Verantwortung tragen und Wissen weitergeben
Mit Max und Felix im Tessin
„Was meinst du, Max, das Geländer ist stabil genug, oder? Kannst du bitte Stand bauen und den Felix runter sichern? Ich gehe derweil zu meinem Standpunkt und baue dort alles auf.“ Auf Max ist Verlass, uneingeschränkt und in jeder Situation. Seit vielen Jahren sind wir gemeinsam unterwegs, und wo immer es möglich war, habe ich ihn an meinem Wissen und meiner Erfahrung aus 40 Jahren Bergsteigen, Klettern und Fotografie teilhaben lassen. Als Ausbilder bei der Bergwacht bringt er das technische Knowhow sowieso mit, aber was in meinen Augen mindestens genauso wichtig ist, ist das, was man nirgendwo lesen und auch in keinem Kurs lernen kann: Erfahrung und vor allem Intuition. Dafür muss man unterwegs sein, dafür müssen einem Hunderte, ja Tausende Touren in den Knochen stecken.
Und nicht nur dort. Intuition und Erfahrung sind nichts Messbares, man kann sie nur fühlen und dankbar annehmen. Sie stecken in den Zellen, in der Seele und irgendwie auch im Herzen derjenigen, die auf Berge steigen. Ich musste nicht lange überlegen, als ich die Tiefe dieser Schlucht am Ribo sah, selbst von dort, wo Felix sitzen oder stehen sollte, waren es mindestens noch mal 60 Meter bis in den Schluchtgrund.
Mein Gefühl sagte „sichern“, auch wenn es zusätzlichen Aufwand erforderte. Die Fotografie dort dauerte nur wenige Minuten. Der Platz war magisch, eine derart wilde und tiefe Schlucht, über Jahrmillionen monumental aus dem Gestein gearbeitet, ist selten. Aber ich spürte: „Das war noch nicht alles, hier geht noch mehr“. Wir kletterten im steilen Wald noch näher an die Schlucht heran, ein weiterer magischer Tiefblick öffnete sich vor meinen Füßen. O.k., hier geht es ohne Sicherung, der Fels ist trocken, auf dieser Rampe kann Felix relativ sicher ein paar Schritte aufsteigen. Auch hier musste ich diese klare Entscheidung nicht hinterfragen. Das gute Gefühl war da. In diesen Tagen war es eine Freude, mit Max und Felix hier zu arbeiten. Beide lieben die Berge, in den Augen beider konnte ich das Feuer sehen. Nur einen Tag später, oben am Klettersteig des Monte Generoso, wurde mir dann eines sehr, sehr klar: Nur wer Wissen weitergibt, kann auch Verantwortung abgeben. Aus beiden wird dann am Berg gelebtes Vertrauen.
Freundschaft annehmen und Dankbarkeit zeigen
Mit Mike am Lasörling (Osttirol)
Wer kennt sie nicht, die Begeisterung und manchmal auch die Überheblichkeit junger Jahre? Man (Mann) platzt schier vor Kraft und Motivation. Man (Mann) fühlt sich unschlagbar und unfehlbar. Gefühle zeigen? Fehlanzeige. Über Probleme reden? Wird überbewertet. Und trotz alledem geht Mike noch immer mit mir in die Berge. Viele tausend Seilschaften sind wohl nie über den Zustand der „Zweckgemeinschaft“ hinausgekommen. Klar, man erreicht auch so das eine oder andere Ziel, aber es ist nicht das Gleiche wie in einer gewachsenen, tiefen Freundschaft. Als wir die Lasörlinghütte verlassen, treten wir in eine mondlose, dunkle Nacht. Ohne Worte gehen wir los. Ich voraus, Mike hinterher. Wir finden unser Tempo. Erst am Gipfelgrat können wir in der heller werdenden Dämmerung die Stirnlampen ausschalten. Wow – wie schön! Ich beschleunige meinen Schritt, um ein paar Bilder zu machen. Dann warte ich wieder auf Mike. Und genau das war früher nicht so.
Und am Gipfel freuen wir uns wie kleine Kinder über ein magisch schönes Licht über den Dolomiten und den Hohen Tauern, über dramatische Wolken über uns und glitzernde Seen unter uns. Was für ein Moment. Mit knappen Worten bedanke ich mich bei Mike, ist er doch extra hierhergefahren – von Hinterwössen ins Virgental –, um mich auf diesen Gipfel zu begleiten. Es hat lange gedauert, bis ich so ein Geschenk und die Qualität unserer Freundschaft erkannt habe. Jetzt weiß ich sie zu schätzen, denn es ist nie zu spät.
