Bereits in der Früh wecken die kompostierbaren Kaffeepads einen ersten Verdacht, der sich nach einem wunderbaren Skitourentag durch die Bio-Teebeutel im Sauna-Ruheraum erhärtet. Die Almbergers geben sich ziemliche Mühe, unser Basislager im Obernbergtal möglichst umweltschonend zu betreiben. Nach vielen, vielen Jahren haben wir uns endlich wieder zu diesem westlich der Brenner-Autobahn gelegenen Kleinod aufgemacht. Und hatten – das soll hier nicht verschwiegen werden – gemischte Gefühle. Angst vor Lawinen treibt uns angesichts Stufe eins freilich nicht um. Vielmehr machen wir uns Sorgen, ob der Talboden zwischen dem kleinen Vinaders und dem gewaltigen Tribulaun immer noch so schön ist wie damals. Als wir das letzte Mal die Ski abschnallten.
Genau dort, wo sich das zu Beginn noch enge Tal öffnet, lösen sich alle Bedenken in großer Vorfreude auf. Charaktervolle Weiler mit alten Bauernhöfen säumen nach wie vor den Weg zur Barockkirche Heiliger Nikolaus, dem unumstrittenen Wahrzeichen des von lichten Lärchenwäldern eingerahmten Tales. Wir atmen auf. Im Gegensatz zum benachbarten Pflerschtal, wo in den letzten Jahren wohl wegen des Liftzubringers zum Skigebiet Roßkopf große Hotels gebaut wurden, hat das Obernbergtal bis heute einen Charakter bewahrt, dem nicht wenige verfallen. "Ich habe das Tal über die Steineralm des Schwiegervaters kennengelernt und war sofort von seiner Schönheit fasziniert", sagt Seppi Almberger, der vor zwölf Jahren zusammen mit seiner Frau Burgi ein freigewordenes Hotel in Obernberg kaufte. "Leicht war der Anfang nicht. Die ersten Jahre hatten wir fast gar keine Gäste", erinnert sich die nette Wipptalerin. Damals hätte das Qualitätssiegel der ÖAV-Bergsteigerdörfer dem jungen Gastronomenpaar sehr geholfen. Zumal das Obernbergtal die strengen Kriterien des Alpenvereins mit Sicherheit erfüllt hätte. Doch die Mehrheit der Einwohner war – aus welchen Gründen auch immer – gegen eine Bewerbung, so dass die Almbergers nicht weiter darauf drängten. Schließlich steht das Obernbergtal – auch ohne das etablierte Label für sanften Bergtourismus – nach Seppis Meinung für den richtigen Weg: "Wir haben im Tal wenig Infrastruktur. Die Leute müssen sich einfach mit ‚Natur pur‘ beschäftigen."
Natur pur für Outdoorfans
Und glücklicherweise wird dieser Punkt vielen Gästen immer wichtiger. Das war aber nicht immer so. Es gab Zeiten, da lebten im Obernbergtal 25 Skilehrer, die mit ihren Kund*innen in die umliegenden Skigebiete fuhren, erzählt Seppi: "Die Kundschaft war fast schon elitär. Es gab beispielsweise reiche Industrielle oder Anwälte aus dem Kölner Raum." Doch als diese älter wurden, kam kaum Tourismusnachwuchs nach. Die Kinder der früheren Gäste orientierten sich in den achtziger Jahren weg vom naturbelassenen Obernbergtal hin zum touristisch hoch erschlossenen Stubaital. Mittlerweile gibt es erfreulicherweise einen gegenläufigen Trend. Immer mehr Menschen suchen ein "bewusstes, ganzheitliches Naturerlebnis mit körperlicher Anstrengung, (…) Genuss der alpinen Naturschönheit und Entschleunigung", wie es auch der Alpenverein in seiner "Tourismusphilosophie" der Bergsteigerdörfer schreibt.
