Wer in Seefeld aus dem Bahnhofsgebäude tritt, traut seinen Augen kaum: Keine vielbefahrene Straße, die zu überqueren wäre, keine Parkplätze, um die es Rangeleien gäbe, selbst für Taxen ist der Vorplatz tabu. Völlig ungestört schlendert man durch die schneebedeckte Einkaufsstraße, die zum ebenfalls autofreien Dorfplatz hinunterführt. Überall entspannte Menschen, die die Schaufenster entlangbummeln, ihre Langlaufski zur nächsten Loipe tragen oder ihre Kinder auf Schlitten hinter sich herziehen. Genau so sollte eine alpine Winterfrische ihre Gäste empfangen! Verkehrschaos und nassen Asphalt hat man zu Hause ja genug. Kaum angekommen, fühlt man sich schon entschleunigt.
Der Winter von seiner stillen Seite
Wir sind überrascht, auch deshalb, weil wir mit dem Gegenteil von Entschleunigung gerechnet hatten. Das in die Olympischen Winterspiele 1964 und 1976 einbezogene Seefeld hat sich nämlich stets als „Olympiaregion“ bezeichnet, sich also um das Image eines turbulenten Wintersportplatzes bemüht. Es ist noch nicht lange her, dass man sich von dieser irreführenden Selbstdarstellung verabschiedet hat und nur mehr mit der Formel „Tirols Hochplateau“ wirbt. Das passt, denn die Mehrzahl der Seefeld-Gäste kommt nicht, um sich auf Pisten und in Gaudihütten auszutoben, sondern weil sie den Winter von seiner stillen Seite erleben will. Wozu das Angebot vor Ort auch bestens geeignet ist: Den gerade mal 30 Pistenkilometern stehen 240 Kilometer Loipen und 260 Kilometer Winterwanderwege gegenüber. So macht die internationale Skigemeinde einen großen Bogen um die Hochebene zwischen Karwendel und Wetterstein, und von überfüllten Schirmbars ist nichts zu sehen. Auf der Piazza animiert genau ein Gastronom zum munteren Zusammensein an der frischen Luft. Von lauter Stimmungsmusik fehlt aber jede Spur. Und auf den Tischen stehen keine Bierkübel, sondern regionale Delikatessen, die man im dazugehörigen Feinkostladen erwerben kann. Seefeld, spätestens hier wird es deutlich, scheint eine Art „Anti-Tirol“ zu sein, ein Ort, der einen vor den Auswüchsen der Sport- und Spaßkultur verschont.
Ganz in diesem Sinn hat sich die lokale Tourismusorganisation etwas Besonderes einfallen lassen: eine winterliche Streckenwanderung durch das Hochtal, mit Ausgangs- und Endpunkt in Leutasch, einem der insgesamt fünf Orte der Region. Dazwischen liegen vier Wandertage, in denen man sich von Ort zu Ort bewegt, wie im Sommer, nur dass der Schnee unter den Sohlen knirscht. Wer das Package bucht, erhält ein Booklet mit der Beschreibung der gepfadeten Strecke und die Vouchers für die vorgebuchten Zimmer, darf sich dann aber in Eigenregie durchschlagen, während das große Gepäck transportiert wird. Statt einzelne Tageswanderungen macht man eine kleine Winterreise – ein Angebot, das seinesgleichen sucht. Entsprechend groß ist die Nachfrage: Wer dabei sein will, sollte nicht zu lange warten. Es gibt nämlich nur 24 Plätze. Limitierender Faktor ist die gemütliche Wettersteinhütte, die sonst aus allen Nähten platzen würde. Sie wegen dieser Beschränkung aus dem Programm zu nehmen, käme dennoch niemandem in den Sinn: 1770 Meter hoch am Südhang des gleichnamigen Gebirgszugs gelegen, ist sie nicht nur in topografischer Hinsicht der Höhepunkt der Route.
In der kalten Jahreszeit kann man sie wahrlich gut brauchen. Sich wie im Sommer bei Ermüdung einfach eine halbe Stunde in die Wiese zu legen, geht im Winter nun mal nicht. An der versteckt gelegenen Lottenseehütte kommt man sogar zweimal vorbei. Sie hat ihren Namen von dem eigentümlichen Natursee, der sich aus unterirdischen Karstspalten speist. Eigentümlich deshalb, weil er nur in den Jahren entsteht, in denen im Frühjahr viel Regen fällt, und weil er im Herbst regelmäßig wieder verschwindet.
Blendet man eine Hochspannungsleitung im Hintergrund aus, fühlt man sich beim Blick auf die tief verschneite Mulde an eine der berühmten Winterszenen erinnert, die Pieter Brueghel im 16. Jahrhundert gemalt hat. Auf der einen Seite drehen Menschen auf Langlaufski gemächlich ihre Runden, auf der anderen sausen Kinder auf ihren Schlitten in die Senke hinunter, begleitet von zwei Hunden, denen es offenbar nicht weniger Spaß macht, durch den Schnee zu tollen. Der australische Retriever des Hüttenwarts dagegen hat sich an den Rand der Aussichtsterrasse gesetzt und betrachtet das muntere Treiben sehnsuchtsvoll. Winterfreuden von heute mit nostalgischem Touch, ohne Förderbänder, Schneekanonen und Flutlichtmasten.
