Risiko-Glossar
Dieses Glossar erhebt nicht den Anspruch, ein und für allemal festzulegen, wie welcher Begriff zu verwenden ist und welches Denkmodell als überholt gelten sollte. Stattdessen versucht es, unterschiedliche Perspektiven darzustellen und einzuordnen – gleichzeitig jedoch deutlich zu machen, in welche Richtung das Engagement der Alpenvereine für einen „guten“ Umgang mit Risiken im Bergsport zielt: ehrlich wahrnehmen, transparent kommunizieren, verantwortlich entscheiden.
Springe zur Definition von Risiko, Wagnis, Unsicherheit, Gefahr, Chance, Eintrittswahrscheinlichkeit, Schadensausmaß, Risikomanagement, Risikokultur, Sicherheitskultur, Risikoakzeptanz, Risikoappetit, Eingangs-, Rest- und Basisrisiko, Vollkasko-/Warnwestengesellschaft, Fuzzy Logic, Statistik, Probabilistik, Heuristik, Redundanz, Lehrmeinung/Lehrempfehlung
Risiko
Für Versicherungen sind Risiken berechenbare Schadenswahrscheinlichkeiten. Sie werden quantifiziert nach dem Motto: Risiko = Schadensausmaß x Eintrittswahrscheinlichkeit. Weiß man zum Beispiel aus der Statistik von Verkehrsunfällen, dass (Achtung: angenommene Fantasiezahlen!) in einem Jahr 10.000 Autounfälle passieren (Eintrittswahrscheinlichkeit = 10.000 Fälle /Jahr) mit einem durchschnittlichen Schadenswert von 5.000 Euro (Schadensausmaß = 5.000 Euro/Fall), so muss die Versicherung zur Abdeckung dieses Risikos 10.000 Fälle/Jahr x 5.000 Euro/Fall = 50 Mio Euro/Jahr bereithalten (also durch Prämien einnehmen).
Beim Bergsteigen ist leider oft das Schadensausmaß nicht bezifferbar (wie viel ist mir Leben oder Gesundheit wert?) und auch die Eintrittswahrscheinlichkeit für einen konkreten Fall lässt sich kaum kalkulieren. Deshalb sollte man im Bergsport eher von Unsicherheit sprechen.
Eine grundsätzlichere Betrachtung des Begriffs Risiko argumentiert so: Berge sind, wie sie sind: Sie zerbröckeln unter der Erosion; Steine, Eis und Lawinen fallen herunter; es kann regnen oder gewittern … Brechen Menschen in die Berge auf, werden diese neutralen Eigenschaften der Berge für sie zu Gefahren: Man kann von Steinschlag oder Blitz getroffen werden. Auf diese Gefahren kann man reagieren: bewusst oder unbewusst, durch Ignorieren oder Verhaltensanpassung (Ausweichen, Sicherungsmaßnahmen) – damit machen wir aus der menschenunabhängigen „Gefahr“ ein „Risiko“, das konkrete Akteur*innen betrifft.
Eine interessante Betrachtungsweise visualisiert die chinesische Schrift: Dort ist das Schriftzeichen für „Risiko“ zusammengesetzt aus den Zeichen für „Gefahr“ und „Chance“. Bergsportler*innen setzen sich Gefahren normalerweise nicht mutwillig oder lebensmüde aus, sondern weil sie etwas „gewinnen“ wollen: Erfolg an einem Gipfel oder einer Route, sportliches Erleben, Landschaftsgenuss … – ihre „Chance“. Wieviel Gefahr für welche Chance man in Kauf zu nehmen bereit ist, ist eine Abwägung, die man für sich selbst treffen muss – so wie man beim Kredit fürs Eigenheim abwägt, wie sicher der Job ist, mit dem man ihn abzahlt.
Der Schweizer Lawinenforscher, Bergführer und Philosoph Werner Munter revolutionierte in den 1990er Jahren die Lawinenausbildung mit seiner „Reduktionsmethode“ als Werkzeug zur Entscheidungsfindung und Risikokontrolle. Darin vergab er Zahlenwerte für bestimmte Lawinensituationen und unterschiedliche Verhaltensmaßnahmen, etwa den Verzicht auf Steilhänge oder bestimmte Himmelsrichtungen. So errechnete er ein „Risiko“ nach dem Prinzip: Risiko = Gefahr / Verhalten oder auch Risiko = Natur / Mensch.
