Seit etlichen Jahren schon tausche ich im Sommer gelegentlich meinen Schreibtischstuhl gegen einen Melkschemel, um ein paar Wochen oder Monate in den Bergen verbringen zu können. Gehe zum Arbeiten auf eine Alm oder Alp, möglichst in einer Region, die ich noch nicht kenne. Im Sommer 2021 arbeite ich einige Wochen als Almhilfe im oberen Ossolatal im Piemont. Der Tag beginnt um fünf mit Melken. Während die Milch im Kessel einlabt, gibt’s Frühstück, dann wird die Milch der 35 Kühe weiterverarbeitet zu Käse, Joghurt und Butter. Unsere Tage sind gut ausgefüllt mit Arbeit, aber auch der Spaß kommt nicht zu kurz. Anfang Juli geht es von der unteren Alm in Nembro, wo wir die ersten fünf Wochen sind, 500 Höhenmeter weiter nach oben auf die ausgedehnten Almweiden der Alpe Veglia. Almauftrieb, das klingt so romantisch, bedeutet jedoch vor allem eines: viel Organisation und ein paar Tage zusätzliche Arbeit. Denn es sind ja nicht nur die Kühe, die nach oben wandern: Hühner, Hund und Katzen mitsamt Verpflegung für Mensch und Vieh – alles muss mit. Und dann noch der Stromgenerator für den Weidemelkstand, die Melkmaschinen, Salzlecksteine, die Eimer und das Melkfett, die Käsereifen und die Käsetücher, die Zentrifuge fürs Abrahmen, das Bittersalz für den Ricotta, Werkzeug und Verbandsmaterial, unsere persönlichen Sachen von Gummistiefeln über Regenzeug bis hin zur Zahnbürste und, und, und ...
Almauftrieb - eine archaische Lebensform
„Transumanza“ lautet das italienische Wort für unseren Umzug. Es bedeutet für die Alpe der Familie De Giuli, eine Dreistufen-Almwirtschaft zu betreiben, eine im Grunde archaische Lebensform. Seit Jahrhunderten ziehen Bergbauernfamilien aus dem oberen Ossolatal durch die enge Schlucht, die der Fluss Cairasca gegraben hat, mit ihren Tieren hoch zur Alpe Veglia. Und Giuseppe De Giuli macht es mit seiner Familie heute nicht viel anders. Er ist Almbauer wie seine Vorfahren, nutzt dabei aber auch gerne mal moderne Methoden. Als 14-Jähriger musste er noch mit dem Hirtenstock hinter den Kühen herlaufen und sie ganztags hüten. Heute kontrolliert er elektrische Weidezäune oder holt die Tiere gelegentlich mit dem E-Bike zum Melken. Und drunten in Nembro reift der wertvolle „Grasso d’Alpe“, der Alpkäse, im ausrangierten Container eines Übersee-Frachtschiffs – absolut sicher vor Mäusen und Fliegen und unter idealen Bedingungen. Giuseppe arbeitete als Hirte auf verschiedenen Almen im oberen Ossolatal, bevor er den Betrieb seines Vaters übernahm. Auf der Alm hat er auch seine Frau, Silke Derlien, kennengelernt.
Silke, die ursprünglich aus Norddeutschland stammt, kam als Bergwanderführerin ins Ossolatal. Zuvor hatte sie als Erlebnispädagogin einige Jahre in den Rocky Mountains gearbeitet. 2012 kam Sohn Danio zur Welt. Alle drei leben je nach Jahreszeit an unterschiedlichen Orten: Im Winter sind die Kühe im Stall in Crevoladossola. Ende Mai, Anfang Juni beginnt die Almzeit, und die ganze Familie zieht zunächst ins Cairascatal nach Nembro. Mitte Juli geht es weiter hoch zur Alpe Veglia. Dort bleiben sie mit ihren Tieren, solange es die Weide hergibt. Dann ziehen sie bis Ende Oktober zurück nach Nembro, wo das Weidegras inzwischen nachgewachsen ist. Ihre Arbeit im Sommer auf der Alm wäre nicht möglich ohne zusätzliche Freiwillige, die Silke und Giuseppe meist über WWOOF Italia, eine Netzwerkplattform für Freiwilligenarbeit auf ökologisch betriebenen Höfen, oder das Schweizer Älpler-Forum „z’Alp“ rekrutieren.
Hochebene als Naturpark
Es erscheint rätselhaft, warum der Naturpark Alpe Veglia und Alpe Devero – anders als das weiter südlich gelegene Val Grande oder das Maira-Tal – in Deutschland wenig bekannt ist. Was aber nicht heißt, dass die Region im Sommer einsam wäre. Vom Großraum Mailand aus bietet er sich als Ziel für Tages- und Wochenendausflüge an, und auch wer auf der GTA (Grande Traversata delle Alpi) unterwegs ist, durchstreift ihn gleich auf einer der ersten Etappen. Der Naturpark Alpe Veglia Devero ist ein gigantisches, von eiszeitlichen Gletschern geformtes Hochtal, das in Richtung Wallis von einigen imposanten Gipfeln umgeben ist: Helsenhorn (3272 m), Hillehorn (3181 m) Monte Rebbio (3192 m), Punta d'Aurona (2985 m) und Wasenhorn (3246 m). Majestätisch überragt sie alle mit 3553 Metern der Monte Leone, der höchste Berg der Lepontinischen Alpen.
