader auf und widmete sich ansonsten seiner Kunst. Erste internationale Ausstellungen, wichtige Publikationen, Ankäufe von privat und Museen sowie Kunst-Auszeichnungen folgten. 2012 verabschiedete er sich vom Wettkampfzirkus und eine Zeit lang auch komplett vom Klettersport. Jetzt gemeinsam mit seiner Familie zu klettern, findet er toll. Und seine Tochter? Die ist, so scheint’s, ein Freigeist wie er. Neben dem Klettern liest und schreibt sie, aber nichts, was man ihr aufträgt. Nur das, was sie will. Der Vater bleibt da ganz gelassen, schließlich hat er es auch nicht anders gemacht – bis heute.
Christoph Finkel: Klettern und Kunst
1992: Sieg im Deutschen Sportklettercup in Köln und Kletterweltcup in Laval
2000: Deutscher Meister im Bouldern
2002 - 2012: Bundestrainer Bouldern, ab 2004 auch Bundestrainer Klettern
1997: Oberallgäuer Kunstpreis
2001: Kulturpreis des Landkreises Oberallgäu
2014: Hessischer Staatspreis für das Deutsche Kunsthandwerk