Camping d‘Ailefroide um halb zehn, die Sonne blinzelt über den Horizont. Auf dem Campingtisch vor uns brodelt die Kaffeemaschine, es duftet nach frischen Croissants, die Finger blättern durch den Kletterführer. Der Blick wandert über die umliegenden Felswände. Einige Kletternde haben sich schon in Stellung gebracht und arbeiten sich wie kleine Ameisen der Sonne entgegen nach oben. Wild, steil und schroff schaut es überall aus, wo man auch hinblickt gibt es Wände, Grate, Türmchen. Unwillkürlich sucht das Auge überall nach logischen, kletterbaren Linien.
Ein alpines Betätigungsfeld der Extraklasse
Was wollen wir heute machen? Bouldern? Sportklettern in einem der Klettergärten? Eine alpine Mehrseillängenroute in Angriff nehmen? Auch 4000er-Hochtouren sind möglich. Alpinistische Wunschträume werden hier Wirklichkeit. Die Gegend am östlichen Fuß des Mont Pelvoux und der Barre des Écrins, etwa eine Autostunde westlich von Briançon, bietet nahezu alle alpinen Spielarten auf engstem Raum. Und in perfektem Granit mit teilweise plaisirmäßiger Absicherung.
Die Klettergärten erreicht man vom Campingplatz aus zu Fuß in nur wenigen Minuten. Ideal, um die Finger an den Fels zu gewöhnen und sich an die Eigenarten des Granitkletterns zu gewöhnen. Touren gibt es in dem verwinkelten Tal in allen Expositionen, von sonnig bis schattig ist so für alle was dabei. Und an den wirklich heißen Tagen bietet ein direkt vom Gletscher kommender aufgestauter Bergbach die perfekte Abkühlmöglichkeit. Allein ist man in den großartigen Mehrseillängen direkt am Campingplatz selten, doch in dieser entspannten Atmosphäre nutzt man die Gespräche an den geteilten Ständen gerne, um die Französischkenntnisse aufzufrischen oder sich weitere Klettertipps zu holen.
Wir machen uns nach ein paar entspannten Tagen auf die Jagd nach Himmelsleitern: luftige, alpine Klettertouren in wilder Umgebung. Unser Ziel ist die Überschreitung der Pointe des Cinéastes, ein spektakulärer Felsgrat aus Zacken und Türmchen mit atemberaubendem Blick auf die majestätische Sérac-behangene Ostflanke der Barre des Écrins und den von mächtigen Spalten durchzogenen Glacier Blanc. Die Tour lässt sich vom Tal aus in einem Tag inklusive Zu- und Abstieg bewältigen, wir bleiben aber zur besseren Akklimatisation für eine Nacht auf dem Refuge du Glacier Blanc. Immerhin führt die Tour bis auf über 3200 Meter und wir möchten ausreichend Zeit in dieser faszinierenden Landschaft verbringen.
Klettert man wie üblich über die fünf der insgesamt neun Spitzen des Grates, ist die Tour mit AD+ (Stellen bis V-) zu bewerten. Die Absicherung ist alpin, Haken finden sich lediglich in homöopathischer Dosis. Für das wohlige Sicherheitsgefühl fehlt es dennoch an Nichts, denn die Geländestruktur ist für mobile Absicherung wie Bandschlingen oder Cams ideal. Haken wären pure Verschwendung. Der Flow setzt mit dem Anlegen der Kletterpatschen ein, ein paar Züge am Grat und das Gefühl für Zeit und Raum löst sich allmählich auf. Die Kletterei ist ein Hochgenuss, der Blick schweift immer wieder über Gipfel und Gletscher. Viel zu früh stellen wir fest, dass wir bereits die fünf Türmchen überschritten haben und schon die finale Abseilstelle auf uns wartet.
Der Hüttenwirt ist gut informiert
Am Abend sitzen wir gemütlich auf dem Refuge des Écrins, der Hütte am Rand des Glacier Blanc, und erfahren vom Hüttenwirt alles zu den aktuellen Tourenverhältnissen. Wir planen die Barre des Écrins zu überschreiten, mit Zustieg über den Dôme de Neige. Der Wirt rät zu größter Vorsicht, wegen einer riesigen unüberwindbaren Spalte auf dem Normalweg muss in diesem Jahr in ein Couloir ausgewichen werden, das unterhalb einer Séraczone verläuft. Der Aufstiegsweg ist für die Dauer von etwa einer Dreiviertelstunde der Gefahr von Eisschlag ausgesetzt. Da es in der Woche zuvor bereits zu einem größeren Abgang gekommen ist und immer wieder Aktivitäten in dem Gletscherbruch zu vernehmen sind, entscheiden wir uns gegen den Gipfel, auch wenn dieser zum Greifen nahe scheint und sich einige Seilschaften trotz erhöhtem Risiko für den nächsten Tag in Stellung bringen. Der Klimawandel wird uns in den nächsten Jahren wohl immer häufiger in solche Situationen bringen.