Unsicherheit
Im DAV-Risikosymposium von 2014 wurde darauf hingewiesen, dass eine Quantifizierung von Risiken, wie sie die Versicherungswirtschaft leisten muss, beim Bergsport nicht möglich ist. Denn sowohl für die Gefahren wie auch für die Chancen wird man hier normalerweise keine Zahlenwerte angeben können. Dies unter anderem deshalb, weil die handelnde Person keine statistische Angabe akzeptieren will, sondern wissen möchte, ob es ihn oder sie bei der konkret anstehenden Tour „erwischt“ oder nicht. Und weil dabei so viele Unwägbarkeiten eine Rolle spielen, dass letzten Endes immer ein „Restrisiko“ bleiben wird – eben eine „Unsicherheit“.
Wer verstanden hat, dass man im Bergsport nicht alles im Griff haben kann, wer die prinzipielle Unsicherheit als Basis seines Handelns akzeptiert, wird im Idealfall aufmerksamer und demütiger agieren und reagieren. Die klassischen Methoden und Entscheidungshilfen des Risikomanagements darf man deshalb trotzdem nutzen – aber man wird sich vielleicht weniger leicht von einem falschen Sicherheitsgefühl einschläfern lassen.
Wagnis
Der Philosoph Dr. Siegbert Warwitz versteht unter dem Begriff „Risiko“ ein unbewusst oder unverantwortlich überhöhtes Verhältnis von Gefahren gegenüber Chancen bei bestimmten Aktionen. Als positives Ideal stellt er ihm das „Wagnis“ gegenüber und verweist auf dessen Wortstamm aus dem Verb „abwägen“ – also dem Bemühen um angemessene Balance, etwa nach dem Motto „das Können ist des Dürfens Maß“. Nach Rilkes Bild von den „wachsenden Ringen“ gehört für Warwitz das Eingehen von Wagnissen zu einem gesunden menschlichen Entwicklungsprozess zwingend dazu; er behauptet sogar, dass wagnisscheue Personen und Gesellschaften stagnieren, degenerieren, langfristig scheitern.
So wird das „Wagnis“ als „Risiko auf gesundem Niveau“ selbst zu einem Wert, zu einer Chance, das Eingehen angemessener Risiken zu einem wertvollen Selbstzweck.
In der Risikodiskussion der deutschsprachigen Alpenvereine hat sich der Wagnisbegriff nicht durchsetzen können. Das liegt wohl auch daran, dass der Schweizer Alpenclub (SAC) daran beteiligt ist – und dass in der Schweiz der Begriff Wagnis eine genau gegenteilige Bedeutung hat: Dort steht er gerade für das „zuviel gewagt“, für das unverantwortlich überhöhte Risiko. Ein Beleg dafür, wie vieldeutig die Begriffe in der Risikodebatte sind.
Gefahr
Unter Gefahr im Zusammenhang mit Bergsport kann man eine Bedrohung für die Unversehrtheit von Seele, Körper und materiellen Werten verstehen. So kann Steinschlag den Kopf spalten (evtl. letal) oder nur den Helm (80 Euro). Ein Fehler beim Sichern kann den*die Seilpartner*in verletzen, aber auch lebenslang ein schlechtes Gewissen verursachen.
In der klassischen Bergsporttheorie wird unterschieden zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Gefahren. Objektive Gefahren gehen vom Objekt, dem Berg, aus – wie Steinschlag, Gletscherspalten, Blitzschlag. Subjektive Gefahren liegen im handelnden Subjekt, dem*der Bergsportler*in, begründet – etwa Mängel an Können, Kondition oder Planung. Zweifelsohne: Eine ehrliche Betrachtung zeigt, dass die objektiven „Gefahren“ nur zu Gefahren werden, wenn man sich ihnen aussetzt; die Unfallforschung zeigt, dass viele derartige Unfälle durch vorausschauendes Verhalten hätten vermieden werden können. Letzten Endes bleibt der Mensch für sich selber die größte Gefahr – die Unterscheidung zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Gefahren sagt dann lediglich, ob man den wachsamen Blick nach innen, in den Spiegel oder ins Gelände richten muss.
