Unser Gleichgewichtsorgan wertet für unsere Orientierung im Raum neben vielen anderen Rückmeldungen aus dem Körper auch visuelle Informationen aus. Das sind vor allem die Informationen aus dem peripheren Gesichtsfeld, also den „Rändern“ dessen, was wir sehen. Wenn keine orientierenden Informationen (sichtbarer Boden, Gegenstände in der Nähe) ins Gleichgewichtsorgan eingespeist werden, kann dieses uns nicht klar im Raum verorten – wir fühlen uns bewegungsunsicher, schwummrig, schwindlig. Das Gleichgewichtsorgan reagiert schnell auf Änderungen: Wenn wir von einem flachen Weg um eine Ecke biegen und links von uns bricht plötzlich der Hang steil ab, dann bricht die gewohnte Orientierungsleiste des mehr oder weniger ebenen Geländes links von uns weg. Das Gleichgewichtsorgan hat zu wenig Anhaltspunkte und wir können diese „Symptome“ bekommen.
Das Gehen bedarf dann größerer Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Angst an ausgesetzten Stellen ist normal, weil ein Absturz ja tatsächlich ernste Folgen nach sich ziehen kann. Daher ist eine gewisse Anspannung zu erwarten; vor allem, wenn es sich um die erste oder zweite ausgesetzte Passage im Jahr handelt.
Die Höhenangst bzw. Höhenschwindel ist klar von der Panik abzugrenzen. Eine Panik ist mehr als nur ein Zustand starker Angst. Eine Panikattacke ist ein Zustand intensiver bedrohlicher Angst und/oder massives Unbehagen und die Person erlebt insgesamt das Gefühl die Kontrolle über sich selbst und die Situation zu verlieren.
Je eher du mit einfachen Sofortmaßnahmen beginnst, desto besser: schon bei immer wiederkehrenden Gedanken, dass es immer unangenehmer wird; sobald du merkst, dass die Unruhe und Anspannung mehr wird; bevor du ins anspruchsvolle Gelände kommst und bei leichtem Schwindelgefühl.
Wenn diese leichten und immer stärker werdenden Symptome auftreten, kannst du dir mit Aufmerksamkeitsverschiebung versuchen zu helfen. Hier gibt es mehrere Möglichkeiten.
Kurz innehalten und sich erst mal an Ort und Stelle sammeln. Dazu gehört, sich klar vor Augen zu führen, was an der gegebenen Stelle jetzt Sicherheit spenden kann, z. B., dass Griffe und Tritte fest sind, in Kürze eine breitere Stelle kommt etc. Auch zu vermeiden, talwärts zu blicken gehört dazu.
Dann die Aufmerksamkeit auf die Atmung lenken und sich mit einer ruhigen Atmung beruhigen. Siehe ergänzend Hyperventilation.
Dabei sich auch auf die Gesamtanspannung im Körper konzentrieren und eine entsprechende Körperhaltung einnehmen (entschlossen und konzentriert). Diese gutheißen, denn sie garantiert ja erstmal, dass man nicht abstürzt; sie kann aber dosiert reduziert werden: Der Griff kann etwas gelockert werden, der Oberkörperbereich muss vielleicht nicht komplett anspannen.
Keine schnellen Kopfbewegungen und Fokusveränderungen: Schnelle Veränderungen des visuellen Inputs und des peripheren Sehens können Schwindel verstärken. Das Gleichgewichtsorgan wertet auch die „Lagen“ der einzelnen Körperteile aus, schnelle Bewegungen helfen ihm nicht, sich hier Klarheit zu verschaffen.
Um Unterstützung bitten. Es kann helfen, jemanden in der unmittelbaren Nähe zu spüren. Wenn sich in der Gruppe jemand mit Seiltechnik auskennt und sogar ein Seil dabei hat, kann ggf. gesichert werden.
