Perfekt, um Erfahrungen zu sammeln
"Meine Lieblingstour ist der Zischgeles!" Lukas Ruetz aus St. Sigmund muss es wissen, schließlich ist er den ganzen Winter mit Tourenski unterwegs und kennt längst alle Gipfel seiner Heimat. "Wir haben zehn Seitentäler und in jedem findest du zehn bis zwanzig Touren", schwärmt der 27-Jährige. Das Sellrain hat durchaus Ziele mit alpinen Klettereinlagen und mehrstündigen Anstiegen wie den Lüsener Fernerkogel. Doch das Gros der Gipfel ist einfach perfekt für durchschnittliche Skitourengeher*innen, die hier reichlich Erfahrung sammeln können für größere, hochalpine Unternehmungen in den Zentralalpen. Dieses Angebot schafft Nachfrage: "Für die Innsbrucker ist die Anfahrt kurz, vielleicht eine halbe Stunde, und wir haben die ersten Berge, die über 3000 Meter reichen." Lukas kann es daher nachvollziehen, warum so viele in „seinem“ Revier unterwegs sind. Unverspurte Hänge findet er immer, aber dafür "musst du entweder früh aufstehen oder dir Gedanken machen, wo du hingehst." Ein gutes Beispiel dafür ist der Zischgeles (3005 m), für Lukas skifahrerisch sicher einer der Sellrainer Höhepunkte. Von Praxmar aus ziehen die freien Hänge über 1400 Höhenmeter hinauf zum Gipfel, der es knapp über die magische 3000er-Marke schafft und mit einem Traumblick über viele Sellrainer Tourenziele punktet.
Wer Einsamkeit sucht, ist hier im März und April eigentlich am falschen Platz. Eigentlich, denn neben den Klassikern Kamplloch und Sattelloch gibt es noch eine weitere Abfahrt durch das westlich gelegene "Wilde Karl" – ein echter Geheimtipp. Oben führt die Abfahrt durch sanfte, nordseitige Mulden und wechselt dann auf westseitige Hänge, die steil hinunter ziehen ins Gleirschtal – und damit ins Tourengebiet der Pforzheimer Hütte.
Die grandiose Abfahrtsvariante am Zischgeles ist für uns der Auftakt einer kurzweiligen Durchquerung der Sellrainer Berge, bei der wir immer wieder neue, überraschend einsame Seiten der altbekannten Skitourenklassiker entdecken.
Ruhe rund um die Pforzheimer Hütte
Die jungen Hüttenwirtsleute Florian Mader und Sonja Prepstl bewirtschaften das Haus seit dem Sommer 2018 und schwärmen von ihrer neuen Heimat: "Du bist hier ziemlich abgeschieden, es geht kein Handy und du hast viele lässige Tourenmöglichkeiten – 15 Gipfel kannst du mit Ski machen." Dennoch ist das Gebiet eher einsam, auch weil die anderen Hütten bekanntere Gipfel haben und zudem leichter zu erreichen sind. Doch der Abstecher auf die Pforzheimer Hütte lohnt sich: der engagierten und gut gelaunten Hüttenwirte – und des guten Essens wegen. Verantwortlich dafür ist Sonja, die vormittags bereits in der Küche steht und bewusst versucht, Abwechslung in den Speiseplan zu bringen. "Ist halt schade, wenn die Leute kommen und sagen 'schon wieder Gulasch, schon wieder Schweinsbraten'", weiß sie aus Erfahrung. Unterstützt wird sie von Gerti Wegan. "Ich komme gern, wenn ihr mich nehmt", bewarb sich die 73-jährige Oma von Florian, die auch nach zwei Monaten im Schnee keine Sehnsucht nach dem Tal hat. Kein Wunder, bei dieser Kulisse!