Chance
Eine Chance ist die Möglichkeit für ein willkommenes oder gewünschtes Ereignis. Im bergsportlichen Zusammenhang wird man darunter verstehen, was Menschen zur Aktivität bewegt: Erfahrungen von Selbstwert und Selbstwirksamkeit, sportlicher Erfolg, ästhetisches und kinästhetisches Erleben, soziale Interaktion, Naturgenuss, spirituelles Empfinden, Abstand zum Alltag… Möglicherweise hält die befriedigende Wirkung dieser Motivationen unterschiedlich lange an; tendenziell sind intrinsische Motivationen (z.B. Bewegungsfreude) langfristiger erfüllend als extrinsische (z.B. Leistungsvergleich). Fest steht aber, dass keine Motivation zum Bergsport per se wertvoller oder weniger wert ist als andere. Und die Abwägung, wieviel Gefahr man eingehen möchte, um eine bestimmte Chance (motivierender Wert) zu realisieren, ist eine eigenverantwortliche Abwägung und Entscheidung jedes Einzelnen, die nicht von externen Instanzen in Frage gestellt werden darf. Grenzen stecken hier erst die persönlichen Befindlichkeiten betroffener Dritter.
Eintrittswahrscheinlichkeit
Wie wahrscheinlich ein bestimmtes Ereignis ist, lässt sich relativ leicht beziffern, wenn man häufig wiederholte Phänomene statistisch auswerten kann: Die Wahrscheinlichkeit, im Lauf eines Jahres an Krebs oder durch einen Verkehrsunfall zu sterben, ergibt sich beispielsweise aus der Zahl der Toten in Deutschland geteilt durch die deutsche Bevölkerung. Aber was nutzt diese Zahl? Ich kann genauso gut morgen überfahren werden wie nie (natürlich muss ich irgendwann sterben, aber vielleicht an Herzinfarkt statt an Krebs oder durch Unfall). Eine individuelle, konkrete Ja-Nein-Aussage für einen bestimmten Zeitpunkt lässt sich aus dieser Wahrscheinlichkeit nicht ableiten. Ob ich auf diese Wahrscheinlichkeit Einfluss nehmen kann, ist wohl noch schwieriger zu quantifizieren: Um wieviel Prozent sinkt mein Krebsrisiko durch Verzicht aufs Rauchen? Kann ich mein Unfallrisiko durch langsames Fahren senken? Um wieviel? Für solche Vergleiche wäre es nötig, ausreichend große Stichproben von Menschen kontrolliert gleichen Bedingungen auszusetzen und dann Letalitäten auszuzählen. Das ist meistens nicht möglich, und oft moralisch nicht vertretbar. Ein Skitourengeher weiß zwar, dass von Hängen gleicher Steilheit und Himmelsrichtung bei Lawinenwarnstufe 3 ungefähr doppelt so viele bei Befahrung als Lawine abgehen wie bei Stufe 2. Aber eine rein statistische Betrachtung wird ihm nie einen Ja-/Nein-Wert für die Stabilität eines konkreten Hanges liefern.
Schadensausmaß
Eine Kernkompetenz von Versicherungen ist die Quantifizierung möglicher Schäden – die Nase eines Filmstars kostet höhere Prämien als die eines Boxers, weil ihre Unversehrtheit mehr wert ist, auch wenn sie deutlich weniger bedroht ist. Wie aber können Menschen, Bergsportler ihre individuellen Werte be“wert“en? Wenn man im Steilwandbiwak den Kocher runterwirft, ist ein finanzieller Wert von vielleicht 100 Euro im Abgrund verschwunden. Kann man deshalb kein Wasser schmelzen und erfriert sich wegen Dehydrierung die Finger, tut das vor allem weh – ist man Geiger oder Chirurg, kann die Berufseinschränkung auch finanzielle Einbußen bedeuten. Sind die erfrorenen Finger am nächsten Tag schuld daran, dass man beim Abstieg das Drahtseil nicht festhalten kann und tödlich abstürzt, ist der höchste Wert betroffen, das menschliche Leben. Und war es der Seilpartner, der wegen der erfrorenen Finger abgestürzt ist, wird man sich womöglich ewig Vorwürfe machen, den Kocher runtergeworfen zu haben. Alle Schädigungen jenseits rein materieller Werte, also an „Leib und Leben“, entziehen sich einer objektiv gültigen Quantifizierung. Der Betroffene oder seine Familienangehörigen werden sie anders gewichten als Seilpartner oder Unbeteiligte. Wohl noch schwieriger ist eine neutrale Abwägung gegenüber den ebenfalls schwer quantifizierbaren -> „Chancen“ beim Bergsport: Der Everestgipfel ist mir drei erfrorene Zehen wert, aber nicht vier? Versicherungen werden freilich trotzdem Schäden beziffern – und bei Verdacht auf schuldhaftes Handeln Schadenersatz einfordern; selbst wenn der Seilpartner großzügig darauf verzichten würde, wird seine Krankenkasse nicht auf den Behandlungskosten sitzen bleiben wollen und Regress verlangen.
