Wasser-Radlwege Oberbayern
Landschaftsschutzgebiet Südufer Walchensee: Ein Sonntag morgen im Juli 2020. Es sind 15 Grad und es geht kein Lüftchen. Der türkise See liegt still da. Noch ist es ringsum ruhig. Die ersten Sonnenstrahlen streichen vom Jochberg her über das satte Grün der Mischwälder. Doch schon mischt sich ins Vogelgezwitscher das Brummen der Blechlawine. Vom Alpenvorland her rollt sie durch das Gebirge und wird sich schon bald in vielen Tälern festsetzen.
Meine Frau Monika und ich fahren auf unseren Rädern ostwärts über das Mautsträßchen. Hier legen die im Jahr 2019 ein gerichteten Wasser-Radlwege Oberbayern ihre schönsten acht Kilometer in die Landschaft. Doch schon bald ist es vorbei mit dem Radlgenuss. Der Ansturm auf die begehrten Liegeplätze am Walchensee hat begonnen: Pkw, Camperbusse, Motorräder. Noch dominieren die einheimischen Kennzeichen wie „TÖL“ oder „GAP“. In ein, zwei Stunden folgt das „M“. Die Münchner fürchtet man hier schon wegen ihrer schieren Anzahl.
Ruhige Täler abseits der Route
Auch wir sind aus München, begonnen haben wir unsere Tour aber vor vier Tagen in Lindau. Es ist unsere dritte Radreise längs der bayerischen Berge. Vor zehn Jahren sind wir die Tour vom Bodensee zum Königssee das letzte Mal geradelt. Im Sommer 2020 heißt es Abstand halten. Daher variieren wir die Hauptroute und schwenken an mehreren Stellen tiefer in die Stille des Gebirges hinein. Auf den zehn Etappen wollen wir jene Flecken aufspüren, die es weniger hart getroffen hat als den Walchensee.
Zu Beginn ist der Bodensee-Königssee-Radweg die beste Wahl. Lindau macht den Anfang. An der Hafeneinfahrt schicken der Neue Leuchtturm und der steinerne Bayerische Löwe die Radler auf Tour. Gut ausgebaut und beschildert zieht sich die Radroute hinauf ins Allgäu. Kopf und Beine erinnern sich wieder an die Stationen der letzten Reisen. In die vertrauten Bilder mischen sich neue. Sogleich packt uns der Blick, über die Wiesen hinweg, auf die Wälder und Gipfel.
Am zweiten Tag geht es südlich von Oberstaufen in den Naturpark Nagelfluhkette. Vom Übernachtungsort Schindelberg sind es nur fünf Kilometer bis zur ersten Naturattraktion – den Buchenegger Wasserfällen. Die Weißach hat sich hier in Millionen von Jahren tief in das Gestein gegraben. Morgens um sechs sperren wir die Räder unter einem Baum ab und tapsen den Treppensteig hinunter in die Klamm. Der Bach stürzt über zwei Geländestufen und zieht einen kühlen Schleier hinter sich her. Wir lassen uns vom Zauber dieses verborgenen Fleckens einhüllen und bleiben so lange, bis schließlich die ersten Besucher auftauchen.
Jenseits des Parkplatzes der Hochgratbahn ist die Straße für Autos gesperrt. Einem Tanzpaar gleich, folgen Weg und Bach einander, tiefer ins Ehrenschwanger Tal. Die Weißach führt, sie gibt das Terrain vor. Wir radeln mal rechts, mal links vom dahinjagenden Wasser. Das Asphaltsträßchen steigt in Serpentinen den Nadelwald empor. Oben wird es derart steil, dass wir ein Stück schieben.
9:30 Uhr. Auf 1150 Metern Höhe weichen die Bäume. Sie machen Platz für die Alpe Unteregg. Auf der Terrasse genießen zwei Wanderer die wärmenden Sonnenstrahlen. Wir tun es ihnen gleich, setzen uns an einen der Nachbartische und lassen den Blick schweifen. Ringsum weidet Allgäuer Braunvieh neben Haflinger Pferden. Hinter den Wiesen steigt der Nadelwald an, darüber erhebt sich die gezackte Nagelfluhkette. Eine üppige Käseplatte liefert Energie für den nächsten Anstieg am Nachmittag.