Beschäftigungsalternativen mit geringerem Gefahrenpotenzial gibt es zum Glück jede Menge hier oben, an weniger bekannten Bergen mit teilweise sehr klangvollen Namen: Roche Faurio, Pic de Neige Cordier, Roche Paillon, Pointe Louise. Wir entscheiden uns für die Überschreitung des Pic du Glacier Blanc über den Südgrat, eine alpine Mehrseillängenroute unweit der Hütte. Mit Kletterstellen im maximal vierten Schwierigkeitsgrad ist diese Tour nicht allzu schwer, jedoch muss nahezu vollständig selbst abgesichert werden.
Selbst in fast 4000 Metern Höhe ist es außergewöhnlich warm
Die außergewöhnlich hohen Temperaturen durchkreuzen auch unsere ursprünglichen Pläne am Mont Pelvoux. Das Coolidge-Couloir, eine 35 Grad steile Eis- und Firnrinne auf der Südwestseite unterhalb des Gipfels ist still und leise verschwunden. Wochenlanger Sonnenschein und viel zu hohe Temperaturen haben den Schnee restlos aufgefressen und die Schlussetappe des Normalwegs kurz vor Erreichen des Gipfelplateaus in ein gefährliches Schussfeld für Steine und Felsen verwandelt. Wo vor nicht allzu langer Zeit noch Schnee und Firn den Berg zusammenhielt, bröselt jetzt der Untergrund und schickt Warnschüsse ins Tal. Die Nordroute über den Glacier des Violettes leidet ebenfalls unter Eisschlag und ist zudem mit jeder Menge Blankeis gespickt. Einzig die Route über Rochers Rouges mit Kraxelei im I-IIer Gelände (PD+) bleibt noch als verhältnismäßig sichere Möglichkeit, um zum Gipfel des Pelvoux zu gelangen. Mangels Alternativen ist auf dieser Route viel los und wir müssen dem einen oder anderen Stein, der von Seilschaften vor uns ausgelöst wird, ausweichen. Wenngleich nicht ganz so elegant wie die Nord-Süd-Überschreitung, ist die Gipfelbesteigung des Mont Pelvoux mit Auf- und Abstieg über denselben Weg trotzdem alle Mühen wert und belohnt mit einem unvergleichlichen Blick aus fast 4000 Metern Höhe (3946 Meter um genau zu sein) auf die umliegenden Berge der Dauphiné und des Piemonts mit dem markanten Monte Viso im Osten.
Sehr elegant ist dagegen die Überschreitung der Aiguille de Sialouze, ein Nord-Süd-ausgerichteter und mit zahlreichen „Gendarmen“ gespickter Felsgrat. Die Klettertour mit Stellen im unteren sechsten Schwierigkeitsgrad erinnert ein klein wenig an den Südgrat des Salbitschijen, nur dass man hier gute Chancen hat, allein in der Tour zu sein. Diese beiden Touren sind nur ein kleiner Teil der riesigen alpinen Spielwiese, die sich vom Refuge du Pelvoux aus auftut. Traumhafte Mehrseillängenrouten führen über besten Granit in äußerst alpinem Ambiente. Die Petit Pelvoux, die Aiguille du Pelvoux oder die weiteren Routen in der Südwand der Aiguille de Sialouze locken mit fantastischen Klettereien zwischen dem dritten und dem unteren neunten Schwierigkeitsgrad. Etwa 15 Kilometer nordwestlich von Ailefroide liegt das kleine Bergdorf La Bérarde. Es ist von den steilen Wänden des Vénéon-Tals umgeben, das tief in das Écrins-Massiv hineinreicht. Man fühlt sich dort ein wenig wie am Ende der Welt, noch vor dem Dorf hört die Straße auf und weiter geht es nur noch zu Fuß. La Bérarde besteht im Grunde nur aus einem kleinen Tante-Emma-Laden, ein paar Restaurants, einer Crêperie und wenigen Ferienhäusern. Das Leben tickt hier in seinem eigenen Rhythmus, vorgegeben durch Wetter, Jahreszeit und Tourenbedingungen. Wer hier herkommt, liebt das Bergwandern, das Klettern, das Bergsteigen, die Natur und die Stille. Die Unterkünfte sind eher einfach, die Anzahl der Stellplätze auf dem Campingplatz ist recht begrenzt. In der Hauptsaison ist man daher gut beraten, sich rechtzeitig um die Unterkunft zu kümmern.