Risikomanagement
Management bedeutet planmäßiges Beeinflussen von Systemen hin zu gewünschten Zuständen. In unserem Zusammenhang würde Risikomanagement also bedeuten: Ich analysiere alle Risikofaktoren einer bergsportlichen Aktion, wäge Gefahren und Chancen (Wünsche, Werte) ab und steuere mein Verhalten (und das meiner Gruppe) so, dass das resultierende Risiko unterhalb eines akzeptierten Niveaus bleibt.
Diese Argumentation scheitert an etlichen Fehlannahmen, z.B.:
Es ist unwahrscheinlich, dass ich wirklich sämtliche Risikofaktoren erfasse (Begrenztheit und Fehlerhaftigkeit menschlicher Wahrnehmung)
Eine objektive Quantifizierung von Gefahren und Chancen ist nicht möglich
Noch schwieriger ist die Quantifizierung der risikomindernden Wirkung bestimmter Verhaltensmaßnahmen
Menschen sind fehlbar; also ist es nicht sicher, dass alle Beteiligten die gewünschten Verhaltensmuster stabil produzieren
Ein wichtiger Bestandteil von Management, nämlich die Evaluation der Wirksamkeit, ist im Bergsport nicht möglich, weil man nur einmal pro Situation die Chance zu handeln hat. Und nicht zum Beispiel die Gruppe einmal mit, einmal ohne Fixseil die steinschlaggefährdete Schneerinne queren lassen kann
Das soll natürlich nicht zu dem Fehlschluss verleiten, man könne sich alle „Risikomanagement“-Maßnahmen sparen. Der gesunde Menschenverstand, die „alpine Erfahrung“ und diverse Faustformeln und Entscheidungshilfen genügen in den meisten Fällen aller durchgeführten Bergtouren, sodass Unfälle eine seltene Ausnahme sind. Wenn der Begriff von Risikoexpert*innen heute eher kritisch betrachtet wird, dann vor allem deshalb, weil er nicht zu trügerischem Sicherheitsdenken verleiten soll. Die mögliche Einstellung „wir haben alles im Griff, weil wir Risiken managen“ ist gefährlich; eine gesunde Risikokultur lebt nach dem Leitsatz: „Letztlich haben wir zwar nichts völlig im Griff, aber wir bemühen uns soweit wie möglich darum“.
Risikokultur
Seinen Vortrag beim DAV-Risikosymposium 2014 fasste der Risikoforscher Dr. Bernhard Streicher in DAV Panorama 2/15 (S. 58 ff) unter dem Titel zusammen: „Neue Risikokultur statt Heldenepos“. Als Risikokultur bezeichnete er dabei die gesellschaftliche Übereinkunft, wer welche Risiken wie eingehen darf. Die Grundhaltung dieser angesagten neuen R. ist eine Absage an eine -> „Sicherheitskultur“, die suggeriert, es könne 100% Sicherheit geben. Denn Material, seine Funktion und vor allem der Mensch können immer versagen, „Unsicherheit und Risiko sind Wesensmerkmale des Systems Bergsport, Sicherheit nicht“. Eine gesunde Risikokultur basiert auf Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Information (Personen, bei denen das nicht voll gegeben ist, wie Anfänger oder Kinder, brauchen Anleitung und Hilfe). Sie wird keine absoluten Grenzen für ein „vertretbares“ Risiko setzen, sondern immer die Kompetenz der Handelnden und ihre Sportdisziplin (Sportklettern? Eisklettern? Höhenbergsteigen?) und Motivation in Betracht ziehen und respektieren. Streicher: „In Kletterhallen wird ein anderer Umgang mit Gefahren erwartet als bei Erstbegehungen an hohen Bergen.“ Die Aufgaben, denen sich die Alpenvereine stellen müssen, sind dann: - Information der Akteure über „Risiken und Nebenwirkungen“ ihrer Disziplin. - Entwicklung und Bereitstellung von Empfehlungen und Entscheidungsfindungshilfen für Akteure, die sich daran orientieren möchten. - Gesellschaftliches Eintreten für Akzeptanz gegenüber eigenverantwortlich getroffenen Risiko-Entscheidungen – auch wenn sich das Gefahrenpotenzial realisiert hat.