Dank des Booms entstehen neue Wege
Auf dieser Fahrt verknüpfen wir Radwege und Mountainbikerouten. Mit dem aktuellen Radboom entstehen im Lande neue Wege und bestehende werden optimiert. Endlich. Der wohl beste Kenner des Routennetzes im Allgäu ist Andreas Ampßler. Der Geschäftsführer des Planungsbüros „top plan“ gehört zu einer gefragten Berufsgruppe. Andreas kreiert Streckennetze. Am Morgen des dritten Reisetages sind wir mit ihm am Skilift in der Tiroler Exklave Jungholz verabredet. Wir wollen ein Stück des Weges gemeinsam zurücklegen.
Während wir im kleinen Gang durch die Wiesen fahren, erzählt Andreas von seiner Arbeit. „Unterwegs nehmen wir verschiedene Sachen auf: Beschilderung, Verkehrssicherheit, Wegezustand, Wegebreite.“ Er erklärt, was im Allgäu anders läuft. „Ein gutes Beispiel ist Füssen. Der Forggensee-Radweg tangiert weder die Füssener Altstadt noch Schloss Neuschwanstein. So kann man Radler verkehrsarm an Schwangau und Füssen vorbeiführen.“
Die Straße durch die Gemeinde Jungholz endet. Der nun schmale Weg kippt nach rechts und führt in vier Spitzkehren durch den Wald zur Vils. Andreas richtet ein Schild aus, weiter unten am Fluss notiert er in seine Planungs-App den Hinweis: „steile Abfahrt“. Als wir an einem Gatter die Räder über eine Treppe hieven, macht er Fotos vom Hindernis. Zurück in Bayern, rollen wir nach Pfronten hinab. Andreas verrät uns, dass dieser Weg im kommenden Jahr zum Streckennetz „Naturbiken Allgäu“ gehören wird. „Auch eure Tour durch die Nagelfluhkette gehört dann zu einer der Schleifen.“
Der vierte Morgen ist so einer, an dem man sich daheim im Bett noch mal umdreht und eine Stunde weiter schläft. Tief hängende Wolken ziehen über das Schloss Neuschwanstein hinweg. Wir passen eine Regenpause ab und fahren an den Bergen entlang. Hinter dem Bannwaldsee führt der Halblech in die Ammergauer Alpen. Halblech und Halbammer entspringen nah beieinander im Herzen der Gebirgsgruppe. Den einen Wasserlauf verschlägt es Richtung Westen, den anderen Richtung Osten. An beiden führen Forststraßen in die Höhe. Wer sie verbindet, kann den 30 Kilometer langen Bergzug queren. Was wir noch nicht ahnen: Vor uns liegt die schönste Etappe.
Das Wasser des Halblech schäumt in seinem felsigen Bett. Oft hat das Wildwasser im tief eingeschnittenen Tal den Weg geflutet. Wo Radler heute die Tour „Um den Trauchberg“ genießen, transportierte man früher die im Gebirge abgebauten Wetzsteine ins Alpenvorland. Immer wieder erinnern Votivtafeln und filigran geschnitzte Jesuskreuze an die Mühen der vergangenen Tage. Es läuft gut, die Beine kreisen von allein. Wir schauen uns unentwegt um, so viele Eindrücke. Der Wald wirkt so urig, als wäre er, zu Zeiten von König Ludwig II., in einen Dornröschenschlaf gefallen. Farne greifen nach dem Schotterweg. Dahinter knorrige, mit Moos bepackte Stämme. Kein Wunder, dass bei der Suche nach einem neuen Nationalpark immer wieder der Name Ammergebirge fällt.