Nach dem nächtlichen Schneefall zeigen sich die Gipfel tief verschneit – und unberührt. Um den Übergang zum Westfalenhaus zu einer tagesfüllenden Etappe auszubauen, empfiehlt sich zum Auftakt der Abstecher auf den Samerschlag, der für Lukas zu den schönsten Skizielen der Pforzheimer Hütte zählt. Wunderschöne Hänge ziehen hinauf zu dem Aussichtsgipfel mit seinem 360-Grad-Rundblick. Direkt gegenüber lässt sich gut die Route zur Schöntalspitze (3008 m) mit der Zischgenscharte studieren, über die wir zum Westfalenhaus wechseln. Der einsame Anstieg führt vom Gleirschtal über großzügige Hänge hinauf in das Kar unter der Grubenwand. Nach den letzten, etwas steileren Metern in die Scharte genießen wir den neuen Blick Richtung Süden. Der kurze Abstecher auf dem teils gesicherten Steig zur Schöntalspitze bietet alpines Feeling, auch weil man hier oft selbst spuren muss. Spannend ist auch die steile Rinne von der Scharte Richtung Süden – bei hartem Schnee ein Graus, bei Firn ein Genuss. So oder so: Wer von der Zischgenscharte zum Westfalenhaus abfährt, der hat mit Sicherheit den einsamsten Zugang zur beliebten Hütte gewählt.
"Wir sind bekannt als Skihütte und für das gute Essen", zählt Hüttenwirt Rinaldo De Biasio gleich einmal zwei Pluspunkte auf, "unser Schweinsbraten, die hausgemachte Lasagne und die Knödelgerichte kommen gut an, auch unser Kaiserschmarrn wird sehr gelobt." Etwas Besonderes ist auch das täglich frisch gebackene Brot. "Bei Vollbelegung brauchen wir zwischen sieben und zehn Laib Schwarzbrot", erzählt Rinaldo, "außerdem machen wir jeden Tag frisches Birchermüsli." Bereits seit 1993 bewirtschaftet der Längenfelder mit seiner Familie die gut ausgestattete Hütte. Eine lange Zeit, in der die Arbeit stark zugenommen – "jedes Jahr mehr Gäste, vor allem im Sommer, wenn es im Tal heiß ist" – und die Klimaerwärmung direkte Auswirkungen auf seine Energieversorgung hat – "früher kam bis zum Ende der Wintersaison nur wenig Wasser für die Stromerzeugung, heute läuft das Kraftwerk schon Anfang April mit 80 Prozent Leistung."
Skitourenlenkung im Sellrain
Das tirolweite Programm "Bergwelt Tirol – Miteinander erleben" ist ein Wegweiser für die naturnahe und konfliktfreie Nutzung der Natur. Im Sellrain versucht man auf vielbegangenen Touren Wald und Wild zu schonen, auf der anderen Seite aber auch Schneisen zu schlagen, damit man auf Tour eine Abfahrtsmöglichkeit vorfindet und dadurch gelenkt wird. Ein Konfliktpunkt war etwa der Anstieg auf die Schöntalspitze, bei dem die ehemalige Aufstiegsroute zum Schutz der Raufuß-, Schnee- und Birkhühner in einen anderen Bereich verlegt wurde. Zusätzlich wurden in der gesamten Skitourenregion Sellrain auf allen wichtigen Parkplätzen Panoramatafeln aufgestellt, die Skitouren und die Wald- und Wildschutzzonen in einer plastischen Geländedarstellung zeigen. Weitere Informationen können über die aufgedruckten QR-Codes per Smartphone abgefragt werden.
Ruppige Abfahrt und schweißtreibender Aufstieg zur Winnebachseehütte
Gleich geblieben sind die Gipfel wie der Hohe Seeblaskogel (3235 m), über den wir zur Winnebachseehütte wechseln. Der Tag startet mit einer morgens recht ruppigen Abfahrt in den schattigen Talboden. Ein Kühlschrank, den man die nächste Stunde nicht verlässt, zu hoch sind die imposanten Felsabbrüche des Lüsener Fernerkogels, unter denen man taleinwärts läuft. Sobald man jedoch rechts abbiegt und über zunehmend steilere Hänge aufsteigt, wechselt man vom Schatten in die Sonne und damit von der Kälte in die Wärme – und weiter in die Hitze. An manchen Tagen gleicht das südseitige, geschützte Kar mit den Resten des Grüne-Tatzen-Ferners eher einer Sauna. Zielsicher führt die Spur in Richtung des Grates und von dort aus Richtung Gipfel. Lukas Ruetz wundert sich immer wieder über diese Spuranlage, denn oben am Grat bildet sich jeden Winter eine mächtige Wechte. "Man sollte immer in Falllinie zum Kreuz aufsteigen", warnt er, "keinesfalls entlang des Grates. Erst vom Gipfel sieht man die Wechte und erkennt, wie gefährlich die Spur angelegt wurde."
