Gefahren in lieblicher Landschaft
Lieblich plätschert das Wasser, lecker schmeckt das Picknick, die müden Füße baumeln im erfrischenden Nass, die Augen laben sich an der Gebirgskulisse. Traumhaft – ewig wollten wir so sitzen am Arbenbach; die Szene könnte sich aber auch an einem anderen der Zermatter Gletscherbäche zutragen. Nicht überall sieht man Warnschilder. Deshalb gehen so genannte Hydroguides regelmäßig potenzielle Gefahrenstellen ab, um ahnungslose Wandernde aufzuklären. Einige Wasserfassungen befinden sich direkt unter dem Gletscher. In ihnen setzt sich Material ab, das immer wieder ausgespült werden muss. Deshalb kann das Bach-Spa mit Schwallwasser überraschen. "Wer mit Wasserkraft nichts zu tun hat, kennt die Gefahr nicht", sagt der Hydroguide Florian, der sich als Student im Sommersemester ein kleines Zubrot verdient und uns an einem strahlenden Augustnachmittag überrascht.
Und im Verlauf des Gesprächs erfahren wir, dass auf der gerade vollzogenen Wanderung über Höhbalmen unter den Füßen ein unterirdischer Tunnel verläuft. Er gehört zu einem gigantischen Stollennetz, das sich zwischen dem Mattertal und dem Val d’Hérémence mitten im Berg erstreckt. Zwischen den Mischabelhörnern, dem Matterhorn und dem Mont Gelé sammeln 100 Kilometer Stollen das Wasser aus einem Einzugsgebiet von 420 Quadratkilometern. "Wenn ich bei der Patrouille des Glaciers schummeln möchte, bräuchte ich nur den unterirdischen Gängen zu folgen und würde das weltweit härteste Skibergsteigerrennen locker gewinnen", schmunzelt Heinrich Imboden, der Betriebsleiter der Kraftwerksanlagen von Zermatt. Die Linienführung gleiche ein Stück weit der Stollenführung, weiß er. Auf einer Höhe von 2400 Metern zieht die Hauptleitung durch den Berg, 24 Kilometer bis zur Grande Dixence, der mit 285 Metern höchsten Gewichtsstaumauer der Welt. Sie staut den Lac des Dix mit einem Wasservolumen von 400 Millionen Kubikmetern. "Im Winter bleiben die Stollen trocken, weil das Wasser dann für die Stromproduktion in Zermatt genutzt wird", erklärt Imboden. Dann könne man mit dem Jeep durch die Gänge fahren und bräuchte bloß eine Stunde bis ins Val d’Hérémence. "Plan B", scherzt er, "falls Zermatt im Winter mal abgeschnitten sein sollte."
Ein Fels, der mit jedem Höhenmeter wächst
Noch einiges wird uns auf dem Matterhorn Trek ins Staunen versetzen. Dieser Weg verbindet vier Hütten im Gebirgskessel von Zermatt. Wir haben ihn etwas modifiziert, sind auf einem Schleichweg, der gleich am Bahnhof beginnt, über den Chüeberg aufgestiegen. Und plötzlich taucht über der Hanglinie ein Fels im Himmelsblau auf, der mit jedem Höhenmeter wächst, dann einen markanten Knick offenbart ... und zu dem wird, was Edward Whymper einen „Zuckerhut, dessen Spitze schief steht“ nannte. Zu einer Zeit, als der Engländer noch nichts von seinen Bergsteigerambitionen wusste, sondern lediglich als Holzstecher im Sommer 1860 nach Zermatt gekommen war, um ein Buch für den Britischen Alpenverein zu illustrieren. Whymper, der fünf Jahre später eine Tragödie, aber auch den Run auf das Matterhorn auslösen sollte. Ironie des Schicksals.
Das kleine Plateau Schweifinen am Chüeberg blieb ein unbescholtener Flecken, der nur darauf zu warten scheint, Bergfexen eine fulminante Aussicht zu schenken. Ein Hangweg führt uns von dort ins Trifttal hinein zum ersten Etappenziel. Das Berghaus Trift präsentiert sich wie zu Whympers Zeiten, als die überwiegend englischen Herrschaften nicht nur die Gipfel eroberten, sondern auch den Wert von Gebirgsspaziergängen und gesunder Bergluft entdeckten. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie sich mit wallen - den Röcken und Frack zur Teatime auf der Sonnenterrasse des Berghauses niederließen, wo immer noch blecherne Tische und Klappstühle aus jener Zeit stehen. Man genießt und staunt. Das gleißende Nachmittagslicht bündelt sich in den Gletscherbergen von Strahlhorn, Cima di Jazzi, Monte Rosa (Nordend, Dufourspitze) und Lyskamm. Nicht selten mit musikalischer Untermalung, denn der Hausherr Hugo Biner holt in den Abendstunden gerne sein Alphorn hervor und bläst sphärische Töne in die Gebirgsarena.
