Lose Elemente und Bohrer liegen vor Kletterwand
Der Routenbau hat für die Athletinnen und Athleten Einfluss auf Sieg oder Niederlage. Foto: DAV/Hannes Kutzka

Spannungsfeld Routenbau

Er ist entscheidend für den Wettkampfverlauf und dessen Attraktivität – und er entscheidet mit über Sieg oder Niederlage. Der Routenbau hat sich in den vergangenen Jahren extrem verändert und die Diskussion, wo es hingehen soll, wird immer intensiver. Wir sprechen mit dem Bundestrainer, einem internationalen Routesetter, einem Kaderathleten und einer -athletin über das Spannungsfeld Routenbau.

Die Weltcup-Premiere im Lead wurde 1991 in Wien gefeiert, sieben Jahre später, 1998, fand dann der erste Boulder-Weltcup im französischen Val-d'Isère statt. Damals wurde der Routenbau noch von Leisten dominiert, Volumen sah man kaum. Heute, gut 20 Jahre später, hat sich das Bild komplett verändert. Immer spektakulärer, abgefahrener sind vor allem die Boulder geschraubt. New School, Parkour-Style sind angesagt - Old School, „nur“ Kraft und Ausdauer an kleinen Leisten und Griffen, dagegen kaum mehr zu finden. Die Wettkämpfe sollen spektakulär sein, eine Show bieten, denn immer mehr – auch nicht kletternde – Menschen interessieren sich für diesen Trendsport. Das stellt nicht nur die Routenbauer*innen vor eine große Herausforderung, dadurch verändern sich auch die Ansprüche an die Athletinnen und Athleten: Sie müssen mittlerweile ein extrem breites Spektrum beherrschen, um erfolgreich zu sein.

Bundestrainer Ingo Filzwieser

Bundestrainer Ingo Filzwieser. Foto: Privat

„Der heutige Routenbau ist eine unglaublich schwierige Aufgabe, die Routesetter stehen unter großem Druck. Das hat aber nicht nur etwas mit der zunehmenden Medienpräsenz zu tun, die spektakuläre Wettkämpfe – Kritiker bezeichnen sie ja als Zirkusveranstaltungen – notwendig machen. Klettern ist seit 2021 im Olympischen Programm dabei, das verändert natürlich einiges. Medienpräsenz ist sicher wichtig – auch für uns, das macht unseren Sport einem breiten Publikum bekannt. Aber natürlich darf der Routenbau sich nicht ausschließlich daran orientieren. Von vier Bouldern im Finale sollte nur einer zum Herumspringen da sein, spektakulär sein, die anderen sollten aber zum Klettern da sein.

Die andere und große Herausforderung für die Routesetter ist das inzwischen sehr hohe Niveau der Top-Athleten - und dass sie so nah beieinander sind, dass es eine Gratwanderung wird, passend zu schrauben. Ein Wettkampf sollte in allen Runden selektiv sein. Es soll nicht zu leicht sein, aber auch keine Nullrunde geben – und das Finale sollte eine gute Rangliste ergeben. Um Athletinnen und Athleten aus der Wand zu holen, arbeitet der Routenbau inzwischen mit unstabilen Körperpositionen. Gerade die Boulder aber machen extreme Züge und Bewegungskombinationen notwendig. Einarmiges Anspringen in die Schulter oder ein Sprung in den gestreckten Ellbogen beispielsweise. Das sind aber eigentlich absolute No-gos, die eine riesige Verletzungsgefahr bergen. Auf dieses Problem sollten die Routesetter unbedingt einen größeren Fokus richten. Wir versuchen natürlich, das Training auch prophylaktisch auszurichten, unter anderem mit Übungen, die die Schulter stabilisieren. Aber auch das kann schlimme Verletzungen nicht verhindern, wir hatten im vergangenen Jahr eine ganze Reihe davon. Unser gesamtes Training hat sich aber durch den modernen Routenbau enorm verändert, es ist – einfach formuliert – eine Wiederholung von Bewegungskombinationen, die sukzessive erarbeitet werden, um dann im Wettkampf abgerufen werden zu können. Wir veranstalten auch immer wieder Workshops mit internationalen Routesettern, bei denen unser Kader gemeinsam mit den Schraubern an den Problemen arbeitet – das ist für beide Seiten wichtig und hilfreich.“

