Als ich aufwache, habe ich das Schnurren der dicklichen Katze noch in den Ohren. Die ganze Nacht lag sie in meinem Bett. Mal blockierte sie meine Beine, mal platzierte sie sich direkt neben meinem Kopf. „Fast wie zu Hause“, denke ich, nur dass da nicht eine Katze meinen Bewegungsradius im Bett einschränkt, sondern mein Hund. Heimweh habe ich also nicht. Ich richte mich auf, und falle direkt wieder zurück auf mein Kopfkissen. Die Aussicht aus den großen Dachfenstern auf die wilde Bergwelt am Ammererhof haut mich buchstäblich um. Die Basis für unser Skitouren-Wochenende befindet sich in Kolm-Saigurn am Ende des Raurisertals im Nationalpark Hohe Tauern.
Neben uns türmt sich die Goldberggruppe auf. Einst war die Gegend das Zentrum des alpinen Goldbergbaus, was sich im Namen der Gebirgskette noch heute spiegelt. Im Tal findet man nun ein beliebtes Skitourengebiet und hoch oben auf 3106 Metern das Sonnblick Observatorium, Europas höchstgelegene dauerhafte Wetterwarte. Von meinem Bett aus sehe ich die Stahlseile der Seilbahn, die uns heute nach unserer Skitour hinaufbringen wird. Die 1500 Höhenmeter zum Hohen Sonnblick kann man auch mit Ski überwinden, was ein Teil unserer Skitourengruppe probiert. Je nach Routenwahl führt die beliebte Hochtour über den spaltenarmen Vogelmaier-Ochsenkar-Kees.
Aktivismus im Schnee
Der Rest von uns steigt der schnellen Gruppe etwa 800 Höhenmeter gemütlich hinterher – und genießt die herrliche Natur ganz ohne Stress. Der anspruchsvollste Teil durch den Barbara-Wasserfall bleibt aber auch uns nicht erspart. Die Outdoormarke Patagonia hat ein Dutzend Journalist*innen aus ganz Europa eingeladen. Das Wochenende steht unter dem Motto „Snow Activism“, also den aktiven Einsatz zum Erhalt der Natur, in der wir unserem liebsten Hobby nachgehen. Die entsprechende Leidenschaft für das Thema zu entwickeln, fällt in dieser Kulisse leicht.
Nach einem ausgiebigen Frühstück geht es los. Schon morgens um neun reiße ich mir meine Isolationsschicht vom Körper. Zum Glück hat sich der Föhnsturm vom Vortag gelegt. Die Temperaturen sind aber weiterhin hoch. „So geht das schon seit Februar“, sagt Klaus Gruber, unser Bergführer. Er zeigt hinüber zu einer zwanzig Meter hohen Konstruktion, die normalerweise von Eis umhüllt ist und sagt: „Hier klettert seit Wochen niemand mehr.“ Überall in den Alpen zeigt sich das gleiche Bild. Nach den starken Schneefällen im Dezember kam unten in den Tälern kaum Nachschub. Unten ist folglich alles grün, oberhalb von 1800/2000 Metern liegt je nach Region meterhoher Schnee. Vom Raurisertal habe ich vorher noch nie etwas gehört. Von München benötigt man etwa drei Stunden mit dem Auto. Die letzten Kilometer fährt man auf einer Mautstraße zur Siedlung Kolm-Saigurn. Die Straße öffnet aber erst Mitte März für Autos. Bis dahin holt Reini Auzinger, der schon seit vielen Jahren am Ammererhof arbeitet, die Gäste mit dem Pickup ab. Den Alltagsstress lässt man spätestens am Eingang zur Privathütte mit eigener Sauna hinter sich.