Sicherheitskultur
In der Diskussion beim DAV-Risikosymposium 2014 wurde der Begriff „Sicherheitskultur“ als Schlagwort für eine ungünstige Einstellung aufs Korn genommen, die postuliert, man könne alles im Griff haben und 100% Sicherheit schaffen. Viele Touristiker oder Bergsportveranstalter werben mit dem Begriff „Sicherheit“, der gleichzeitig gerne mit dem komplett gegenteiligen „Abenteuer“ kombiniert wird: „das sichere Abenteuer am Klettersteig“. Zusammen mit einem unbedarften oder ignoranten Blick auf Gefahren im Bergsport wirkt der Glaube, dass absolute Sicherheit schaffbar sei, sogar risikoerhöhend. Ganz abgesehen davon, dass eventuelle Fehler, die nie völlig zu vermeiden sein werden, angesichts eines im Raum stehenden Sicherheitsversprechens viel härter sanktioniert werden dürften. Werden beispielsweise Bergsportneulinge mit der unterschwelligen Botschaft angelockt, Hallenklettern sei absolut „sicher“, so wird womöglich ein gesunder Respekt gedämpft; eine gewisse Angst wird gemindert, die als Einstiegsschwelle andernfalls motivieren könnte, das notwendige Handwerk des Sicherns gründlich zu lernen. Eine vorgegaukelte Sicherheit kann so zu mehr Gefahr führen – wie wenn man mit ABS und ESP die PS ausreizt oder mit Lawinenballon in jeden Hang fährt.
Risikoakzeptanz
Akzeptanz ist immer eine bewusste Entscheidung; der Begriff ist also nur relevant, wenn man sich mit Risiken beim Bergsport transparent auseinandersetzt. Er kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Die Risikoakzeptanz des Akteurs ist das bewusste „Ja“ zum Verhältnis von -> Gefahr und -> Chance in einer gegebenen bergsportlichen Situation. Dabei wird immer die individuelle Werte-Abwägung entscheiden, aber auch Persönlichkeitsmerkmale wie höhere oder geringere Risikobereitschaft. Mancher mag ein Mehr an Gefahren akzeptieren, wenn es um ein besonders wertvolles Ziel geht (Traumtour) oder im Bewusstsein souveräner Kompetenz. Andere mögen schon bei geringen Ungewissheiten zum Plan B greifen, etwa in die Kletterhalle gehen statt auf die Berghütte, wenn mögliche Hitzegewitter angesagt sind – wodurch sich dann ein Risiko für den Hüttenwirt negativ realisiert, der für die bestellte Halbpension frisches Gemüse besorgt hat… Zumindest sofern niemand anders geschädigt wird, sollte die Gesellschaft auch Risikoakzeptanz für individuell begründete Entscheidungen aufbringen. Das ist leider nicht immer gegeben: Ein Absturz beim Soloklettern wird oft harscher kritisiert als von einem Wanderweg, auch wenn der Solokletterer womöglich bestens trainiert lediglich Opfer des hohen -> Restrisikos wurde, der Wanderer aber völlig überfordert bei miserabler Wettervorhersage die einzige Absturzmöglichkeit eines leichtes Weges genutzt hat. Wer Akzeptanz einfordert, sollte sich freilich auch ihrer würdig verhalten: und in seinem bergsportlichen Verhalten eine eigenverantwortete -> Risikokultur leben, die auf guter Information, realistischer Selbsteinschätzung und demütiger Entscheidung beruht.
Risikoappetit
Dieser Begriff aus der Finanzwelt wird dort quasi als Synonym für Risikoakzeptanz verwendet. So wie Zinsen die Währung für Kreditrisiken sind, gilt im Prinzip, dass hohe Erträge nur mit hohen Verlustrisiken zu gewinnen sind und dass risikoarme Anlagen weniger rentieren. Bei Investitionsentscheidungen in großen Firmen wird ein maximal akzeptierter Risikoappetit vom Management vorgegeben; Aufgabe der Investoren ist es dann, entsprechend dieser Vorgaben und rechnerisch abgesichert das Beste herauszuholen.