Angst fühlen und Verzicht lernen
Mit Margit, Franz und Christian am Lochkogel (Stubaier Alpen)
Beschwingt folgen wir einem flachen Tälchen, weglos und einsam. Wir, das sind Margit, Christian, Franz und ich. Bald schon verschwindet die tief stehende Herbstsonne hinter dem zerklüfteten Grat der Reichenkarspitze. Mit einem Schlag wird es kühl, Margit zieht sich umgehend eine kuschlige Jacke an. Tja, wo und wie geht es hier weiter? Motiviert streben wir eine schräg abfallende Rampe an, die uns zum Südgrat des Lochkogels führen soll. Loses Geröll steilt sich vor uns auf. Ab jetzt wird aus der genussvollen Wanderung scheinbar echtes Bergsteigen. Ein Schritt vor und ein halber zurück. Die Oberschenkel brennen, der Atem geht schwer. Wir versuchen, in einer gut 35 Grad steilen Geröllflanke irgendwie an Höhe zu gewinnen. Alles um uns herum scheint lose und locker zu sein, alles rutscht und wackelt. Erst als wir die ersehnte Rampe erreichen, geht es sich etwas leichter. Wenig später treten wir aus dem Schatten zurück ins Licht. Die Sonne blendet in glasklarer Herbstluft. Ein Stück steigen wir noch höher, um uns auf einem flachen Absatz ins trockene Gras zu setzen. Um uns herum nur Stille und Weite, Schönheit und Friede. 1800 Höhenmeter tiefer verteilen sich die Häuser von Huben im flachen Talboden, weiter talein glitzern die Dächer von Sölden in der tief stehenden Sonne. Beim Blick über die Gipfel bekomme ich eine Gänsehaut: Über 60 Dreitausender erblicke ich unter einem tiefblauen Himmel.
Nach einer kurzen Rast geht es weiter, jedoch nur noch zu dritt: Christian will im warmen Gras liegen bleiben, zu brüchig und zu riskant erscheint ihm der Grat. Das Gelände wird tatsächlich schnell steiler und vor allem auch brüchig und ausgesetzt. Wir schleichen über schuttbedeckte Platten, queren im steilen Gras und versuchen, labile Blöcke am Grat möglichst wenig zu belasten. An ein paar Stellen spüre ich Angst, an zwei Passagen zögere ich und ja, es kommen auch erste Gedanken ans Umdrehen daher. Ein paar Mal beobachte ich Margit und Franz beim Klettern. Beide bewegen sich sicher und konzentriert. Seit über 40 Jahren gehen wir gemeinsam in die Berge. Wie immer kann ich ihren Willen und ihre Motivation, den Gipfel zu erreichen, regelrecht spüren. O.k. Bernd, lass dir Zeit und klettere langsam weiter. Momente der Sicherheit wechseln mit der latenten Angst, den Bogen zu überspannen. Ganz gleich, wo und wohin ich fallen würde, am Gipfelgrat des Lochkogels fällt man ein letztes Mal.
Dann werde ich wieder zuversichtlicher, ich spüre meine alte Sicherheit in diesem Gelände, Freude kommt auf, Hoffnung auf den Gipfel. Er ist gottlob nicht mehr weit. Gegenüber, vielleicht noch 20 oder 30 Meter entfernt, steht das Gipfelkreuz in gleicher Höhe. Ein paar letzte wackelige Blöcke müssen überklettert werden. Vorsichtig versuche ich es auf der Ostseite. Mein Gott, diese verdammten Blöcke sind komplett labil, mir scheint es so, als würden sie nur darauf warten, mit mir in die Tiefe zu stürzen. Warum auch immer, aber alle meine Sinne, meine Intuition und meine Erfahrung schreien: „Stopp, bis hierher und nicht weiter“.
„Du Franz, mir reicht’s, ich drehe um. Viel Spaß euch, seid vorsichtig.“ Wir sind Freunde, gute Freunde, aber es gibt Momente im Leben, da sind wir letztendlich doch alle für uns selbst verantwortlich. Ich weiß, dass ich den Grat problemlos allein abklettern kann, und Franz und Margit wissen, dass sie sicher zum Gipfel und zurück kommen. Dann beginne ich abzuklettern, im Leben verbleibend, glückselig auch ohne Gipfel. Als 30 Minuten später Franz und Margit zurückkommen, meinen sie nur: „So schlimm war’s eigentlich gar nicht“. Das freut mich für euch – von Herzen.
