Noch zehn Minuten Fahrt bis zum Startpunkt Haukeliseter. Doch dann ist plötzlich Schluss mit schnell: Ein Schaf blockiert die Europastraße 134. Nur unwillig setzt sich das Viech in lockeren Trab und bremst den Bus auf Joggertempo runter, bis es sich nach einer Weile bequemt, seitlich im Gelände zu verschwinden. Ein vierbeiniger Botschafter der Entschleunigung – und passende Einstimmung auf mein Unternehmen: eine zweiwöchige Solo-Trekkingtour, die mich 230 Kilometer kreuz und quer durch die südnorwegische Hochebene der Hardangervidda führen wird.
Der Name ist Programm: Das norwegische Wort „Vidda“ bedeutet „Weite“. Eine ausgedehnte Tour durch die unabsehbare eiszeitliche Einöde lässt einen die volle Bedeutung dieses Begriffs ermessen. Wer tagelang unter wilden Wolken durch die Einsamkeit dieser wahrhaft großartigen Landschaft streift, kann sich ihrem Zauber nicht entziehen. Ein dichtes Netz an Pfaden und Wanderunterkünften ermöglicht zahlreiche Routenvarianten unterschiedlichster Länge und Schwierigkeit. Am beeindruckendsten ist sicher eine Durchquerung in Nord-Süd-Richtung, für die man je nach Routenwahl und Kondition etwa acht bis zehn Tage benötigt.
Entweder macht man vom skandinavischen Jedermannsrecht Gebrauch und schläft irgendwo im Zelt, oder man zieht von Hütte zu Hütte wie in den Alpen. Jetzt zum Saisonende im September kann ich mich nicht mehr auf das Hüttennetzwerk verlassen. Die Vorerkundung hat ergeben, dass manche Unterkünfte schon geschlossen sind oder nur noch über einen begrenzten Lebensmittelvorrat verfügen. Also gilt wieder mal „Prinzip Schnecke“: Alles für die ersten neun Tage und 160 Kilometer von Haukeliseter im Südwesten bis Geilo am Nordostrand der „Vidda“ muss in den Rucksack. Startgewicht des Anhängsels: rund 20 Kilo – ein im wahrsten Wortsinn beschwerlicher Marsch mit vielen Aufs und Abs, topografisch ebenso wie physisch und psychisch.
Doch solche Erschwernisse werden mehr als aufgewogen durch die Erlebnisse. Mit dem beginnenden Herbst sind in dem beliebten Wandergebiet nur noch wenige Menschen unterwegs und ich habe die Hardangervidda fast für mich allein. Gelegenheit, die Grenzen der persönlichen Komfortzone etwas zu verschieben: fernab vom Weltgetöse, frischen Wind um die Nase, bergauf und bergab in Sonne und Regen. Kneippkuren in eiskalten Seen statt warmer Dusche, Rucksackküche statt vollem Kühlschrank, Zeltnächte statt weicher Matratze.
Zum äußeren Abenteuer kommt das innere: offline sein und es mal mit sich selbst aushalten, alle Sinne auf maximalen Empfang stellen – und immer wieder staunen über die wilde Schönheit dieser Weite, in der ich verschwinde wie ein Staubkorn. Die Begegnung mit der Hardangervidda ist eine Abenteuer-Auszeit, die dem Leben wieder das rechte Maß zu geben scheint.
Tagelange Alleingänge durch einsame Gegenden sind auch Expeditionen in die Landschaften des eigenen Unterbewusstseins. Das ständige Hintergrundrauschen des Alltags daheim ist ausgeschaltet, die Gedanken fliegen frei im Wind, beim Gehen stellt sich mitunter eine Art Trance ein. Längst vergessen geglaubte Melodien und Songtexte aus Kindheit und Jugend arbeiten sich aus hintersten Hirnwindungen an die Oberfläche und laufen in Endlosschleife im Kopf. Unter den Top Ten: „Ich war noch niemals in New York“ von Udo Jürgens, „The End“ von den Doors, dichtauf gefolgt von Hans Söllners „Ned aloa“.
Nach mehreren Tagen nordwärts glaube ich schon „etwas wunderlich“ zu werden, als ich bei der Begegnung mit einem jungen Paar einen unsichtbaren Hund bellen höre. Dann Entwarnung, doch kein Dachschaden: Als ich mich umdrehe, sehe ich den kleinen Kläffer oben aus dem Rucksack der Frau lugen und mir hinterherlärmen. Ja, so wie der hätt‘ ich’s jetzt auch ganz gern. Gleiches gilt für ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee, die ich mir stur einbilde, als ich auf die schon von weitem sichtbare Hütte Litlos zumarschiere. Je näher ich der Hütte komme, desto deutlicher nimmt ein Schokoladenkuchen vor meinem inneren Auge Gestalt an: dunkelbraun, nicht bröselig, sondern richtig schön fett und pappig-süß, ein paar Kirschen drin wären auch fein.