Entscheiden, ob die Stelle gegangen oder vermieden wird (was Umgehen oder Verzicht auf die weitere Tour bedeutet).
Sich mit inneren positiven Selbstgesprächen beruhigen und Selbstvertrauen aufbauen: „ich kann das / konzentriere dich auf deine Tritte / Schritt für Schritt“.
Konzentriert und aufmerksam exponierte Passagen bewältigen: mit langsamen, bewusst gesetzten Schritten können die meisten Stellen auf Wanderwegen bewältigt werden. Dabei die Passage mental in kleinere Passagen zerlegen (z. B. die nächsten fünf Meter bis zur Wegverbreiterung), an weniger exponierten Stellen dann wieder Sammeln, Atmung bewusst einsetzten, positives Selbstgespräch, kleine Erfolgserlebnisse schaffen und sich auf die nächste Passage konzentrieren.
Die meisten Menschen können sich bis zu einem gewissen Grad an ausgesetzte Stellen gewöhnen. Das heißt nicht, dass ihnen diese Stellen nichts mehr ausmachen; es meint lediglich, dass sie an diesen Stellen ihre Unsicherheit und Angst kontrollieren. Sie können sicher Schritt für Schritt gehen in dem mitlaufenden Bewusstsein, dass ein Fehler tödlich sein kann.
Tiefblicke können wir im Alltag nicht üben. Also wird sich nach längerer Zeit, in der du nicht im exponierten Gelände unterwegs gewesen bist, dein Gesichtsfeld an die veränderte Perspektive gewöhnen müssen. Gib ihm die Zeit und bewege dich zu Beginn etwas langsamer als gewohnt an den exponierten Passagen.
Mit einem gezielten Mentaltraining am Berg wird die mentale Stärke, das eigene Selbstvertrauen und der Umgang mit Nervosität bzw. Unsicherheiten in exponiertem Gelände bis hin zur Höhenangst trainiert: Mit Hilfe der Atmung, der Körperhaltung, der Aufmerksamkeitssteuerung, Selbstgesprächen und Visualisierungsübungen lernen Teilnehmer*innen eines solchen Trainings mit der Unsicherheit und der Angst umzugehen, sie zu regulieren und schlussendlich kontrollieren zu können. Schritt für Schritt werden die Teilnehmer*innen an das exponierte Gelände herangeführt und es tritt ein Art Gewöhnungseffekt ein. Solch ein Gewöhnungstraining an ausgesetzte Bergwege verändert nicht die Gefahr des Bergwegs. Das Begehen ausgesetzter (= absturzgefährdeter) Passagen beinhaltet die Entscheidung für das Aufsuchen einer Gefahr. Hilfreiche Tipps und Übungen findest du beispielsweise im Buch „Mental stark am Berg“ von Maya Lalive und Jan Rauch (Schweizer Alpen Club, SAC) sowie im Buch „Berggenuss statt Höhenangst“ von Petra Müssig.
Bevor du jedoch mit solch einem „Gewöhnungstraining“ bzw. „Mentaltraining am Berg“ beginnst, prüfe bitte, ob die Symptome durch Faktoren bedingt sind, die außerhalb der Situation liegen, z. B. Probleme beim Sehen (Brille), Probleme im Halswirbelsäulenbereich, Erschöpfung, Unterzuckerung, Dehydrierung.
Nicht alle Menschen sind in der Lage, sich durch Training an ausgesetzte Bergwege zu gewöhnen. Souveränitätsgefühl kann nicht erzwungen werden. Angsterleben an ausgesetzten Stellen verändert sich je nach Tagesform, nach aktuellen Geschehnissen im Leben und schließlich auch über das Alter. Schlussendlich muss jede*r für sich herausfinden, wo die persönliche Wohlfühlgrenze aktuell liegt und wie weit man diese verschieben will.
Hier geht's zum Glossar mit weiteren wichtigen Begriffen aus dem BergwanderCheck.