Alexander Megos, Athlet Bundeskader

Alex Megos chalkt auf, bevor er an den nächsten Boulder geht. Foto: Jan Virt

„Das Problem ist, dass es keine Regularien gibt. Und die Routesetter wollen sich oftmals - natürlich nicht immer - aus ganz verschiedenen Gründen profilieren und die coolsten, spektakulärsten Boulder an die Wand bringen… den Tripple-Dyno bei den Frauen beispielsweise, um dann ein Video von Janja, wie sie ihn macht, posten zu können. Ich denke, dass die Routesetter ihren Job eher als Dienstleister sehen müssten und weniger eine künstlerische Meisterleistung liefern sollten. Natürlich hat Routenbau auch etwas mit Kunst zu tun, du musst dafür kreativ sein, Fantasie besitzen. Aber im Endeffekt sollte das Ziel ja sein, das Feld zu separieren und nicht, sich mit dem, was man an die Wand schraubt, zu profilieren.

Ich habe vor gut zehn Jahren, das war 2012 in München, an meinem ersten Boulder-Weltcup teilgenommen. Es gab zwar damals einen Toe-Hook-Catch, aber das war etwas ganz Ausgefallenes, absolut Abgefahrenes. Heutzutage findest du diesen oder den Weiterleiter bei den Wettkämpfen andauernd. Beim Lead ist heute schon im Halbfinale der Run-and-Jump gleich am Start oder der Sprung in der Mitte normal. Das ist deutlich seltener auf Fitness, auf das Festhalten von kleinen Griffen, geschraubt. Der Style ist inzwischen sehr dynamisch. Also die Verletzungsgefahr ist heute deutlich höher als früher. Ich klettere inzwischen aber vielleicht auch mit mehr Weitsicht als die jungen Athleten, die unbedingt toppen wollen und deshalb mit größerem Risiko klettern. Das Top ist natürlich das Ziel, aber nicht um jeden Preis. In Meiringen bin ich im vergangenen Jahr beispielsweise von einem Boulder abgesprungen, weil ich Angst hatte, mich sonst zu verletzen.

Ich hoffe für uns Athleten, dass die momentane Entwicklung im Routenbau bald einen Umkehrpunkt erreichen wird. Abgefahrene, spektakuläre Boulder werden wohl immer geschraubt werden, aber ich hoffe, es wird ein gutes Mittelding gefunden. Es wäre sicher sinnvoll, wenn sich Athletinnen, Athleten und die internationalen Routesetter an einen Tisch setzen und sich in aller Ruhe austauschen würden. Meistens findet ein Wortwechsel ja an einem Quali-Tag statt, wenn ein vom Ergebnis enttäuschter Athlet noch voll emotional auf Insta postet, dass der Routenbau scheiße war - und dann wird natürlich zurückgeschossen. Das ist der Sache aber sicher nicht förderlich.“

Christian Bindhammer, internationaler Routenbauer

Christian Bindhammer testet sein Werk. Foto: DAV/Pavlo Vekla

„Das Problem ist, von der Schwierigkeit her die Mitte zu treffen. Und das ist nicht ganz leicht, das ist einfach von enorm vielen Faktoren abhängig – wie der Tagesform der Athletinnen und Athleten. Die Routesetter beobachten natürlich jede Runde und bessern nach, aber Garantien gibt es nun mal keine. Beim Lead-Weltcup in Chamonix 2022 gab es bei den Frauen beispielsweise vier Tops. Nicht optimal, aber das kann vorkommen. Die Athleten haben mittlerweile ein ähnliches Niveau, dass dann auch ein ähnliches Resultat herauskommt, ist wahrscheinlich. Das ist ganz eng, vor allem auch beim Bouldern. Es ist schwierig einzuschätzen, ob ein Boulder noch so gerade geht, alle versagen oder alle hochkommen. Und dann passiert es auch immer wieder, dass einer einen Boulder flasht - und alle anderen keinen Move machen. Was mich daher viel mehr überrascht, ist, dass es bei den meisten Wettkämpfen sehr gut funktioniert und sich somit auch bestätigt, dass sich die Routenbauer bereits auf einem extrem hohen professionellen Niveau bewegen.

