Zwei Skitouengeher im Aufstieg, Berggipfel und Wolken im Hintergrund.
Aufstieg zum Piz Cavradi oberhalb der Maighelshütte. Foto: Folkert Lenz
Graubünden im Winter

Skitouren in der Surselva: Spurensuche am Rhein

Die Graubündener Surselva: Wer seine Aufstiegsspuren auf die Berge über Disentis und Sedrun oder die Gipfel rund um den Oberalppass zieht, geht an behaglichen Dörfern und ursprünglichen Weilern vorüber. Und trifft bei Skitouren immer wieder auf den Rhein. Auch wenn sich der unterm Schnee versteckt.

Alles Fake oder was?! Da haben die Bündner extra einen Leuchtturm am Oberalppass aufgestellt. Weil dort angeblich der Rhein entspringt. Und, klar: Der Fluss ist in der Surselva allgegenwärtig. Wo genau der Vorderrhein aber seinen Ursprung hat, das ist im Winter noch schwieriger herauszubekommen als sonst. Weil sich sein Ausgangspunkt dann unsichtbar im Weiß verbirgt. An der Passhöhe zwischen Andermatt und Sedrun – die das Urserental vom Vorderrheintal trennt – liegt die Quelle jedenfalls nicht. Schon gar nicht dort, wo die Matterhorn-Gotthard-Bahn an der Station „Oberalppass“ jetzt ein paar Skitourengeher in den wehenden Schneewolken aussetzt.

Das Grüppchen passiert gleich nach ein paar Schritten den Leuchtturm, der hier – auf 2044 Meter Höhe über dem Meer – dem eisigen Bergwind trotzt. Leuchtturm? Heimische Rhein-Fans – genauer: pfiffige Touristiker – haben das maritime Wahrzeichen vor knapp zwei Jahrzehnten als Nachbau von der niederländischen Küste ins schweizerische Hochgebirge verpflanzt. Als „Unterfeuer Hoek van Holland“ hatte das lichtgebende Seezeichen zuvor 70 Jahre lang für die Sicherheit des Schiffsverkehrs an der 1230 Flusskilometer entfernten Rhein-Mündung in die Nordsee gesorgt. Nun dient die rot-weiß-rot geringelte Replik als Wegweiser für die Skitourist*innen, die sich auf den Anstieg zum nahen Pazolastock machen.

Skurril - aber eine klare Wegweisung: Der Leuchtturm am Oberalppass. Foto: Folkert Lenz

Klassiker Pazolastock

Der Anstieg auf den 2739 Meter hohen Berg ist so etwas wie eine Standardtour dort oben. Nicht zuletzt, weil man im Winter zum Tourenstart nicht mit dem Auto vorfahren kann, sondern auf den Zug angewiesen ist – was viele Schweizer Skitourenfans ja lieben. So wird zügig eine erste Spur in die Flanken von Las Puozas geschnitten. Eine steile und riskant erscheinende Hangquerung am Ostgrat schließlich verlangt Entscheidungen. Doch die Flanke hat genügend Sonne am Vortag und Frost in der Nacht bekommen, so dass sie wieder stabil ist. Mit Sicherheitsabständen geht es in die Traverse, bald ist der abgeblasene Rücken erreicht, der zum höchsten Punkt führt.

Aufstieg zum Pazolastock. Foto: Folkert Lenz

Sehnsuchtsvoll schweift der Blick über die Tourenmöglichkeiten im Norden der oberen Surselva, die noch warten: eine Spritztour von Rueras durch die Val Milà zum Caschlè (2716 m) vielleicht? Oder doch zum Oberalpstock (3328 m) mit der langen Abfahrt durch das Val Strem? Und natürlich der „Etzli-Loop“: Über den Piz Giuv (3096 m) und seine spektakuläre Nordost-Abfahrt zur Etzli-Hütte und anderentags über den Chrüzlistock (2716 m) retour? Es gibt viel zu tun!  

Doch jetzt erstmal talwärts: Ortskundige finden eine direkte Linie in die Val Maighels hinunter. Ein Powderhang nach dem anderen in der Südost-Flanke, bis die Gruppe schließlich durch ein Couloir in die Ebene gen Milez hinausschießt. Schieben heißt es dann im Tal Richtung Tschamut. Kurz vor dem Weiler ragt eine Brücke aus dem Schnee. Ohne sie wäre der Bach zu breit zum Queren. Der Bach? Es ist der junge Rhein, der hier schon ein bisschen Power hat. Er wird in den nächsten Tagen immer mal wieder unverhofft auftauchen. 

Abfahrt vom Pazolastock nach Tschamut. Foto: Folkert Lenz

Doch vorerst ersticken Schneefälle weitere Tourenambitionen. Apropos: Die Täler der Surselva sind eine wahre Wetterküche. So braucht man nicht zu glauben, am Oberalppass, in Sedrun oder Disentis gleiche Verhältnisse anzutreffen. Während es an einem Ort schneit, kann am nächsten die Sonne scheinen. Während es dort ein paar Dezimeter Neuschnee herunterhaut, bläst gleich hinterm nächsten Taleck nur der Wind. Schnee aber ist – selbst in Zeiten des Klimawandels – nahezu garantiert: Aus Nordwesten fegt er über den Oberalppass, aus dem Süden vom Lukmanier her. So hat sich das Areal auch einen guten Namen als Location für Freetourer* und Freerider*innen gemacht. 

Schnee aber ist – selbst in Zeiten des Klimawandels - nahezu garantiert.