Abwechslungsreiche Wanderetappe
Losmarschiert sind wir an diesem Morgen in Mösern, einem Dörfchen in begnadeter Panoramalage hoch über dem Inntal. Daniela Heidkamp, die freundliche Besitzerin unseres Hotels, hatte viel Spaß gewünscht, aber auch zu bedenken gegeben, dass wir ganz schön ins Schwitzen kommen werden: „Nachdem ihr schon zehn Kilometer auf Schnee in den Beinen habt, geht es dann noch 500 Höhenmeter hinauf!“ Uns konnte sie damit nicht schrecken, wir waren ja zum Wandern gekommen und nicht zum Spazierengehen.
Eine abwechslungsreichere Wanderetappe lässt sich kaum denken: Nach einer aussichtsreichen Querung schneebedeckter Wiesen taucht man in einen lichten Nadelmischwald ein. Nicht auf einer trostlosen Forstschneise, sondern auf einem Weg nach menschlichem Maß – gerade mal so breit, dass zwei Wandernde bequem nebeneinander gehen können. Auch dies eine Besonderheit: Statt mit gewöhnlichen Pistenraupen werden die Wege mit speziellen Spurmaschinen präpariert, die den neu gefallenen Schnee in die Umgebung schleudern.
Irgendwann verklingt auch das Dauerrauschen, das von der 600 Meter tiefer verlaufenden Inntalautobahn heraufschallt. Das einzige Geräusch, das man jetzt noch hört, ist das Knarzen des Schnees unter den Sohlen. Keine Straße weit und breit, auch keine Siedlung und keine Windkraftanlage. Im Taleinschnitt des „Katzenlochs“ fühlt man sich der Welt dann vollends enthoben. Nur noch das Glucksen des Bächleins ist zu hören, dem der Wanderweg folgt. Wenn ein kleiner Windstoß in die Wipfel fährt, rieselt glitzernder Schnee nach unten – Winterzauber.
Haupttrumpf ist das ausgefeilte Wegenetz
Das waldreiche Gelände zwischen Seefeld und Leutasch bietet sich auch deshalb als Dorado fürs Winterwandern an, weil hier selbst dann noch viel Schnee liegt, wenn im benachbarten Mittenwald schon alles grün ist. Zudem gibt es viele Passagen, in denen es nicht ständig rauf und runter geht. Der Haupttrumpf ist freilich das ausgefeilte Streckennetz. Es ist so groß, dass man eine ganze Woche unterwegs sein kann, ohne zweimal denselben Weg zu laufen.
Am Nachmittag wird es dann doch ernster. Nach Überquerung der glasklaren Leutascher Ache beginnt der fast zweistündige Aufstieg zur Wettersteinhütte. Leider hat die Sonne den gepressten Schnee schon etwas angetaut, so dass man bei jedem Schritt ein paar Zentimeter einsinkt und hin und wieder auch ein bisschen zurückrutscht. Tatsächlich sind beim Winterwandern die Anstrengungen und die damit verbundenen Laufzeiten im Vorhinein nur schwer zu kalkulieren. Bei einer Verschnaufpause auf einer freigeschaufelten Aussichtsbank wird uns deutlich, wie dankbar wir für die maschinelle Wegepräparation sein können: Fasziniert beobachten wir, wie sich ein halbes Dutzend Hirschkühe am Gegenhang einen Weg durch den tiefen Schnee bahnt. Auf der Flucht sind die Tiere nicht – die Anführerin probiert verschiedene Schneefelder aus, bis sie eines findet, wo sie nicht bis zum Rumpf einsinkt. Ob die Tiere wissen, wo genau sie hinwollen? Zum Bach hinunter oder zu einer bekannten Futterstelle?
Auch wir wollen zu unserer Futterstelle und haben laut der pinkfarbenen Wegmarkierung immer noch zwei Kilometer vor uns. Endlich wird es etwas flacher und der Mischwald lichter. Über uns tauchen die Felswände des Wettersteinmassivs auf und etwas später auch die Hütte – leider viel weiter oben als erwartet. Zum Schluss wird es noch einmal so steil, dass wir kurz davor sind, die Krampen aus dem Rucksack zu holen – auch wir hatten uns das Streckenwandern im Schnee etwas leichter vorgestellt! Auf der sonnenbeschienenen Hüttenterrasse sind die Strapazen dann schnell wieder vergessen. An die warme Holzwand gelehnt, genießen wir Tiroler Käsknödel und das unvergleichliche Panorama auf die Sellrainer und Stubaier Alpen. Die Sorge, die Sonne könnte bald hinter der gewaltigen Hohen Munde verschwinden, erweist sich als unbegründet. Obwohl es irgendwann dann doch etwas kühl wird, bleiben wir bis zum Sonnenuntergang draußen sitzen. So oft kommt es ja nicht vor, dass man mitten im Winter die Nacht auf einer Hütte verbringt, zu der weder eine Straße noch ein Skilift hinaufführen.