Genau das finden die Menschen im Obernbergtal. Links und rechts des Seebachs buhlen gut zehn attraktive Wintergipfel um die Gunst von Skitouren- und auch Schneeschuhfans. Sämtliche Schwierigkeitsstufen sind hier vertreten: Vom Talbeginn mit den Einsteigertouren Egger-, Leitner- und Sattelberg über mittelschwere Ziele wie Gruben- oder Muttenkopf bis zum anspruchsvollen, den Talschluss dominierenden Obernberger Tribulaun. Wer es ganz gemütlich angehen möchte oder eine Alternative für einen Schlechtwettertag sucht, wandert am Seebach entlang alter Mühlräder zu beeindruckenden Tomahügeln – Hügel, die aus Geröll eines Bergsturzes bestehen. Etwa 40 davon gibt es in der Region und auf einem steht die Pfarrkirche Heiliger Nikolaus.
Dass sich auch die Obernberger in ihrem Tal sehr wohl fühlen, macht eine konstante Einwohnerzahl von 360 deutlich. Das ist auch dank des kleinen Dorflifts so: "Hier treffen sich im Winter nach der Schule fast alle Schulkinder", weiß Burgi. Und auch wenn die Kids dann erwachsen sind, bleiben viele von ihnen hier. Die Verkehrsanbindung ist gut, mit Bus und Bahn ist man in nur einer Stunde zum Studieren oder Arbeiten in Innsbruck. Von dort kommt auch das Gros der der Leute für Tagestouren ins Obernberger Tal. Die meisten Gäste der Almbergers bleiben hingegen gleich eine ganze Woche – wie beispielsweise Gruppen des DAV Summit Club, der Österreichischen Naturfreunde oder des Austrian Alpine Club. Acht Mitglieder dieses auch als "Sektion Britannia" bekannten Vereins beraten abends mit ihrem Bergführer die kommenden Touren und sind ebenfalls von der Schönheit des Tales überwältigt. "Es ist wirklich erstaunlich, aber die meisten Touristen wissen gar nicht, wie naturbelassen die Täler links und rechts der Brenner-Autobahn sind", sagt Seppi und bringt sein wichtigstes Anliegen auf den Punkt: "Trotz Panorama-Sauna wollen wir den Flair einer geselligen Berghütte vermitteln. Wir möchten die Leute zusammenbringen. Bei uns sind alle per Du, egal ob Professor oder Arbeiter." Und so gut wie alle beginnen ihre Skiwoche auf der Sonnenseite des Skibergsteigens. Nämlich an den schier endlosen Südhängen, die vom Nösslachjoch bis zum Muttenkopf herabziehen. Nicht nur Alpinist*innen lieben die Wärme dort, auch Kieferngewächse fühlen sich hier sehr wohl.
Platz für Spuren zwischen den Lärchen
Oberhalb des Obernbergtals befindet sich der größte Lärchenbestand Tirols. Bei der Abfahrt stören sie allerdings nicht: Die eher weit auseinander stehenden Bäume lassen überall genug Platz für eine schöne Spur. Deutlich dichter ist der Wald auf dem nordseitigen Zustieg zum Grubenkopf. Nachdem man die Eisoberfläche des Obernberger Sees überquert hat, kommt man auf dem Weg Richtung Landesgrenze fast an der Steineralm vorbei. Dort produzieren die Almbergers – ebenfalls ganz im Sinne der Bergsteigerdörfer-Philosophie – mittlerweile eigene Wurst und Speck. "Einmal in der Woche kommt ein Braten von unserer Alm auf die Speisekarte. Wir bieten dadurch ein wirklich ehrliches Produkt an", berichten Burgi und Sepp nicht ohne Stolz. Und seit letztem Sommer stellt ihr ältester Sohn auch noch eigenen Almkäse her. Was irgendwie gut zu Sepps Resümee passt: "Die Natur hier in den Bergen ist so toll und unverbraucht. Und genau das ist es, was wir unseren Gästen weitergeben möchten."