Licht stehen die Lärchen, der weite Talkessel ist wie mit Samt bedeckt. Im besten Pulverschnee spuren wir das stille Sailertal hinauf, überragt von der fotogen steilen Nordwand des Hochwart. Ein kalter Wind umpfeift uns auf dem kühnen Firngrat vom Sailerjoch zur Alpenspitze – hochkonzentriert gehen wir mal links davon, mal obenauf, ein Fehltritt könnte fatale Folgen haben. Erleichterung am Gipfel. Jetzt geht es nur noch bergab: tausend steile Meter im fluffig-weichen Schnee – ein schwungvolles Vergnügen.
Im flacheren Talboden hüpfen wir übermütig wie Kinder über jeden noch so kleinen Buckel – gelungenes Finale einer abwechslungsreichen Woche. Wie gut, dass wir dem Passeiertal den Vorzug gegeben haben vor anderen klassischen Zielen! Dieses Südtiroler Tal zieht sich vom Timmelsjoch nach Süden: atemberaubend steile Flanken oben, mit einzelnen Höfen und Almen bestanden; ab St. Leonhard (688 m) ahnt man schon mediterranes Flair: Zwischen Meran (390 m) und den 3000 Meter höheren Ötztaler Firngipfeln liegen gerade einmal 15 Kilometer Luftlinie. Rundum liegen die Sarntaler (O), Stubaier (N) und Ötztaler Alpen (W), im Süden erhebt sich kühn die Texelgruppe. In deren Ausläufern begann die Tourenwoche. Milde Temperaturen, ein wolkenverhangener Tag. Bei diesen Verhältnissen ist ein Aussichtspunkt hundert Meter unter dem Platter Berg das Tagesziel. Zumal da unser Neuling Stefan als Orientierungshilfe immer einen – bevorzugt farbenfrohen – Vordermann braucht: Sein Sehvermögen liegt im einstelligen Prozentbereich, seine Leidenschaft für den (Winter-)Sport aber bei hundert Prozent! Bei der Waldabfahrt durch dicht stehende Zirbelkiefern verfolgen wir staunend seine Fahrkünste.
Hinauf auf die höchsten Gipfel
Die nächsten beiden Tage bescheren uns die höchsten Gipfel der Woche. An der Timmelsjochstraße münden von Osten kurze, stille Hochtäler ins Passeiertal. Ihnen folgend gelangen wir zunächst auf die Hohe Kreuzspitze (2743 m) und tags darauf auf den Schönnerkofel (2656 m). Die Routenführung auf die Kreuzspitze ist etwas verzwickt, am Gipfel tobt ein eisiger Sturm. Auf der Abfahrt im Nebel geht es uns "Sehenden" kaum besser als Stefan, der sich dicht hinter unserem Guide Andy sicher zu Tal bewegt. Anderntags vom Schönnerkofel können wir einen Blick über das um diese Jahreszeit einsame Timmelsjoch hinweg auf die Nordtiroler Seite erhaschen. Eine steile Rinne über der Timmelsalm (2000 m) ist das anspruchsvolle Highlight der Abfahrt. Einquartiert sind wir bei einem echten Grand-Prix-Sieger: Klaus Gurschler gewann 2005 mit den "Psayrern" den begehrten Volksmusikpreis. An manchen Abenden spielt er für seine Gäste, aber eher Countrymusik. Außerdem bewährte er sich als Schauspieler: Im Film "Bergblut" spielte er den Tiroler Freiheitskämpfer und Nationalhelden Andreas Hofer, der vor über 200 Jahren den Sandhof hier in St. Leonhard als Wirt führte.
Das Tourenpotenzial ist riesig und bietet für alle Verhältnisse etwas. Bei der Tour zum Hahnl umwirbeln uns dicke Flocken und lassen die Aufstiegsspur wie von Geisterhand verschwinden. Die etwas kürzere Tour durch Wald und über Lichtungen ist da genau das Richtige, und die Abfahrt beschert besten Pulverschnee.
Mehr als dreißig Zentimeter sind es geworden und Kaiserwetter kündigt sich an – für die Königstour der Woche hat Andy eine ungewöhnliche Runde ausgetüftelt: Zwischen dem Mittleren Passeiertal im Süden und dem Ridnauntal im Norden verläuft ein wenig gegliederter Kamm; ganz im Osten überquert ihn die Jaufenpassstraße. Beim Aufbruch an einem einzelnen Gehöft hoch über St. Leonhard lösen sich gerade die Morgennebel im Tal auf und das Firmament präsentiert sich wolkenlos und tiefblau. Immer wieder wandert der Blick hinunter zu den grünen Wiesen des Passeiertales – welch ein Kontrast zum strahlenden Weiß des frischen Schnees. An einem Gratbuckel neben dem Saxner (2358 m) erreichen wir die Kammschneide.
Die weite Landschaft erlaubt freie Aussicht auf so wilde Berge wie den Pflerscher Tribulaun (3097 m) im Norden oder den Schlern (2563 m), der hinter den sanften Sarntalern die Dolomiten ankündigt. Weite, unverspurte Hänge locken uns auf die Nordseite, im Überschwang wedeln wir hinunter ins Ridnauntal. Ein Erlebnis – doch wie kommen wir wieder zurück auf die Passeierseite? Zuerst rutschen wir parallel zur Talstraße abwärts, dann können wir auf Langlaufloipen weiter talaus skaten. Nun noch 500 Meter die Ski tragen zum Ratschinger Skigebiet, und schon schaukeln wir im Lift hinauf zum Kamm.
Die ruhigen Momente des Tourengehens
Großparkplätze, laute Musik, harte Pisten und Halligalli allerorten: In solchen Momenten wird mir bewusst, warum ich das Tourengehen vorziehe. Von der obersten Liftstation starten wir im warmen Licht der Nachmittagssonne zur faszinierenden Überschreitung von Fasnachter, Fleckner und Saxner. Der wechtengekrönte Kamm glüht förmlich im Licht der tief stehenden Sonne. Adrenalin und Glückshormone schießen an den schmalen Gratabschnitten gleichermaßen durch die Adern. Was für ein Panorama! Die Berge werfen schon lange Schatten. Als wir entlang unserer Aufstiegsspur zu Tal gleiten, versinkt die Sonne still hinter der Kolbenspitze. Manchmal ist ein Tag ein ganzes Leben.