Eingangs-, Rest- und Basisrisiko
Eine Dreiergruppe von Begriffen, die nicht eindeutig definiert und entsprechend heftig diskutiert sind. Man könnte mit ihnen aber die Probleme von Risiko und Unsicherheit ganz passabel visualisieren. Dazu heißt es zunächst zu unterscheiden zwischen Risikofaktoren, auf die man Einfluss nehmen kann (persönliches Können, Ausrüstung, Zeitplan…), und solchen, die man nicht ändern kann (Hangsteilheit, Wetter, Gletscher…). Die unbeeinflussbaren Faktoren einer konkreten Bergtour kann man dann als „Basisrisiko“ bezeichnen: Wenn man sich auf die Unternehmung einlässt, muss man diese Risiken akzeptieren, weil man nichts dagegen tun kann. Klar ist, dass das Basisrisiko komplexer Unternehmungen (Eisklettern, Höhenbergsteigen) höher ist als bei vergleichsweise einfachen oder schlichten Disziplinen (Wandern, Hallenklettern). Stellt man sich das Risikoniveau der Bergtour als Säulendiagramm vor, so baut sich auf dem Basisrisiko (aus den unbeeinflussbaren Risikofaktoren) noch etwas auf: die Summe der beeinflussbaren Faktoren. Die Höhe der gesamten Säule ist nun zunächst das „Eingangsrisiko“, auf das man sich bei der Entscheidung für die konkrete Tour einlässt und mit dem man sich im Folgenden auseinanderzusetzen hat. Auch das Eingangsrisiko wird bei komplexeren Disziplinen höher sein als bei anderen. Durch das Verhalten vor und auf der Tour (möglichst im Sinne eines -> Risikomanagements) werden die beeinflussbaren Risikofaktoren – ja genau: beeinflusst. Also möglichst gemildert; bei Fehlentscheidungen allerdings womöglich auch verschärft. Die Höhe der Säule, die sich als Resultat des Verhaltens ergibt, ist das „Restrisiko“, also was real bleibt. Es wird (hoffentlich) unter dem Eingangsrisiko liegen, kann aber nie unter dem Basisrisiko liegen. Und es hängt nicht direkt von der Komplexität des Unternehmens ab: Wer gut und sauber arbeitet, kann womöglich eine schwierige Achttausenderwand mit weniger Restrisiko durchsteigen als jemand, der unvorbereitet bei schlechten Bedingungen in den Jubiläumsgrat einsteigt. Zumindest gibt es etliche unfallfreie Durchsteigungen der Shishapangma-Südwand, während am Jubiläumsgrat an jedem Sommerwochenende Leute ausgeflogen werden (was dann das konkrete Ergebnis einer Tour ist, nicht direkt das statistische Risiko, das bestand). Gutes Risikomanagement (in dem Sinn, wie unter dem Schlagwort ausgeführt) kann also das Restrisiko einer Tour markant senken. Aber die Aussage „100% Sicherheit gibt es nicht“ wird durch den Säulenanteil des Basisrisikos visualisiert, der für die „Unsicherheit“ steht – des Lebens, des Bergsports und seiner Disziplinen.
Vollkasko-/Warnwestengesellschaft
Zwei Begriffe, die gesellschaftliche Tendenzen kritisieren, Risiken mit aller Gewalt minimieren zu wollen – und dabei zu vergessen, dass Leben prinzipiell lebensgefährlich ist („eine sexuell übertragbare Krankheit mit 100% Letalität“). Der Vollkaskomensch möchte für jeden Fall gewappnet und rückversichert sein. Und wenn doch etwas passiert, muss man doch jemanden dafür verantwortlich machen und zu Rechenschaft und Schadenersatz heranziehen können! Der Warnwestenmensch lässt sein Kind nur mit Warnweste und Helm Roller fahren, und nur auf befestigten Wegen aus Fallschutzgranulat im Stadtpark. In die Schule wird es mit einem panzerähnlichen 2,5-Tonnen-Auto gefahren, das seinerseits eine Bedrohung für jeden anderen Verkehrsteilnehmer ist und doppelt so viel Benzin verbrennt wie ein normales. Was der Warnwestenmensch dabei vergisst, ignoriert oder nie gelernt hat: Unfallstatistiken belegen, dass Kinder, die immer in die Schule gefahren werden, wesentlich mehr Verkehrsunfälle erleiden als solche, die den Weg eigenverantwortlich zurücklegen – weil diese dabei lernen, Gefahren zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Kurz: Es gibt kein Leben in der Gummizelle! Natürlich muss dem Satz „Life begins at the edge of your comfort zone“ entgegengehalten werden, dass der Umgang mit Gefahren und das Testen und Erweitern eigener Grenzen eine anspruchsvolle Aufgabe ist, die viel Fingerspitzengefühl braucht – und bei dem oft Helfer (Eltern, Trainer, Coach) wertvoll sein können.