Weil wir das erste Sonnenlicht auf dem Matterhorn nicht verpassen wollten, steigen wir in aller Herrgottsfrühe aus dem Trifttal nach oben. Wie ein roher Diamant erhebt es sich über den noch im kalten Schatten liegenden Raureifwiesen von Höhbalmen. Ein magischer Augenblick, wenn die Spitze rot erglüht, das Licht den Berg langsam hinunterwandert und ihn zum Glitzern bringt. Man fühlt sich auf Augenhöhe mit dem felsigen Weltstar und das wird für eine ganze Weile auch nicht abreißen. Beschaulich folgt der Pfad der Höhenlinie. Schwarznasenschafe lümmeln sich im Gelände. Die Matterhorn-Nordwand wird immer prägnanter, je weiter man ins Zmutt-Tal vordringt. Vielleicht kreisen die Gedanken um den verhängnisvollen 14. Juli 1865, als die Erstbesteiger, darunter Whymper, oberhalb der so genannten Schulter in die Nordwand auswichen, um eine Steilstufe zu umgehen, und dann im Abstieg vier Bergsteiger in den Abgrund stürzten.
Unfall, Sabotage oder Mord?
Die Überreste von Hudson, Hadow und Croz ruhen auf dem Zermatter Friedhof, Lord Douglas wurde nie gefunden. Das ominöse Seil liegt in einer Glasvitrine des Alpinen Museums "Zermatlantis". Ein Unfall, Sabotage oder Mord? Das englische Volk war dermaßen entsetzt, dass Queen Victoria gar mit dem Gedanken rang, diesen grausamen Bergsport zu verbieten. Im Gepäck steckt das Taschenbuch "Absturz des Himmels", mit dem Reinhold Messner die packendste Schilderung des Ereignisses gelungen ist. Der Krimi für Matterhorn-Junkies. Am Arbenbach wollte ich eigentlich darin schmökern, nun aber fesseln uns die Eingeweide der Landschaft. Wir erfahren, dass das Stollensystem auf der Westseite des Doms am Hohberg beginnt, wo auch der Europaweg durchführt. Von 35 Gletschern wird das Wasser zu über 75 Wasserfassungen und fünf Pumpstationen geliefert. Zwei davon, die Pumpstationen Zmutt und Stafel, liegen uns zu Füßen. Man sieht von ihnen nur wenig. Rund 95 Prozent der Anlagen befinden sich unterirdisch, so Heinrich Imboden. Selbst der Stausee an der Pumpstation Zmutt mit einem Fassungsvolumen von rund 850.000 Kubikmetern verbirgt sich ganz gut in der Falte des Zmutt-Tals. Vielleicht wird er eines Tages Trinkwasserreservoir sein, prognostiziert der Betriebsleiter die Zukunft der Stauseen in der fortschreitenden Klimaerwärmung.
Die Landschaftsveränderung durch die Klimaerwärmung erleben wir anderntags auf der Etappe vom Schwarzsee zur Gandegghütte besonders krass: Glacier Trail dürfte der Pfad bald nicht mehr heißen, denn die Gletscher haben sich in wenigen Jahren so weit zurückgezogen, dass nur noch eine kurze Variante das Eis berührt. Stattdessen glitzern nun Seen, erobern Heilpflanzen wie die Schwarze Edelraute (Genepy) und Blumenkissen die Gesteinswüste.