Für die ist David Berther der perfekte Ansprechpartner. Der junge Bergführer aus Segnas weiß, wo auch bei heikleren Verhältnissen noch sicheres Terrain jenseits der Pisten von Disentis und Sedrun zu finden ist. Dass er nicht nur mit dem Gelände, sondern auch mit den Einheimischen zutiefst vertraut ist, zeigt sich bei der Auffahrt mit den Liften: In tiefem, kehligem Rumantsch parliert er mit den Locals. Berther scheint sprichwörtlich jeden zu kennen. Das kommt vielleicht auch daher, dass er im Sommer eine gutgehende Schreinerei führt und viel im Tal herumkommt. Im Winter ist er eher droben in den Surselva-Bergen unterwegs. Und führt seine abfahrtsorientierten Gäste nicht nur ins klassische Cruise-Gelände wie Val Segnas oder Val d´Acletta. David Berther weiß auch, wohin der Wind in der Nacht den Neuschnee verweht hat. Und an welchen Hängen man abfahren kann, obwohl die Lawinenwarner zu extremer Vorsicht mahnen. So lassen sich auch am Nachmittag im Val Pintga am La Muotta-Rücken oder in der Val Gronda noch Firstlines finden. Yippie! 

Maighelshütte. Foto: Folkert Lenz

Von der Maighelshütte auf den Piz Cavradi

Danach geht die Spurensuche am Rhein weiter: Erinnerungen an einen Ski-Aufstieg von der Alp Tschamut mit dem Bergführer Bruno Honegger. Der legendäre Hüttenwirt der ebenso legendären Maighels-Hütte ist im vergangenen Herbst gestorben. An jenem Tag aber war der Piz Cavradi mit dem Guide aus Sedrun das Ziel. Von dem Berg war allerdings nichts zu sehen. Undurchdringlich die Wolkenschwaden, die in der Val Maighels hingen. „Droben könnte es Sonne haben“, erklärte Honegger in einem Ton, bei dem man nicht wusste, ob er selbst an seine Prophezeiung glaubt. Doch zuversichtlich legte er eine Spur in den Talboden. Und schien froh, dass die zugewehte Schneekatzenspur immer von dicken Holzstangen gesäumt ist, die die Aufstiegsrichtung zur Maighelshütte in der Nebelsuppe vorgeben. „Ist für die Schneetourengeher: Damit die es einfacher haben, sich zu orientieren“, so augenzwinkernd sein Kommentar. 

Aufstieg zum Piz Cavradi. Foto: Folkert Lenz

Dabei kannte der altgediente Bergführer das Gelände wie seine Hosentasche. Ein Vierteljahrhundert hatte Bruno mit seiner Frau Pia nämlich die Camona da Maighels (2314 m) bewirtet. Zielstrebig steuerte Bruno Honegger im Gewölk eine kleine Brücke an, die gerade noch aus einer Schneewehe herausragte. Daneben murmelte ein kleines Rinnsal im Weiß, bevor es wieder unsichtbar wurde. „Obacht, das ist der Rhein.“ Mit einem kleinen Hüpfer war das Bächlein überwunden.

Kaum zu glauben, dass sich daraus später einer der mächtigsten Ströme Europas entwickelt. Der Vorderrhein entspringt nämlich dem nahen Lai da Tuma (2344 m), einem Tümpel ein knappes Stündchen oberhalb. Im Winter plätschert kaum Wasser aus dem Seelein. Aber im Sommer, da speist ein Blockgletscher den Tomasee.

Die Maighelshütte: ein sicherer Pausen-Hafen im Nebelmeer

Rund eineinhalb Stunden nach dem Tourenstart hört man als erstes eine flatternde Schweizer Flagge im Nebel. Sie steht neben der Maighelshütte. Das Berghaus wird seit 2019 von Honeggers Tochter Nora mit ihrem Partner Mauro Loretz betrieben. Ein sicherer Pausen-Hafen im Nebelmeer. Bis plötzlich Sonnenstrahlen durch die Stubenfenster der Hütte blinken und nach draußen locken. Ein knappes Stündchen schlängelt sich die Skispur noch durch die steile Südwestflanke vom Piz Cavradi. Pittoreske, rötliche Gneis-Scherben markieren schließlich das Ende des technisch einfachen Aufstiegs. Der Gipfel (2614 m) ist zwar nicht der höchste im Rund, doch trotzdem eine perfekte Aussichtsplattform. 

Powderabfahrt vom Piz Cavradi. Foto: Folkert Lenz

Die Spuren von Skitourengeher*innen locken hier in alle Himmelsrichtungen ins Gelände: Links vor einem die Routen auf Pazolastock (2739 m) und Piz Badus (2928 m), die gerne vom Oberalppass angegangen werden. Rechts lässt das schroffe Felsdreieck vom Piz Máler (2789 m) über dem grün schimmernden Curnera-See so gar nicht vermuten, dass dort hinauf ein fast gemächlicher – wenn auch langer – Anstieg über den Nordostrücken von Sedrun her möglich ist. Im Süden von Maighels fühlen sich – zumindest – Expert*innen von den Steilabfahrten in den Rinnen am Schwarzberg (2763 m) angezogen. Der einfache Hatsch auf den Piz Alv (2769 m) dagegen bietet sich zum Genießen an. Und vor den Skispitzen, die am Gipfel gen Norden weisen, fällt der legendäre Nordostrücken vom Cavradi steil gen Tschamut ab. Doch heute wird es nichts mit dem berühmten Downhill, der eine der Top-Tourenabfahrten der Surselva darstellt. Wolkenreste und schlechte Sicht in den kritischen Steilpassagen, das passt nicht zur Lawinengefahr heute. Ein guter Grund, nochmal wiederzukommen!

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