So wechselhaft wie das Auf und Ab der Topografie sind die landschaftlichen Eindrücke bei unserer Fahrt. Das Wochenende in der Tourmitte steht an. Im Graswangtal führen gute Radwege vorbei an Schloss Linderhof. Dahinter tasten wir uns im Verkehr zum Plansee. In einer Radlerkarawane geht es nach Garmisch-Partenkirchen. Trubel in der Stadt, Aufatmen in Wallgau. Anderntags die Bilder am Walchensee. Sogar die sonst so ruhige Jachenau wird an diesem Sonntag von Ausflüglern überrannt. Wir sind froh über den neuen Radweg im Tal. Die Isar runter, durch die Attenloher Filze zum Tegernsee, Übernachtung im Bergsteigerdorf Kreuth und rein in die nächste stille Waldpassage. Sie führt über den Elendsattel zur Elendalm und durch das Kloo-Ascher-Tal bis zum Wasserfall am Tatzelwurm. Wer denkt sich solche Namen aus? Egal. Schön ist es hier. Überall. Wir schippern mit der „MS Josef“ hinüber nach Herrenchiemsee. Auf diese Insel hat Ludwig II. seinen größten Prachtbau mit dem grandiosen Blick auf die Berge gesetzt. Berge waren, neben dem Schlösser-Bauen, seine zweite Leidenschaft. Südlich von Ruhpolding führt unsere Reise wieder hinein ins Gebirge. Bis zum Königssee sind es noch 56 Kilometer und 1250 Höhenmeter. So sitzen wir schon vor Sonnenaufgang im Sattel. Vorbei am Biathlonstadion und dem Lanzelecker Bach schnaufen wir zur Kaitlalm hinauf. Seit Tagen ertappe ich mich dabei, dass ich es dem Routenplaner Andreas Ampßler gleichtue und in Gedanken an der Qualität der Radrouten rumfeile.
Die nächste Bikeroute trägt den Namen „Auf den Spuren der Salzsäumer“. Die Schilder sehen in die Jahre gekommen aus. Wenn auch nicht ganz so alt wie die ehemalige Soleleitung, die sich nebenan, durch die Büsche, den Berg hinaufzieht. Wir stehen vor der „Himmelsleiter“, wie eine Infotafel verrät. Die Pipeline leitete das begehrte Gut von Bad Reichenhall nach Traunstein. Drei Jahre hat der Bau gedauert, 1619 war sie fertig. Auf dem letzten Teilstück ragen die Berchtesgadener Alpen steil in den weißblauen Himmel. Der Bodensee-Königssee-Radweg steigt nun im Waldberg an. Mal rauscht nebenan die B20, mal ist es ruhig. Auf Bischofswiesen folgt Berchtesgaden. Dann zieht sich der geschotterte Weg an der Seite der Königsseer Ache entlang zum Reiseziel.
Zu Fuß geht es zum Finale
Das Finale sparen wir uns für den späten Nachmittag auf. Zu Fuß geht es über den Wanderweg Malerwinkel hinauf zur Rabenwand. Die meisten Menschen kommen uns bereits von oben entgegen. In den letzten zehn Tagen sind wir 560 Kilometer und 9500 Höhenmeter geradelt. Jetzt, beim Wandern, fangen die Beine zu brennen an und wir sind froh, als wir den Aussichtspunkt erreichen.
Nun legt sich der schönste See im Lande direkt vor uns geschmeidig und grün leuchtend in die Berge. Er hat Glück, die Flanken fallen zum Wasser so steil ab, dass kein Platz für eine Straße blieb. Wilde Natur, geschützt im Nationalpark Berchtesgaden. Die Sonne senkt sich über dem Königssee. Wie in einem riesigen Trichter nimmt die Nordwestflanke des Hagengebirges die Sonnenstrahlen auf. Unten gleiten zwei Elektroboote lautlos durch den Bergschatten, in Richtung Schönau. Mir fallen die ruhigen Momente dieser Radtour ein. Der Morgen in Lindau, die Fahrt durch die Nagelfluhkette und besonders die Waldpassage durch die Ammergauer Alpen. Es gibt sie noch, die verborgenen Wege durchs Gebirge.