Skitouren für jedes Niveau
In Spitzkehren steigen wir die steilen ersten 400 Höhenmeter hinauf, die Sonne blinzelt langsam um die Bergkuppe, der Anblick des grünen Raurisertals verwirrt für Anfang März. Besonders eindrucksvoll ist hier der Rauriser Urwald, ein über Jahrhunderte sich selbst überlassener Sturzwald, der um diese Jahreszeit oft nach verwunschenem Winterwald aussieht und sich im Sommer als eine Naturschönheit mit dunklen Moortümpeln, grünen Moosen und lieblichen Lichtungen entpuppt. Den Wald können Besuchende sowohl im Winter (Schneeschuhe) als auch im Sommer zum Beispiel im Rahmen einer Ranger-Führung erkunden.
Das Klirren der Harscheisen erfüllt meine Ohren. Als wir am Schutzhaus Neubau auf 2176 Meter ankommen, befreit gerade der Hüttenwirt das Dach vom Schnee. Das wirkt surreal, weil der Wind den Schnee rund um die Hütte teilweise abgeblasen hat. „Wollt ihr etwas trinken?“, fragt er uns. Nein, wir wollen gleich weiter. Dann zeigt er auf den Hang über uns, wo eine Gams seelenruhig das trockene Gras vom braunen Hang zupft. Angst scheint sie nicht zu haben. „Wir haben auch nichts Grünes an“, sagt unser Bergführer, und lacht, aber die Jagd sei hier im Nationalpark sowieso verboten.
Langsam spüre ich die Höhe und bin dankbar für eine Pause. Das Panorama der Goldberggruppe um uns herum ist beeindruckend. Neben dem Hohen Sonnblick gilt auch der Hocharn (3254 Meter) als Hochtourenklassiker. Richtung Gasteinertal wird das Gelände sanfter und das Tourengelände einfacher. Von unserem Pausenplatz sehen wir den 2600 Meter hohen und beliebten Skitourenberg Silberpfenning. Die Kolmkarspitze (2406 Meter), unser Ziel für morgen, verbirgt sich hinter einer Scharte. Das Tal ist waldreich mit Fichten und Lärchen gespickt. „Bei uns wird jeder fündig“, sagt Klaus Gruber, weil sich für jedes Niveau das passende Gelände findet.
Mein Blick bleibt an einem tiefen Geländeeinschnitt zwischen Sonnblick und Hocharn hängen. Im August vergangenes Jahr ging aufgrund ergiebiger Regenfälle eine Mure ab. „Die Mure hat extrem viel Material mitgenommen“, sagt Gruber. „Gewaltig, was da für Naturkräfte wirken.“ Durch die Lage direkt am Hauptkamm bekommt die Gegend jede Menge Niederschlag ab, weil sich Süd- und Nordstau hier abregnen. Der felsige Boden kann nur begrenzt Feuchtigkeit aufnehmen, was bei Starkregen dazu führt, dass oberflächlich alles weggespült wird. Ein Damm weiter unten im Tal hat die mehreren hunderttausend Kubikmeter Geröll zurückgehalten und auf einer Fläche von 25 Hektar angestaut. Punktuell vorhersagen könne man solche Ereignisse aber nicht. Ich bekomme Gänsehaut, was wohl auch daran liegt, dass es langsam zuzieht. Wir fellen ab und fahren durch überraschend guten Schnee wieder ab.
Forschung im Observatorium
Nach einer Dusche und zehn Minuten Ausruhen in meinem Panoramabett geht es auch schon wieder los. Die Talstation der Gondel, die zum Observatorium nach oben führt, ist vom Ammererhof nur zwei Minuten zu Fuß entfernt. Gerhard Holleis, der für den Seilbahnbetrieb zuständig ist, begrüßt uns in der modernen Gondel. Das Observatorium besteht seit 1886. Die erste Bahn wurde 1956 eröffnet, davor transportierten Träger das Material auf ihrem Rücken nach oben. Die neue, erst fünf Jahre alte Seilbahn bringt Material und die Mitarbeitenden des Observatoriums nach oben. Wir haben als Journalist*innen eine Sondergenehmigung zur Nutzung der Sonnblick-Seilbahn erhalten. Tourist*innen erreichen den Hohen Sonnblick und das Observatorium nur mit Ski oder zu Fuß. Mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Kilometer die Stunde überwinden wir die 1500 Höhenmeter in wenigen Minuten. Die anderen brauchen auf Ski etwa sechs Stunden.