Geduld lernen, Einsamkeit ertragen und das Warten akzeptieren
(Nur) mit Bernd am Mont Chetiv (Mont-Blanc-Gebiet)
Mein Gott, war ich müde an diesem letzten Morgen auf dem Gipfel des Mont Chetiv. Drei Jahre lang hatte ich jeden freien Tag den „Alpengletschern“ geschenkt, hatte meine Frau und meine Tochter wieder einmal viel zu oft allein zu Hause gelassen. Aber meine DNA kann nicht anders, ich will und muss bei so einem Projekt alles geben, das heißt alle gesetzten Ziele, alle geplanten Touren, alle in meiner Fantasie erschaffenen Bilder auch umsetzen. Jetzt und hier zu Hause, wo ich diese Zeilen schreibe, lässt mich abermals eine Gänsehaut am ganzen Körper zittern – der Moment dort oben war tatsächlich magisch. Wie schon so oft in meinem Leben startete ich in völliger Dunkelheit. Den Beginn des schmalen Weges hatte ich schon am Vorabend erkundet. Still und gleichmäßig stieg ich höher. Meine Gedanken kreisten um das Buch, um das so gewaltig große Thema der „Alpengletscher“. Über mir Millionen Sterne, die Luft kalt und klar. Oben angekommen, legte ich den Rucksack auf eine Felsplatte und schaute mich um. Ich wollte alles zelebrieren, jeden Moment dieses letzten Shootings aufsaugen. Schnell fand ich schöne Standpunkte und baute das Stativ auf. Dieses Mal ganz langsam, dann zog ich mich um, trank ein paar Schlucke und ließ meinen Blick über die gesamte Südseite des Mont-Blanc-Massivs wandern. Was für eine episch schöne Landschaft. Dann begann – wie schon tausendmal zuvor – das Warten, wie so oft war ich viel zu früh dran. Daheim fehlt sie mir gelegentlich, die Geduld.
Wortlos saß ich da und schaute immer wieder auf die gleichen Grate und die gleichen Gletscher. Vor allem der Peutereygrat und der Brenvagletscher zogen mich in ihren Bann. Es gab Momente in dieser Stunde bis zum Sonnenaufgang, da hätte ich gerne einen guten Freund oder meine Familie an meiner Seite gehabt, um diese Momente zu teilen. Schnell aber war alles wieder gut. Plötzlich wurde ich ganz ruhig, ich hatte alle Zeit der Welt und genoss die Einsamkeit. Warum war alles wieder gut? Ganz einfach: Weil ich das Warten angenommen hatte. Wenig später ging die Sonne auf, so kraftvoll und so klar, wie es mein Geist in diesem Moment auch war. Mein Körper schwankte zwischen unbändiger Kraft und völliger Erschöpfung. Eine Stunde später war ich fertig, glücklich. Dankbar und zufrieden stieg ich wieder ab. Manchmal gibt es nichts Schlimmeres, als allein in den Bergen unterwegs sein zu müssen. Ganz oft jedoch gibt es für mich nichts Schöneres, als allein in den Bergen unterwegs sein zu dürfen.
Reden lernen und zuhören können
Mit Jolly auf der Krapfenkarspitze (Karwendel)
… und – leider nicht – am Mount Hunter (Alaska) „Bernd, ich fahre nicht mit zum Mount Hunter, … und außerdem ist Conny schwanger.“ Jollys Worte im April 1990 trafen mich ins Mark. Ich war schockiert und sprachlos, hatten wir doch in all den Jahren zuvor so viele wunderbare und wilde Touren zusammen erlebt und gemeistert, so viel Freude miteinander gehabt. In diesem Moment fehlten mir jedoch nicht nur die richtigen Worte, sondern, und das war viel schlimmer, ich hatte meine Fehler und vor allem die unausgesprochenen Probleme in unserer Freundschaft nicht mal ansatzweise verstanden.
Ja, wir – das waren dann noch Mike, Eddi und ich – bestiegen den Mount Hunter, aber ein so wichtiger Teil von uns fehlte – Jolly. Es sollte Jahre dauern, bis wir ganz langsam wieder zueinanderfanden und über die wirklichen Probleme, den wirklichen Grund seiner Absage und vor allem die damit verbundenen Gefühle reden konnten. Eine Seilschaft ist halt doch nicht nur eine erfolgsorientierte Zweckgemeinschaft am Berg, sondern ein Team mit Höhen und Tiefen, mit Gefühlen und Verletzbarkeit und manchmal auch mit unterschiedlichen Erwartungen. Empathie war damals für mich noch ein Fremdwort. Genau 30 Jahre später liegen wir im herbstlich goldenen Gras am Gipfel der Krapfenkarspitze. Wir reißen unsägliche Männerwitze, lachen über die eigenen Probleme und erzählen uns von den intimsten und persönlichsten Problemen. Beide haben wir in unseren Ehen anstrengende und nicht enden wollende Kapriolen und Krisen erlebt – und wir haben sie überlebt!
„Jolly, kannst du dich bitte mal links vom Kreuz auf diesen Stein setzen? Super – danke.“ Seit mehr als 35 Jahren kennt er dieses Spiel der Fotografie. Damals empfand ich es als „normal“, dass er mir „Model“ ist, heute bin ich dankbar dafür und versuche mich, wann immer es geht, dafür erkenntlich zu zeigen. Damals sagte ich sicher auch das eine oder andere Mal „Danke“, mehr aber auch nicht. Ich war nicht in der Lage, dieses so wichtige Gleichgewicht von „geben und nehmen“ in der Balance zu halten. Auch das war ein Grund für seine Absage am Mount Hunter. Ganz gleich, ob in Zweierseilschaft in brüchiger Wand oder im vermeintlich „sicheren Hafen der Ehe“: Auf Dauer hilft nur reden, reden, reden – und eben auch die Fähigkeit, zuzuhören.