Eine schöne Dreitagestour steht uns im Sinn. Keine schwere Aufgabe, sollte man meinen. Schließlich tüfteln Wolfgang und ich nicht erst seit gestern mehrtägige, möglichst unbekannte Rundwanderungen aus. Allerdings ist die Auswahl nach diesem Schnee-Winter zumindest am Alpenhauptkamm und nördlich davon noch sehr stark eingeschränkt. Obwohl es bereits Anfang Juni ist, werden im Internet nach wie vor lohnende Skitouren-Einträge gepostet. Was bleibt, ist einmal mehr der Blick über den Tellerrand. Also über den Alpenhauptkamm. Doch auch dort zeigen einschlägige Webcams meist mehr weiß als grün. Erst weit im Süden scheint sich der Winter dem Frühsommer geschlagen zu geben. Und zwar südöstlich von Rovereto, wo ein kleines Gebirge namens Piccole Dolomiti in den Trentiner Himmel ragt. Dort sendet eine kleine Kamera am Rifugio Achille Papa vielversprechende Bilder ins Internet. Auf immerhin 1928 Metern liegt zumindest im Blickwinkel der Linse so gut wie kein Schnee. Den Piccole Dolomiti, also den kleinen Geschwistern der berühmten Kalkbastionen, wollte ich schon lange einmal einen Besuch abstatten. Was verbirgt sich wohl hinter dem bescheidenen Namen? Weder Literatur- noch Internetrecherche ergeben ausreichende Informationen für die Planung einer drei- oder viertägigen Rundtour. Und genau das spornt mich erst recht an.
Die Vorteile von analog und digital vereint
Als studierter Geograf und leidenschaftlicher Bergsteiger weiß ich einerseits genau, wie viele Informationen man aus einer guten topografischen Karte im Maßstab von 1:25.000 herauslesen kann. Und es ist meiner Meinung nach auch in Zeiten von Smartphones und Apps wichtig, eine solche immer unterwegs dabeizuhaben. Gleichzeitig verschließe ich mich keineswegs den Annehmlichkeiten einer digitalen Tourenplanung, zum Beispiel auf alpenvereinaktiv.com. Seit Jahren ist das gemeinsame Tourenportal von DAV, ÖAV und AVS für mich die erste Wahl, wenn es darum geht, Höhenmeter, Gehzeiten, Kilometerlängen und sogar die Wegbeschaffenheiten anvisierter Bergtouren zu ermitteln. Auch südöstlich von Rovereto kann ich mittels Routing-Funktion selbst kleine Bergwege Stück für Stück zu einem spannenden Puzzle zusammenfügen. Das fertige Höhenprofil empfiehlt das kleine Bergdorf Raossi als idealen Ausgangs- und Endpunkt für unsere dreitägige Rundtour. Nach gerade einmal einer halben Stunde Online-Planung wissen wir auch schon: Die erste Etappe – der Aufstieg über die 2232 Meter hohe Cima Palòn zum Rifugio Achille Papa am Pasubio – wird mit Sicherheit den meisten Schweiß erfordern.
Summa summarum dürfen wir uns auf 3600 Höhenmeter und 45 Kilometer freuen. Alles sieht perfekt aus.
Wären da nicht die verzeichneten Wegsperrungen; sie betreffen auf unserer Route unter anderem den Bergwald oberhalb von Raossi. Im Herbst 2018 jagten nämlich verheerende Stürme über die Südtiroler und Trentiner Berge. Windböen bis zu 180 km/h hatten Bäume, Strom- und Telefonmasten wie Streichhölzer umgeknickt. Insgesamt wurden in Südtirol, im Trentino und in Friaul-Julisch Venetien etwa 100.000 Hektar Wald zerlegt. In einem solchen Fall (und natürlich auch dann, wenn man mit Führerliteratur seinen Bergurlaub plant) macht ein Anruf bei jemandem Sinn, der sich vor Ort auskennt. Die nette Wirtin des Rifugio Campogrosso versichert, dass sowohl die Übergänge zum Pian delle Fugazze als auch zum Rifugio Scalorbi von den Unwettern nicht beschädigt wurden. Für den Anstieg zum Rifugio Achille Papa will sie freilich nicht die Hand ins Feuer legen. Leider hebt dort niemand den Hörer ab – diese Hütte ist noch „chiuso“.
