So viel Hellgrün. Die Sonnenstrahlen bringen die frischen Blätter an den Buchen und Haselnusssträuchern zum Leuchten. Hohe Felswände ringsum kühlen angenehm an diesem warmen Frühsommertag. Sie sind aus Konglomerat, entstanden in der Eiszeit. Hier und da sprießen Setzlinge und Farne, Moos übersäht die Baumstämme. Armdicke Wurzeln bilden Stufen auf dem Weg. Wildes Wasser schiebt sich durch die braunen Felsen, schimmert hellblau bis türkis an den tiefsten Stellen. Der Wanderführer Peter und sein Hund Arthur begleiten eine Gruppe durch die Bürser Schlucht, am Eingang des Brandnertals. Peter ist dort aufgewachsen. Mit zehn Jahren unternahmen er und seine Freunde ihre erste Hüttentour. „Wir haben ein halbes Jahr lang geplant und mussten den Eltern versprechen, dass wir immer auf dem Weg bleiben. Und auf den Hütten haben die Wirtsleute dann die Eltern mit dem Kurbeltelefon verständigt, dass wir heil angekommen sind“, erzählt er, lacht und schüttelt den Kopf. Wir steigen ein paar Höhenmeter durch den Wald hindurch und folgen einem Forstweg zum Parkplatz.
Arthur reckt die Schnauze aus dem Fenster, seine Schlappohren flattern im Wind. Es läuft Sweet Home Alabama, der Himmel ist wolkenlos. Peter steuert seinen Pickup durch die engen Kehren. Die Straße windet sich in das schmale, lange Tal hinein. Irgendwann öffnet sich der Blick auf Brand. Als würde die Welt einfach aufhören, scheinen die schneebedeckten Gipfel im Talschluss eine unüberwindbare Barriere zu bilden. Siebenhundert Menschen leben in dem kleinen, auf tausend Metern gelegenen Dorf am Fuß der Schesaplana. Bevor Brand ab dem 14. Jahrhundert von Walliser Familien besiedelt wurde, nannte man den Landstrich „Thal Vallawier“. Der Name leitet sich vom rätoromanischen „aual laviert“ ab, was „offener Bach“ oder Flussbett bedeutet.
Peter hält den Pickup an, wir steigen aus und folgen einer Schotterstraße ins Zalimtal, das vom Brandnertal nach Südwesten abzweigt. Sobald die Steigung nachlässt, öffnet sich das grüne Tal, eingekesselt vom Schesaplana-Massiv. Die Wiesen sind mit unzähligen Blumen gesprenkelt, die kantigen Gipfel des Panüelerkopf sind noch weiß. Peter deutet in eine Schneise und erzählt, dass hier eine weitere Seilbahn neben der Palüdbahn und der Glattjochbahn angedacht war. Dazu sei es glücklicherweise nie gekommen, heute führt nur eine Abfahrt durch den Wald.
Wir setzen uns auf eine Bank und schauen in die Gegend, die einem Heidi-Film entstammen könnte. Peter zieht einen Flachmann aus seinem Rucksack und drückt ihn mir in die Hand. Es ist noch nicht mal Mittag, ich nippe trotzdem. Marille. Irgendwann ziehen wir weiter in Richtung Untere Brüggele Alpe. Maria pflegt die Alpe immer noch, mit über achtzig Jahren. Ihre Kinder helfen ihr dabei. Sie bringt uns Hollerschorle, setzt sich und erzählt von giftigem Alpen-Greiskraut, das sie auf der Alm jedes Jahr für den Schutz des Viehs von Hand ausreißen müssen. Und nach Muren- und Lawinenabgängen hat Marias Familie alles allein wieder aufgebaut und finanziert. „Für den Gotteslohn“, sagt sie und blickt zum Himmel, als würde sie manchmal selbst anzweifeln, ob es das wirklich wert ist.
Am nächsten Morgen holt mich die Wanderführerin Anna ab. Wir fahren hinauf zum Hochplateau Tschengla. Von hier sieht man die zackige Zimba in ihrer Bergkette. Der Wind ist kühl, als wir uns über steile Pfade auf in Richtung Mondspitze machen. Wie ein Dreieck ragt der Berg in den Himmel. Anna pflückt Kräuter wie Silbermantel, Meisterwurz und Bergbasilikum, wann immer sie welche am Wegesrand findet. Wir steigen höher, endlich wärmt die Sonne. Auf dem felsigen Pfad Richtung Gipfel hängt der Duft von Latschen in der Luft. Oben genießen wir das 360-Grad-Panorama.
Nach dem ausgiebigen Frühstück im Brandner Hotel Lün geht es heute auf die Sarotlahütte. Bäume liegen kreuz und quer hangabwärts auf dem Weg – als hätte jemand eine riesige Axt geschwungen und mit einem Hieb alles kahlgeschlagen. Rundherum wuchert es wie in einem wilden Garten. In vielen Kehren und vorbei an Wasserfällen geht es über den Kiespfad bergauf.
Noch ein paar Windungen und man sieht die Hütte. Die Wirtin Isabel steht in einem umzäunten Stück Wiese, Hühner um sie herum. Kaum ist man daran vorbeigelaufen, tönt Reggae- Musik über die Terrasse. Es gibt vegane Blutwurst auf Kimchi mit Süßkartoffeln – ungewöhnlich, wie die Musik und das junge Wirtspaar, das früher ein kleines Resort auf den Bahamas geleitet hat. Fabian und Isabel machen über den Winter alles selbst ein – geholfen hat ihnen dabei die Oma. Die Hütte hat keine Materialseilbahn, und so müssen sie alles rauftragen. Behilflich ist ihnen dabei vor allem der Nepalese Chandra, der auch für kulinarische Genüsse sorgt. Kollege Peter backt Brot, sammelt Kräuter, mixt Getränke. Ich genieße das Essen, als mich ein älterer Gast anspricht. Ob ich das Bankerl auf dem Weg hinauf gesehen habe? Das sei von ihm – er habe es gesponsert. Das Brandnertal ist eben immer für Überraschungen gut.