Der Weg windet sich im Auf und Ab durch Moränenschutt. Man wandert hier quasi direkt unter der Schrecken einflößenden Matterhorn-Ostwand und kann gut den Aberglauben der Einheimischen von damals nachvollziehen. "Sie sprachen von einer in Trümmern liegenden Stadt auf dem Gipfel, die von Geistern bewohnt werde", schreibt Whymper. "Lachte man, so schüttelten sie ernst mit dem Kopf, zeigten auf die Türme und Mauern, die man ja mit Augen sehe, und warnten vor der Besteigung, weil die wütenden Teufel von ihren uneinnehmbaren Höhen Felsen auf den Frevler schleudern würden." Wenn Wolken aufziehen, wirkt die Mondlandschaft von Furgg- und Theodulgletscher sicher noch gespenstischer. Unterwegs geben Infotafeln einen interessanten Einblick in die Naturphänomene und die Aktivität der Gletscher. Einen besonderen Platz hat die Gandegghütte, sie thront auf einem Felskamm, der schroff nach Osten abbricht und eine spektakuläre Schau in die Gletscherarena zwischen Monte Rosa und Breithorn ermöglicht. Ein Privileg, den Apéro auf der zur Lounge aufgehübschten Terrasse der Hütte im Rund von 29 Viertausendern genießen zu können!
Über Säumerweg und Gletschergartenweg zur Grünseehütte
Am nächsten Morgen nehmen wir talwärts den mit "Säumerweg" markierten Pfad. Er führt über Gletscherschliff und Blockfelder durch die so genannten Lichenbretter. Nicht, dass die Säumer hier ihre Toten aufgebahrt hätten. Hinter der Bezeichnung stecken keine Leichen, sondern das keltische Wort "likkan" für Steinplatte. Fragmente des alten Saumpfades zum Theodulpass, vertikal aufgerichtete Steinplatten, haben sich abschnittsweise noch erhalten können. Und doch, diese wichtige Verkehrsroute wurde dereinst von nicht immer friedlich gesonnenen Kriegerscharen genutzt, die mit blutigen Auseinandersetzungen dem Namen alle Ehre erwiesen. Kaum jemand begegnet uns, weil die meisten mit der Seilbahn fahren. Von der Siedlung Furi fädeln wir uns in den Gletschergartenweg ein. Infotafeln weisen auf Besonderheiten hin, wie auf die verschwundene Alp im Boden – vom Gletscher zermalmt, der eine bizarre Landschaft hinterließ. Eine Hängebrücke überwindet einen engen Schlund. Jenseits halten wir uns Richtung Gornergletschertor und steigen auf aussichtsreichem Pfad zur Riffelalp auf. Kurz vor dem Luxusresort passiert man die Hauskapelle der Seiler-Dynastie. Die Hoteliersfamilie begründete mit Alexander Seiler den Betten-Aufstieg Zermatts und ließ auch das 1884 eröffnete Grandhotel Riffelalp bauen. Hinzu kam im Juli 1899 die Riffelalptram, bis heute die kürzeste und höchste Tram Europas. Ihrer Trasse folgen wir auf waldiger Flaniermeile zum nahen Bahnhof Riffelalp. Möglicherweise als Kontrastpunkt setzte man jenseits der Gleise den „Weg der Stille“. Er führt durch lichten Arven- und Lärchenwald zur Grünseehütte, die seit der Übernahme durch Kurt Lauber, den berühmtesten Matterhorn-Hüttenwirt, Mountain Lodge Ze Seewjinu heißt. Über zwanzig Jahre bewirtschaftete der Bergführer die Hörnlihütte, seine Geschichten hielt er im Buch „Der Wächter des Matterhorns“ fest.
Verträumt liegt der Grünsee ein paar Gehminuten entfernt. In seinem Wasser spiegeln sich die Gletscherberge Dent Blanche, Obergabelhorn, Wellenkuppe und Zinalrothorn. Noch, denn die Kuhle hält nur noch eine Pfütze fest. Dafür rauscht es mächtig an der kleinen Schwemmebene nebenan. Da strömt das Wasser vom Findelngletscher herunter. Es spült Zermatt einen ordentlichen Batzen Geld in die Gemeindekasse, an die vier Millionen Franken Wasserzins. Doch schon seit Jahren geht es mit den Strompreisen bachab, der europäische Markt wird mit Billigstrom überschwemmt. Deshalb können die heimischen Stromkonzerne, die einen Teil ihrer Produktion auf dem freien Markt verkaufen müssen, nicht mehr kostendeckend arbeiten. Der Kampf um das "blaue Gold", das harte Ringen um Millionen lehrt Bescheidenheit nicht. Wann die nächsten Generationen ihr blaues Wunder erleben, wenn kein Gletscherwasser mehr fließt? Noch verhallt das wohl gehütet in den Walliser Viertausendern.
Weitere Bilder zur Tour: https://www.alpenverein.de/services/panorama/impressionen-matterhorntrek_did_34497.html