Das Tal des Vénéon spaltet sich bei La Bérarde in zwei Seitentäler auf, die sich wiederum in zahlreiche Seitentäler verästeln, aus denen von Gletschern gespeiste Bäche fließen. Auch wenn man sie von ganz unten nicht sehen kann, die Anwesenheit der stillen Berggiganten ist förmlich zu spüren. Ein paar Höhenmeter auf einem der zahlreichen Wanderwege reichen bereits und schon kommen sie in Sicht: die Meije mit ihrer gewaltigen Südwand, die Barre des Écrins mit ihrer fast senkrechten Nordwestwand und die erhabenen Felsgipfel der Grande Ruine und des Pic Bourcet.
Der unscheinbare Felsbuckel bietet großartige Klettereien
Im Vergleich zu den hohen Bergen ist der etwa 700 Meter hohe Tête de la Maye direkt neben La Bérarde eher ein Winzling. Würde man es nicht wissen, ließe sich beim Anblick des Hügels nicht erahnen, welch hervorragende Kletterei hier geboten ist. Vom Dorf aus erreicht man in nur wenigen Minuten Zustieg zahlreiche Mehrseillängenrouten vom unteren fünften bis zum oberen siebten Schwierigkeitsgrad, mit bester Absicherung und perfektem Fels. Wir nutzen diese Touren mit teilweise über zehn Seillängen, um uns für „den Berg der Berge“ warm zu klettern, der uns hierher gelockt hat: die Aiguille Dibona.
Versteckt in einem Seitental des Vénéon zeigt sie sich erst nach etwa einer Stunde Fußmarsch. Einem in den Himmel gerichteten Zeigefinger gleich ist sie der Anziehungspunkt in dem nach oben immer steiler werdenden Talkessel und scheint mit Angst einflößender Geste Herannahende zu warnen: „Nimm dich in Acht!“. Mit nur wenigen Minuten Zustiegszeit zu den Kletterrouten ist das Refuge du Soreiller am Fuß des Berges der ideale Ausgangspunkt.
Zahlreiche weitere einfache Klettermöglichkeiten in der näheren Umgebung der Hütte machen sie auch für Kurse interessant, weshalb sie nicht selten ausgebucht ist. Auch in unserem Fall ist sie bereits für die nächsten Tage „complet“, weshalb wir uns dazu entschließen, den Berg vom Tal aus zu besteigen.
Abgesehen vom Normalweg, der üblicherweise zum Abstieg benutzt wird, bewegen sich an der Dibona die Klettertouren im sechsten Schwierigkeitsgrad, teilweise auch deutlich darüber. Wir entscheiden uns für die Route „Les Malheurs de Nelly“ in Kombination mit den oberen sechs Seillängen der „Sous l’OEil d’Andéol“ durch die Ostwand, um dem Andrang in der Route „Visite Obligatoire“ aus dem Weg zu gehen. In keiner der elf Seillängen mit Schwierigkeiten bis zum unteren siebten Grad bekommt man etwas geschenkt, vom Einstieg bis zum letzten Griff ist engagiertes Zupacken angesagt. Doch der bombenfeste Fels, die solide eingerichteten Standplätze und die üppige Hakensituation machen auch diese Kletterei zu einem Hochgenuss.
Auf dem Gipfel des kühnen Felszackens
Wir sitzen am Gipfel der Dibona, nehmen einen Schluck aus der Trinkflasche und genießen die Aussicht auf die Wände der umgebenden Berge wie der Pointe d’Amont, der Aiguille du Plat de la Selle und der Aiguille Orientale. Es gibt noch viel zu tun hier oben, fast in jeder Wand, an jedem Zacken und an jedem Grat warten weitere Kletterjuwelen. Auch wenn sich der Bergsport durch den Klimawandel und die damit verbundene Zunahme der objektiven Gefahren insbesondere in höheren Lagen zukünftig verändern wird und die Tourenwahl einschränkt, bleiben noch immer viele lohnende und interessante Ziele bestehen.