Bergeinsamkeit und der Geruch von Sommer
Entsprechend gespannt schultern wir drei Tage später unsere Rucksäcke. Im kleinen Weiler Raossi, wo sich am Abend Fuchs und Hase wohl gute Nacht sagen werden, kann man den Sommer schon riechen. Schwarzer Asphalt flimmert in der Sonne. Gelbe Ranunkelsträucher blühen in voller Pracht. Direkt daneben weist ein nagelneues Schild zur Cima Palòn. Los geht’s. Etappe eins steht nichts im Wege! Doch keine zehn Minuten später werden wir vom enormen Windbruch eines Besseren belehrt. Wie Ameisen zwischen Mikado-Stäbchen steigen wir über, unter und um nicht selten verkeilte Stämme. Und das fast eine Stunde lang. Dann weicht der windanfällige Nadelwald niedrigeren Buchen, deren zartgrüne Äste die Stürme schadlos überstanden haben. Endlich kommen wir zügig voran. Trotzdem wird es 19 Uhr, bis wir die noch schneebedeckte Cima Palòn erreichen. Was für eine Abendstimmung! Im Gegensatz zu Wolfgang, der direkt zur Biwakschachtel am Rifugio Papa weitergewandert ist, lassen Jana und ich den kurzen Abstecher zum Gipfel nicht aus. Und als zwei Stunden später die Spaghetti über dem Gaskocher dampfen, wissen wir: Allein für diesen ersten Tag vollkommener Bergeinsamkeit hat sich die etwas weitere Anreise schon gelohnt. Beim morgendlichen Abstieg über die legendäre „Strada delle 52 gallerie“ können wir nur erahnen, wie viel Blut, Schweiß und Tränen verlorengingen an die dunklen Tunnels dieser Militärstraße aus dem Ersten Weltkrieg, die zur Versorgung der italienischen Truppen am Pasubio zwischen Februar und November 1917 gebaut wurde. Sonniger Bergmischwald, idyllische Almwiesen und beim Start sogar ein leckerer Cappuccino: Größer als beim folgenden Gegenanstieg vom Pian delle Fugazze kann der Kontrast zweier Wegabschnitte kaum sein.
Auf unserem Weg in Richtung Süden nehmen wir noch den kleinen, aber durchaus nicht „geschenkten“ Monte Baffelan mit. Gute Griffe im festen, manchmal steilen Kalk, bei der leichten Kraxelei kommt durchaus Dolomiten-Feeling auf. Wie kurze Zeit später auch am Rifugio Campogrosso, das an einer beliebten Motorradstrecke liegt. Also nichts wie weiter und hinein in die beeindruckende Nordflanke der Carega-Gruppe, die am gleichnamigen Gipfel das höchste Gipfelkreuz der Piccole Dolomiti besitzt. Der Schweiß fließt. Die Sonne brennt. Und doch wird es von unten kalt. Auf dem riesigen Altschneefeld unter der Cima Centrale ist keine Spur vorhanden. Bei Nebel könnten wir jetzt die heruntergeladene GPS-Datei gut gebrauchen. Dank der guten Sicht treffen wir mit einem kleinen analogen Verhauer die Forcella del Fumante und sind somit heuer die Ersten, die den Übergang zum Rifugio Scalorbi gewagt haben, wie die Hüttenwirtin Silvia sagt. Erst gestern hat sie die Fensterläden nach dem langen Winter geöffnet. In der großen Gaststube laufen Holz- und Gasöfen auf Hochtouren, um die Winterkälte aus den dicken Steinmauern zu vertreiben. Was allerdings nur ganz langsam gelingt.
Umwege zum Glück
Als wir am nächsten Morgen im friedlichen Kessel der Alpe Campobrun zur letzten Etappe aufbrechen, können wir uns kaum vorstellen, wie gewalttätig es auch hier einst zuging. Während des Ersten Weltkriegs wurde die Alm zu einem Bollwerk gegen die anrückenden österreichisch-ungarischen Truppen ausgebaut und zum Ende von Weltkrieg II lieferten sich hier Partisanen heftige Schießereien mit deutschen Soldaten. Spätestens an der Bochetta Mosca stellt eine überwältigende Landschaft die Geschichte dann in den Hintergrund. Nach einem schwindelerregenden Tiefblick ins Val Sinelo stapfen wir noch mal im Schnee zur Cima Carega. Diesmal ist eine Spur vorhanden. Fleißige Helfer des CAI Verona holen an diesem Wochenende das unweit des Gipfels gelegene Rifugio Fraccaroli aus dem Winterschlaf. Doch für eine längere Siesta haben wir keine Zeit. „Da habt ihr einen genauso schönen wie langen Weg vor euch“, lacht Antonio aus Affi, als wir ihm unser Ziel nennen. Fünf Stunden später sind wir etwas geschafft, aber überglücklich einig: „Der gute Mann weiß, wovon er redet.“
Nachtrag: Aufgrund der Wegsperrungen hatte uns die Planungssoftware nicht den direkten Abstieg von der Cima Carega, sondern den tollen Umweg über den Monte Jocole empfohlen. Wer weiß, ob ich da von selbst draufgekommen wäre!