Der zwischen 1898 und 1905 erbaute Simplon-Eisenbahntunnel verläuft direkt unter dem Monte-Leone-Massiv. Ihm verdankt der Naturpark letztlich seine Existenz – und die Tatsache, dass hier immer noch Kühe grasen. Denn nach den Plänen einer italienischen Elektrizitätsgesellschaft sollte die weite Veglia-Hochebene vor 50 Jahren in einem gewaltigen Stausee versinken. Doch es gab Widerstand aus Naturschutzkreisen und nach geologischen Untersuchungen auch ernsthafte Bedenken, dass der Simplontunnel durch den Druck der Wassermassen beschädigt werden könnte. Die Pläne für den Stausee verschwanden in den Schubladen – die Alpe Veglia wurde zum ersten regionalen Naturpark des Piemonts erklärt. Einige Jahre später folgte die benachbarte Alpe Devero als Naturpark nach, und seit 1995 gibt es den vereinigten „Parco Naturale Veglia e Devero“, der eng mit dem angrenzenden Schweizer Landschaftsschutzgebiet Binntal kooperiert.
Entlang der historischen Saum- und Schmugglerpfade lässt sich heute wunderbar grenzüberschreitend in Richtung Wallis wandern: über den Albrunpass (Bocchetta d’Arbola), den Geisspfad (Passo della Rossa), den Ritterpass (Passo di Boccareccio), die Furggubäumlicke (Forca d’Aurona) oder über den Chaltwasser- und Simplonpass. Das Haus, das die Parkverwaltung Silke und Giuseppe saisonal als Wohnhaus und „Almhütte“ verpachtet, liegt am Eingang zur Hochebene und ist zugleich Naturpark-Informationspunkt. Als ausgebildete Wanderführerin gibt Silke auch gerne Auskunft über die Gegend und Anregungen für Ausflüge. Man kann sich hier zugleich mit Lebensmitteln versorgen, die auf der Alpe produziert werden und von deren Verkauf die Familie lebt: Alpkäse und Joghurt, Ricotta und „Primo Sale“, eine regionale Frischkäse-Spezialität, die geschmacklich an Mozzarella erinnert.
Ungestörter Rückzugsraum
Schöner Zufall: Ein paar Tage nach unserem Auftrieb kommt der Schweizer Sagenerzähler und Kulturvermittler Andreas Weissen mit einer Wandergruppe der Schweizer Alpen-Initiative zur Käse-Verkostung am Haus vorbei. Er ist Autor eines Wanderführers, in dem der Naturpark ausführlich beschrieben ist. Weissen organisiert seit mehr als 25 Jahren Wanderwochen, im Wallis und im Piemont ebenso wie im gesamten Alpenraum. Er war neun Jahre Präsident der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA, arbeitete als Regionalkoordinator des WWF im Oberwallis und hat die Geschäftsstelle des Netzwerks Schweizer Pärke in Bern aufgebaut. Auf meine Frage, was für ihn das Besondere an diesem Almen-Hochtal ist, meint er: „Ich bin viel in den Alpen herumgekommen, doch ich kenne wenige noch vergleichbar intakte alte Almsiedlungen wie Cianciavero. Es gibt kaum Bausünden hier heroben.“ Die kann man zwar weiter unten im Skiresort San Domenico besichtigen – eine Dauerbaustelle, durch die man auf der Fahrt zum Parkplatz Ponte Campo kommt. Doch für ihn als „agropastoralen Nostalgiker“, wie Weissen scherzhaft meint, ist Veglia einfach „der Ort, an dem ich mich am schönsten suhlen kann“. Die Alpe ist nur zu Fuß erreichbar, „das selektioniert“. Nur einige wenige Einheimische dürfen die serpentinenreiche Bergstraße im Sommer mit dem Jeep befahren, im Winter versinkt die Veglia-Hochebene im Tiefschlaf – ungestörter Rückzugsraum für gefährdete Tierarten wie Steinbock und Birkhuhn.
Natur und Kultur Hand in Hand
Eiszeitliche Gletscher haben die alpine Hochebene ursprünglich geformt. Der Mensch hat daraus über Jahrhunderte die Almenlandschaft geschaffen, wie sie sich heute präsentiert: ausgedehnte Weiden, von denen Generationen von Menschen Felsen und Steine entfernt haben. An den Rändern und Berghängen darüber eine Zone mit Alpenrosen- und Blaubeerbüschen. Typisch für den Park sind auch Lärchenwälder mit herrlichen alten Bäumen, wie man sie sonst selten sieht. Die Häuser in den kleinen Almdörfern Cianciavero, La Balma, Airone und Cornú sind aus Stein und mit schiefergedeckten Dächern, wie sie für die romanisch besiedelten Gebiete in den Südalpen charakteristisch sind. Almen sind für Mensch und Tier wahrhaftig „Orte guten Lebens“, wie der Titel eines Buches von Werner Bätzing lautet. Der Professor für Kulturgeografie und Alpenforscher hat sich immer für die nachhaltige Entwicklung der Alpen eingesetzt und mit dem piemontesischen Weitwanderweg GTA den sanften Tourismus in dieser Region mit angestoßen. Der Park ist auch im europäischen Naturschutznetz Natura 2000 als Flora-Fauna-Habitat aufgelistet. Naturschutz, Tourismus und Almwirtschaft, das geht mit ein bisschen gutem Willen von allen Seiten gut zusammen.