Es ist Anfang Juli, das Einklettern im Kalk haben wir schon hinter uns, jetzt soll es Granit sein. Schnell konnte ich Christian davon überzeugen, dass ein etwas unbekannteres Ziel eine gute Wahl wäre. Schon zwei Jahre zuvor durfte ich im südlichen Gran-Paradiso-Nationalpark das Rifugio Pontese kennenlernen – und war begeistert. Gut kann ich mich noch an den rauen Hochgebirgsgranit und das einsame Ambiente im Vallone di Piantonetto erinnern. Genau das Richtige für uns. Warmklettern im Valle del Orco und dann Alpinklettern im Piantonetto war damals das Programm. Unterkunft bei Mara, der liebenswürdigen Hüttenwirtin des Rifugio Pontese, die ihre Gäste mit bester piemontesischer Küche verwöhnt. Mit „Pin-Up“ am Becco della Tribolazione (3360 m), gut gesicherten elf Seillängen bis 6a+ in feinstem Granit, hatte ich Blut geleckt. Eine Nacht im hoch gelegenen Bivaccho Carpano und 13 Seillängen bis 6c in „Hasta Siempre“ am Monte Nero (3422 m) machten mich dann völlig abhängig. Hier musste ich wieder her!
Breite Tourenauswahl mit alpinem Charakter
Mara empfängt uns herzlich, als wäre ich erst gestern da gewesen. Auch Gianni, ihr Lebenspartner, Bergführer und Autor des lokalen Kletterführers (siehe Infokasten) ist da. Ein fleißiger Erschließer und Sanierer in der Region. Schon beim Aufstieg vom Lago Telessio stach uns die tolle Pyramide des Becco della Tribolazione ins Auge. Trotz der Zweifel, ob wir wirklich schon gut für den granitenen Kaltstart gerüstet sind, entscheiden wir uns für deren Südostwand. Sie bietet mit 14 Touren von 240 bis 480 Meter Länge eine breite Auswahl mit alpinem Charakter. In knapp drei Stunden Zustieg nähern wir uns über Alpwiesen, Schotter, Schnee und schlussendlich in leichter Kletterei über den „Zoccolo“ an. Dann sind wir in der Grassi-Re unterwegs, einem beliebten Klassiker mit einer maximalen Schwierigkeit von 6a.
Die Stände sind saniert, statt eines Topo gibt es aber nur ein Wandfoto. Der Fels ist toller rauer Granit, aber schon in der zweiten Länge stellt sich die Frage „Wohin?“. Gleich mehrere Möglichkeiten bietet die Wand, mich lockt eine schöne Rissverschneidung. Zu spät wird klar, dass die zu weit nach links führt, und die Korrektur bringt uns über einen ausgesetzten kleinen Balkon zurück zur Originalroute. „Routenführung nicht immer leicht zu finden“, schrieb der Führerautor Gerd Klotz 2013 – wie wahr. Auch in der Folge nicht sicher, ob wir genau dem Weg der Erstbegeher folgen, erreichen wir in abwechslungsreicher, spannender und mit Keilen und Friends gut zu sichernder Kletterei den Gipfel. Die Aussicht ist fantastisch: Der Gran Paradiso scheint zum Greifen nahe, und der Monte Viso sticht im Westen einsam aus den Wolken. Abseilen, absteigen – wir sind gerade recht zum Abendessen auf der Pontese.
Aber auch kürzere Tage sind möglich. Im Umkreis von 15 bis 50 Minuten zur Hütte finden sich ausreichend alpine Spielplätze, die zum Teil durchgehend mit Bohrhaken gesichert sind. Tolle Klettereien, die einen „Hütten-Tag“ kurzweilig werden lassen. Auch wir nutzen die Gelegenheit an der „Testa Rossa“ und der „Bastionata“. Das nächste große Ziel ist wieder ein Klassiker. Die „Loredana“ am Becco di Valsoera (3369 m) führt in zehn Seillängen auf den Vorgipfel und ist saniert. Klingt doch gut. Einzig der Einstieg sei nicht leicht zu finden, wird uns berichtet. Die Warnung bestätigt sich. Über eine Stunde irren wir am Wandfuß umher, bis wir endlich durch eine Kombination aus Zufall, Glück und Ausschlussverfahren den so gar nicht offensichtlichen Einstieg entdecken. Dann allerdings folgt absoluter Genuss. Klassische, gut zu sichernde Risskletterei wechselt mit Wand- und Plattenpassagen. Die Blicke über das Vallone und in Richtung Tribolazione sind umwerfend. Die Routenfindung ist offensichtlich, der Fels ein Traum. Hochzufrieden kehren wir am Abend zur Hütte zurück und freuen uns auf Maras exzellente Küche und ein kühles Bier.
In vier Klettertagen lernten wir ein alpines Kleinod kennen. Italienische Gastfreundschaft und alpines Klettern mit einigem Plaisier machen einen Besuch auf dem Rifugio Pontese mehr als lohnenswert. Wir werden wiederkommen. Denn zu tun gibt es hier genügend.