Wir Routenbauer versuchen, Neues zu bieten, kreieren neue Moves und Bewegungsabfolgen. Vielseitigkeit muss gewährleistet sein. Der Zuschauer muss unterhalten werden – und durch die Olympischen Spiele werden es immer mehr, auch nicht so kletter-affine. Heutzutage finden sich vor allem Volumen, Makro-Griffe, runde Teile, Shapes an der Wand. Das Material hat sich in den vergangenen Jahren wahnsinnig verändert, genauso die Optik. Viel mehr voluminöse Griffe werden verwendet, früher dagegen war es ein eher klassisches, felsähnliches Klettern, da ging es darum, Griffe zu halten. Grundsätzlich ist das inzwischen mehr eine 3-D-Kletterei. Heute ist alles deutlich dynamischer und risikoreicher. Es gibt inzwischen für die Athletinnen und Athleten eine super Trainingsinfrastruktur, die erreichen ein ganz anderes Fitnesslevel – es gab einen großen Schritt nach vorne. Und der Routenbau hat sich dem natürlich auch angepasst. Wir müssen Athleten, um sie aus der Wand zu bringen, unter Stress setzen. Beim Lead geht es beispielsweise darum, in der Tour für oben Kraft zu sparen - und das bietet uns ein Element. Wir bringen unten Druck durch unsichere, unbequeme Positionen und Moves rein und fragen so die Risikobereitschaft ab. Kleine Leisten und Campus-Moves kann jeder Kletterer – wir müssen uns daher immer Kreatives einfallen lassen, um ein gutes Ranking und eine perfekte Show abzuliefern.“

Hannah Meul, Athletin Bundeskader und Vize-Europameisterin

Hannah Meul bei der EM in München 2022. Foto: DAV/Marco Kost

„Es hat sich einiges verändert, mit dem Routenbau von früher ist der heutige nicht mehr vergleichbar. Das geht vor allem beim Bouldern in die Parkour-Richtung – Old School findet sich kaum noch. Beeinflusst wurde diese Entwicklung sicher mit durch den Wechsel in den vergangenen zwei, drei Jahren bei den Weltcup-Startern, vor allem bei den Frauen. Heute sind die 20- bis 25-Jährigen an der Spitze. Das ist jetzt eine andere Generation - und das spiegelt sich auch in einer ganz anderen Kletterei wider. Wir sind so reingewachsen, wir haben von Kindesbeinen an New School trainiert. Bei den Frauen ist das Feld inzwischen unendlich stark, auch sie können super schwere Routen klettern, sie können nicht nur Ausdauer. Die Limits werden immer mehr gepusht – und das hat natürlich auch den Routenbau beeinflusst. Klettern sind keine Grenzen mehr gesetzt.

Klettern ist inzwischen auch olympisch, das bedeutet, dass es für die Medien attraktiv sein soll. Wettkämpfe müssen – vor allem im Finale - spektakulär sein. Da finden sich sehr dynamische, athletische Züge und Bewegungsabfolgen oder eben auch der Parkour-Stil. Das ist für Zuschauer wesentlich interessanter als die eher stupiden Rechts-Links-Baller-Boulder. Ich denke, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. Aber beim Routenbau sollten immer die Athletinnen und Athleten im Vordergrund stehen, es sollte kein großes Verletzungsrisiko geben und die Aufgaben, die wir bekommen, sollten machbar sein… wir sollten daran Freude haben. Die Performance aber ist immer tagesabhängig. Manche Runden laufen super, andere taugen dir dagegen gar nicht. Wenn es mal nicht so läuft, dann dafür den Routenbau zu kritisieren, ist mir persönlich zu einfach.

Grundsätzlich sind wir auf alles vorbereitet, wir trainieren ja entsprechend. Das Verletzungsrisiko steigt aber natürlich durch riskante Züge und wir müssen in der Winterphase eine gute Muskulatur und Stabilität aufbauen, um den anspruchsvollen Bewegungen standhalten zu können. Im Wintertraining bin ich etwa 40 Prozent der Zeit im Kraftraum, trainiere mit Gewicht oder Eigenkörpergewicht, Ringen und Core. In der Wettkampfsaison bin ich dann etwa 70 bis 80 Prozent an der Wand, die restlichen 20 bis 30 Prozent geht es um Spritzigkeit, Campusboard-Training oder ich mache Yoga. Wir, die Athleten, sind auf den Routenbau angewiesen – und ich freue mich auf jeden neuen Boulder und jede neue Route.“

Spannend für den Routesetter: Wird der Boulder so geklettert, wie er es sich gedacht hat? Foto: Rene Oberkirch

Text / Protokolle: Gudrun Regelein

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