Der Himmel heute ist stahlblau, der Neuschnee der letzten Tage glitzert in der Sonne. Die Gruppe setzt sich in Bewegung, verfällt bald schon in einen beruhigenden Rhythmus und außer dem „klack, klack“ der Ski herrscht Stille. Eine erfüllende Zufriedenheit, inmitten dieser verschneiten Natur voller schroffer Felsen und hoher Berge sein zu dürfen, macht sich langsam breit.
Der Piz Borel mit einer Höhe von 2952 Metern ist das heutige Tagesziel. Von der Hütte geht es nach Süden bis zum Talende des flachen Val Maighels. Gleichmäßige Hänge führen hier über den kleinen Maighels-Gletscher aufwärts in die Scharte zwischen Piz Borel und Piz Ravetsch, zuletzt über einen kurzen Steilhang. Von der Scharte geht es zu Fuß über den Grat zum Gipfel. Der Blick schweift von den Bündner, über die Tessiner, die Walliser und die Berner Alpen zu den nahen Gipfeln des Gotthardmassivs. Vielleicht ist genau dieser Moment der Grund, warum wir Menschen so gerne in die Berge gehen. Die Freiheit draußen zu sein, ganz im Augenblick und wie ein kleines Kind zu staunen. Ehrfürchtig um sich zu blicken und die Ausblicke im Herzen abzuspeichern. Der kleine Maighels-Gletscher bietet bei der Abfahrt oft perfekte Schneeverhältnisse. Sieben Glückselige fahren wunderbar symmetrische Linien in den stiebenden Pulverschnee.
Die Maighelshütte – Sehnsuchts- und Zufluchtsort
Auf der Hütte erwartet uns bester Kaffee aus einer edlen Siebträgermaschine und die heiß ersehnte Aprikosen-Wähe mit Schlag. Man munkelt, dass viele bereits vor Beginn der Tour vom leckeren Kuchen der Maighelshütte träumen. Nora Honegger und Mauro Loretz führen seit fünf Jahren die Maighelshütte oberhalb von Sedrun. Sommer wie Winter verbringen sie auf 2310 Metern über dem Meer, weitab der Zivilisation. Sie sehen ihre Hütte als Sehnsuchts- und Zufluchtsort.
Nora sitzt im Faserpelz im gemütlichen, sonnendurchfluteten Essraum der Maighelshütte und genießt einen Kaffee. In der Küche werden Brote und Kuchen gebacken und erste Vorbereitungen für das Abendessen getroffen. „Eigentlich hatte ich nie vor, die Hütte zu übernehmen. Zu viel Arbeit, zu viel Verantwortung. Ich wollte in Zürich als Lehrerin arbeiten“, erzählt Nora. Die 34-jährige Bündnerin ist in Sedrun aufgewachsen. Ihre Eltern haben die Maighelshütte 27 Jahre lang bewartet – Noras zweite Heimat. Als sich die Eltern vor fünf Jahren entschieden, das Hüttenleben aufzugeben, wurde Nora klar, dass sie sich ein Leben ohne die Hütte nicht vorstellen konnte: „Trotz Bedenken habe ich mich zusammen mit meinem Freund Mauro für die herausfordernde, aber wunderbare Arbeit hier oben entschieden und es noch keinen Tag bereut.“ Herausfordernd deshalb, weil die Tage lang sind und die Arbeit gefühlt nie endet. Manchmal sind Nora und Mauro wochenlang fast ohne Unterbrechung auf der Hütte. Ihre größte Belohnung? „Zufriedene Gäste!“, sagt Nora Honegger. „Wenn wir ein Kompliment bekommen und spüren, dass es den Leuten bei uns auf der Hütte gefällt, dann wissen wir, dass wir unseren Job hier oben gut machen.“ Der gute Kaffee und die mit viel Liebe gebackene Aprikosenwähe tragen definitiv zur Zufriedenheit der Gäste bei.
Steil hinauf auf den Piz Badus
Wo im Sommer der Lai Urlaun, die offizielle Quelle des Vorderrheins, blau glitzert, beginnt anderntags nach kurzer Abfahrt von der Hütte im Talkessel die Skitour zum 2928 Meter hohen Piz Badus. Der Name Badus stammt aus dem rätoromanischen und bedeutet „steil“ oder „abschüssig“. Der eindrucksvolle Gipfel ragt genau gegenüber der Hütte auf. In gestuftem Gelände wird über die mächtige Ostflanke zum Gipfelgrat aufgestiegen.
Ganz gegenwärtig sind die Ausblicke auf die Bergwelt. Je höher, desto imposanter. Es sind weniger die einzelnen Giganten, die beeindrucken. Es ist vielmehr die Weite. Das wie ein Orchester wirkende Bild von Bergkuppen, Steilhängen, Flanken, Gipfeln und dazwischen liegenden Tälern und die Gebirgszüge, die dahinter wie mächtige Bühnenvorhänge aufragen. Und dann ist der Gipfel plötzlich zum Greifen nah. Die letzten Meter führen zu Fuß und mit Ski am Rucksack zum Teil ausgesetzt über den Südgrat auf den höchsten Punkt. Breite Nord- und Osthänge, die nicht enden wollen, sorgen für ein großartiges Abfahrtsvergnügen, bevor wir im Talboden die Felle aufziehen und wieder zur Hütte aufsteigen.
Ein letzter Kaffee, eine letzte Aprikosenwähe auf der „Maighels“, bevor es hinein geht in den steilen Schneehang, der zum Cavradi-Gipfel auf 2614 Meter Höhe hinaufführt. Der Piz Cavradi ist quasi der Wächter über das obere Surselva-Tal und der Hausberg der Maighelshütte. Das Panorama der Surselva-Berge präsentiert sich in voller Schönheit. Die steile Skiabfahrt hinab zum Weiler Selva lockt mit zischendem Firn und endet erst nach tausend Höhenmetern an einer Brücke über einen Bach. Was ist das für ein Gerinnsel? Natürlich der Rhein! Im Winter fließt er hier sehr spärlich, doch im Sommer sieht man ihn immerhin als kleinen Bach. Erst weiter talabwärts wird der junge Rhein dann zum richtigen Fluss. Hier oben lässt er sich noch leichtfüßig mit wenigen Schritten überqueren. Schritte, die uns nach einer Kurzreise zum Sehnsuchts- und Zufluchtsort „Maighels“ zurück in den Alltag bringen.