Oben treffen wir sie wieder – und wir lernen Elke Ludewig, Jahrgang 1987, kennen, die die Station seit Mai 2016 für GeoSphere Austria in Salzburg verantwortet. Das ganze Jahr über betreuen mindestens zwei Personen das Observatorium und befreien zum Beispiel Messgeräte von Eis. Das 15-köpfige Team rund um Ludewig erforscht die höheren, reinen Luftschichten im Hochgebirge, um Vergleichswerte zu den Boden- und Ballonmessungen zu ermitteln. Mit modernster Technik erkennen die Geräte auch extrem schwach konzentrierte, klimatisch aber sehr relevante Spurenstoffe. 2017 konnte zum Beispiel das erste Mal Mikroplastik in der Luft nachgewiesen werden. Die Daten sind weltweit für Interessierte zugänglich.
Ein Herzensthema für Elke Ludewig stellt auch die Wolkenforschung dar, weil noch nicht hinreichend bekannt ist, wie diese entstehen. „Die Lage am Alpenhauptkamm ist dafür perfekt“, sagt sie. Von den „komischen Geräuschen“ in der Station sollen wir uns nicht stören lassen, das seien die Pumpen und Messinstrumente, die rund um die Uhr arbeiten. Den Klimawandel erlebt das Team hier oben hautnah. Der felsige Gipfel des Hohen Sonnblick ist aufgrund des auftauenden Permafrosts mit Rissen durchzogen. Damit das Observatorium und das Zittelhaus, eine bewirtschaftete Schutzhütte nebenan, nicht ihr Fundament verlieren, stabilisieren mittlerweile Betonklammern mit Felsankern den Gipfel.
Wir folgen der Wissenschaftlerin hinaus auf die Plattform. „Endlich Winter“, denke ich, als ich die wilden Eisformationen an den Messinstrumenten und Eisenleitern sehe. Minus zehn Grad zeigt das Thermometer an. „Früher war es hier im Winter bis zu minus 30 Grad kalt“, sagt Elke Ludewig. Für einen kurzen Moment bricht die Wolkendecke auf und gibt die Sicht auf ein grandioses Panorama frei. Ludewig erzählt uns von kuriosen Forschungsergebnissen. 2016 wiesen sie nach, dass Fledermäuse auf ihrem Weg in ihr Winterquartier im Süden am Hohen Sonnblick den Alpenhauptkamm überqueren. Ein anderes Mal seien radioaktive Aerosole angeweht worden, die Forschende anhand von Windrichtung und Bodenproben auf Russland zurückführen konnten. Einen Störfall hatten die aber nicht gemeldet. Als ich am Abend in mein Bett falle, kann ich kaum glauben, was ich heute alles erlebt habe.
Am nächsten Morgen begrüßt mich eine weiße Wand. Ich öffne das kleine Fenster neben meinem Bett und tatsächlich: Es hat 15 Zentimeter geschneit. Das Wetter konnte ich seit Freitag nicht mehr checken, weil es auf dem Ammererhof keinerlei Netz gibt. Was für eine Erleichterung! Nach dem Frühstück geht es Richtung Kolmkarspitze los. Etwa 200 Meter vor dem Gipfel drehen wir um, weil sich die Sicht zunehmend verschlechtert. Gerade noch rechtzeitig, um die wohlverdiente Powderabfahrt mit Panoramablick zu genießen. Erst ziehen wir unsere Spuren in zwei Hänge mit 30 Grad Neigung, dann folgt ein Treerun durch lichten Wald und zum Abschluss geht es über einen schmalen Forstweg. Herrlich! Als wir später unser Gepäck in den Pickup verladen, miaut mir die plüschige Katze, die vergangene Nacht wohl in einem anderen Bett verbracht hat, wie zum Abschied noch einmal zu. Das Raurisertal ist mir nicht nur wegen ihr ans Herz gewachsen.