Fuzzy Logic
Ein mathematischer Begriff aus der Regelungstechnik. Dabei werden keine festen Zahlenwerte verwendet, sondern Größen mit Bandbreiten, die man nach bestimmten Rechenverfahren verarbeitet, um in komplexen Systemen stabilere und zuverlässigere Steuerungsergebnisse zu erreichen. Die Bandbreiten-Werte interferieren sozusagen miteinander und heben sich gegenseitig auf, bevor Extremwerte zu heftigen Überreaktionen des Systems führen könnten. Der Schweizer Lawinenforscher und Philosoph Werner Munter führte den Begriff Fuzzy Logic ins Risikomanagement ein, als er für seine „Neue Lawinenkunde“ forderte, in „Bandbreiten“ und mit „Faustformeln und Daumenregeln“ zu arbeiten. Man könnte diese Idee als Reverenz an die „Unsicherheit“ werten: Wenn ich’s nicht genau wissen kann, muss ich versuchen, aus vielen halbgaren Informationen eine einigermaßen passende Entscheidung zu destillieren. Tatsächlich funktioniert das in der bergsportlichen Praxis oft gar nicht so schlecht: - „Der Fels ist mittelprächtig, das Wetter sieht ein bisschen nach Regen aus, aber wir sind ganz ordentlich im Zeitplan und noch halbwegs frisch – wird schon passen.“ - Oder: „Die Sonne schaut gelegentlich noch durch, der Schnee ist ziemlich griffig, aber das Frühstück liegt mir schräg im Magen und der Rucksack fühlt sich heute so schwer an – ich glaube, so wichtig ist mir der Gipfel heute nicht, lass uns umdrehen!“
Statistik
Welche der folgenden Aussagen dürfte am ehesten zutreffen? Drei von vier Menschen verstehen wenig von Statistik. Jeder vierte Bundesbürger kommt mit statistischen Fragen zurecht. Dreiviertel der Leser interpretieren statistische Aussagen nicht korrekt. 25 Prozent der Bevölkerung können einigermaßen statistisch denken. Haben Sie eine Entscheidung getroffen? Ach so, da steht überall das gleiche? Dann gehören Sie vielleicht zu dem Viertel, das Statistik versteht… Verständnis ist das erste Problem von statistischen Aussagen. Wenn ich durch den Kauf eines 1000-Euro-Anoraks mein Risiko, bei Regen nass zu werden, halbieren kann, klingt das gut, ist aber in der regengeschützten Kletterhalle wenig relevant; und im tropischen Regenwald auch nicht wirklich. Werden Risikomanagement-Maßnahmen mit statistischen Werten begründet, ist ihr Praxiswert für viele Akteure schwierig nachzuvollziehen und einzuschätzen. Das Grundproblem statistikbasierter Verhaltensentscheidungen: Statistik braucht große Datenmengen. Wenn alle Skitourengänger zehn Jahre lang bei Lawinenwarnstufe 3 auf Steilhänge im Sektor Nord verzichten, wird sich die Zahl der Opfer wahrscheinlich deutlich verringern. Aber einer von ihnen mag im ersten Winter bei Stufe 1 im flachen Südhang verschüttet werden – und ein Ignorant kann in diesen zehn Jahren womöglich jeden Nordhang fahren und davonkommen. Für den Einzelfall gibt die Statistik leider keine eindeutig gültige Aussage.
Probabilistik
Schlagwort zu einem -> Risikomanagement bezüglich Lawinen bei Skitouren, das sich primär auf -> statistikbasierte Aussagen stützt. Und damit zwar wahrscheinlich langfristig zu geringeren Unfallquoten beitragen kann, aber keine Aussage zur Stabilität konkreter Einzelhänge liefert. Heute wird der Vorteil probabilistischer Methoden allgemein eher in der Planungsphase zu Hause gesehen und für Menschen, die sich nicht zu tief in die Materie einarbeiten wollen. Für die Entscheidung vor Ort nutzen Experten gerne auch ergänzend die „analytische“ Lawinenkunde, die die Stabilität der Schneedecke zu ergründen versucht.