Das Wasser ist schon ordentlich im Mund zusammengelaufen, als ich endlich vor der Tür stehe – und feststellen muss, dass hier schon alles für den Winter dichtgemacht ist. Auf der Wiese daneben stehen – wieder mal – ein paar Schafe, und fast scheint es, als grinsten sie spöttisch. Eine weitere kleine Lektion für den Wohlstandsmenschen: „Alles! Immer! Sofort!“ funktioniert hier nicht.
Aber was soll’s, immerhin kommt jetzt die Sonne heraus, die sich in den vergangenen beiden Tagen nur spärlich zeigte. Sie taucht das Fjell in dieses einzigartige goldene Licht, wie man es nur hoch im Norden findet. Anderthalb Stunden später ist es so warm, dass ich mich bei einer Rast kurzärmelig hinlegen kann. Die plötzlichen Temperaturwechsel sind ebenso wie der launische Wind typisch für das wechselhafte Wetter auf dieser baumlosen Hochebene.
Gipfelglück auf dem Hårteigen
Seit Stunden geht es nordwärts auf die in der Ferne abweisend aufragende Felsbastion des Hårteigen zu. Der 1690 Meter hohe Berg erinnert ein wenig an den Zuckerhut und ist der „graue Wächter“ der Hardangervidda. Schon vor Hunderten von Jahren diente er Handelsreisenden als Wegweiser auf ihrem gefahrvollen und beschwerlichen Weg durch die „Vidda“. Und ich habe Glück: Je näher und wuchtiger sich der Hårteigen auftürmt, desto mehr verziehen sich die Wolken um seinen Gipfel.
Der steile, teils ausgesetzte, aber seilversicherte Aufstieg am nächsten Tag wird wortwörtlich einer der Höhepunkte dieser Tour. Nach einer halben Stunde stehe ich auf dem Gipfel und genieße den Panoramablick: im Süden der Gebirgskamm Sandfloeggi und der Gletscher Solfonn, im Nordwesten der Tresfonn, im Nordosten das ewige Eis des riesigen Gletschers Hardangerjøkulen und der Kamm des Hallingskarvet, im Südosten der Gipfel des Gausta. Wie auf einer Landkarte liegt das Hochfjell unter mir gebreitet.
Der düster dräuende Koloss markiert den Übergang vom alpineren West- in den flacheren Ostteil der Hardangervidda und begleitet mich noch für viele Kilometer als Landmarke. Allerdings im Rücken, denn ich biege nach Osten und später Nordosten ab und wandere an den langgestreckten Seen Nordmannslågen und Langesjøen vorbei. In allen Richtungen schweift der Blick schier grenzenlos zum Horizont. Darüber dehnt sich ein unendlicher Himmel, an dem der Wind die Wolken zu immer neuen abenteuerlichen Gebilden formt. Sie zeichnen ein ständiges Wechselspiel aus Licht und Schatten auf die Landschaft.
Die Hütte Sandhaug ist noch geöffnet und bietet Gelegenheit, etwas Komfort zu genießen, einschließlich des vorzüglichen Abendessens und endlich eines Gesprächs mit anderen Wandernden. Am neunten Tag nach meinem Aufbruch an der Hütte von Haukeliseter sehe ich am Nordostrand des Plateaus zum ersten Mal wieder Bäume. Prachtvoll leuchten die herbstbunten Birkenwälder beim langen Abstieg nach Geilo in der sinkenden Sonne.
Der Winter zeigt seine Krallen
Der Wintersportort bietet sich als Ziel einer Hardangervidda-Durchquerung an. Für mich ist er nur ein Rast- und Verpflegungspunkt. Denn ich habe einfach noch nicht genug von dieser Landschaft. Vollgefuttert, geduscht und ausgeruht breche ich zwei Tage später noch einmal zu einer kürzeren Tour durch den Nordosten der Hardangervidda auf. Fünf Tage lang führt der Weg von der Hütte in Torsetlia, etwa 20 Kilometer südöstlich von Geilo, in Richtung Haugastol an der Bergenbahn. Von dort geht es mit dem Zug Oslo-Bergen zurück zur Westküste.
Deutlich raueres Wetter mit kaltem Wind, Nebel und Nieselregen bringt in Erinnerung, dass der Herbst unwiderruflich da ist. Der Winter zeigt schon seine kalten Krallen, in ein paar Wochen wird hier alles unter einer dicken Schneeschicht verschwunden sein. Nebelschleier und tiefhängende Wolken verdüstern die Landschaft und mir ist etwas melancholisch zumute. Aber umso heller werden sie lange in meiner Erinnerung leuchten, die goldenen Tage auf der Hardangervidda.