Heuristik
Schlagwort für den Versuch, mit begrenztem Wissen und meist basierend auf Erfahrung in möglichst schneller Zeit zu guten Entscheidungen zu kommen. Vor dieser Aufgabe steht man meistens in der bergsportlichen Praxis vor Ort, wobei die Konsequenz von Fehlentscheidungen unterschiedlich direkt und heftig ausfallen kann: Das Schnappen nach einem Griff, der keiner ist, führt oft zum Sturz (möglichst ins Seil); die Abfahrt ins falsche Kar im Nebel kann etwas später einen mühsamen Wiederaufstieg bedeuten. Heuristische Entscheidungsmethoden lassen sich nicht leicht formalisieren und in Rezepte gießen, ihre Qualität wächst mit dem Erfahrungsschatz. Wobei „Erfahrung“ nicht die beim Bergsport verbrachte Zeit ist, sondern vor allem das, was man dabei wahrgenommen und bewusst verarbeitet hat, inklusive Manöverkritik nach Heimkehr.
Redundanz
Ein wertvolles Werkzeug im Risikomanagement: eine „überflüssige“ Absicherung, ein „doppelter Boden“, eine „Hintersicherung“. So sind beim Begehen von Klettersteigen immer beide „Äste“ des Klettersteigsets im Drahtseil eingehängt; sollte bei einem Sturz in die Verankerung ein Karabiner brechen, hält der andere. Beim Topropeklettern am Volksfest-Kletterturm werden die Kletternden mit fixem Knoten und zwei gegenläufigen Karabinern eingehängt, damit nicht beim Einbinden ein Knoten falsch geknüpft werden kann. Ein Zwillingsseil bietet die Sicherheit eines zweiten Seilstrangs, falls einer von einer scharfen Felskante beim Sturz durchtrennt wird. Der Nutzen von Redundanz muss freilich immer abgewogen werden gegenüber der Machbarkeit (HMS-Sicherung mit zwei Karabinern ist unmöglich) und dem Zeitaufwand: Bei einer langen, komplexen alpinen Tour wird man vielleicht auch einmal an einer einzigen, soliden Eisschraube Stand machen, wenn das Gelände relativ leicht ist, statt noch eine zweite Schraube zu setzen und eine Reihenschaltung aufzubauen. Die -> Chance Zeitersparnis und die geringe -> Eintrittswahrscheinlichkeit eines Sturzes im leichten Gelände können dann dazu führen, dass das resultierende Risiko geringer ist als Komplikationen durch Dunkelheit und Wetter bei Zeitverlust durch lehrplangerechten Standplatzbau. Solche Abwägungen brauchen natürlich ihrerseits erhöhte Kompetenz für die Komplexität der Situation. Im Zweifelsfall ist man „auf der sicheren Seite“, wenn man prinzipiell redundant arbeitet und sich an -> Lehrempfehlungen hält.
Lehrmeinung/Lehrempfehlung
Standards, die in der Ausbildung der alpinen Vereine vorgegeben werden, um vor allem sicherungstechnische Abläufe im Sinne eines „guten“ Risikomanagements zu strukturieren. Sie dienen einer Homogenisierung der Ausbildung (damit in Sektion A vergleichbar ausgebildet wird wie in Sektion B) und geben Lernenden ein klares Handlungsschema, an dem sie sich orientieren können. Durch den moderneren Begriff „Lehrempfehlung“ wird ausgedrückt, dass es keine Gesetze sind, sondern immer ein aktueller Zwischenstand in dem Entwicklungsprozess, den der Alpinismus durchmacht: Neue Ausrüstungsgegenstände, Fehlbedienungen oder Unfallmuster können eine Anpassung der Empfehlungen nahelegen. Die Diskussionen und Entscheidungen dazu laufen in den mit Ausbildung befassten Gruppen und Gremien der Vereine. Im DAV symbolisiert oft eine „Ampel“-Einstufung, dass es verschiedene Möglichkeiten zum Lösen einer bergsportlichen Aufgabe geben kann, die jeweils Vor- und Nachteile haben. „Grün“ steht dann für die derzeit als optimal eingeschätzte Lösung, „rot“ bezeichnet Methoden, von denen wegen höheren Risikos oder mehr Unsicherheitsfaktoren abgeraten wird – ohne damit zu sagen, dass sie zwangsläufig zu einem Unfall führen müssen. Mit wachsender Kompetenz werden Fortgeschrittene eigenverantwortlich entscheiden lernen, ob und warum sie Methoden verwenden möchten, die von der Basisempfehlung abweichen. Anfänger werden dankbar sein für die Lehrempfehlung als „gutes Grundmuster“, mit dem sie prinzipiell nichts falsch machen.
Das vollständige Glossar des Autors Andi Dick gibt's hier zum Download.
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