Dank der südseitigen Ausrichtung bietet die Abfahrt über den Grüne-Tatzen-Ferner schon früh im Jahr erste Firnverhältnisse, doch die kann man auch ein Kar weiter westlich genießen. Wer nämlich rechtzeitig nach rechts quert und mit einem kurzen Gegenanstieg den markierten Punkt 3102 erreicht, entdeckt ein verstecktes und einsames Kar, das südostseitig Richtung Bachfallenferner zieht und so einen eleganten, wenig begangenen Übergang zur Winnebachseehütte ermöglicht. Das traditionsreiche Schutzhaus mit seinem modernen Anbau wurde an einem besonders schönen Ort gebaut. Für den bald 60-jährigen Michael Riml aus Gries im Sulztal ist dieser Ort Alltag, seit 1955 bewirtschaftet seine Familie die Hütte, auf der er quasi aufgewachsen ist.
Wer heute in der warmen Stube sitzt und durch die Panoramafenster auf die Berge schaut, der kann sich gar nicht vorstellen, wie hart das Hüttenleben früher war. "Mit 14 Jahren bin ich im Sommer jeden Abend mit den beiden Haflingern ins Tal", erinnert sich Michael. "In der Früh kam dann der Vater und miteinander sind wir wieder rauf, die Pferde beladen mit jeweils rund 120 Kilogramm – an steilen Stellen mussten sie geschoben werden. Und im Winter gab es kein Wasser, wir mussten alles hinauftragen."
Mit dem Bau der Materialseilbahn im Jahr 1974 wurde es leichter, aber nicht unbedingt wärmer. "Die Hütte war nicht isoliert, die hast du nicht heizen können. Nach einer Woche hatten wir in der Stube plus drei Grad, am Wochenende war es voll und es waren plus sieben – und als die Leute weg waren, ging’s gleich wieder runter." Da half auch der dänische Rundofen nichts, "wenn du dort standest, dann bist vorne verbrannt – und hinten hast gefroren." Klingt ungemütlich, doch Michael möchte die Zeit nicht missen, "es war eine schöne Kindheit, wir waren alle gern auf der Hütte."
Skiklassiker Breiter Grießkogel
Unübersehbar thront der Breite Grießkogel (3287 m) über der Hütte, der natürlich bei einer Sellrain-Durchquerung nicht fehlen darf. Eine angenehme Tour, bei der man durchwegs in der Sonne läuft und zuletzt über die Wellen des Grießkogelferners zum Kreuz aufsteigt. Der Breite Grießkogel ist einer der vielen Skiklassiker des Sellrain, der zudem mit lohnenden Abfahrtsvarianten punktet. Die vielleicht interessanteste führt über die Larstigscharte auf den versteckten Larstigferner, der alten Beschreibungen nach recht spaltig war. Mittlerweile ist jedoch der Zugang die Schlüsselstelle: Früher konnte man problemlos von der Scharte auf den Gletscher abfahren, heute erschwert ein mehrere Meter hoher Felsabsatz den Abstieg. Zumindest bei wenig Schnee, wie wir enttäuscht feststellen mussten – und auf der üblichen Route über das kilometerlange, skifahrerisch eher enttäuschende Zwieselbachtal direkt zur Schweinfurter Hütte abfuhren. Wie schnell sich die Verhältnisse ändern, das zeigte übrigens ein Besuch zwei Wochen und ein Tiefdruckgebiet später. Der Wind hat den Schnee dort meterhoch abgeladen, so dass der Übergang für Geübte machbar und die Abfahrt über den Larstigferner der erhoffte Pulverschneetraum war.
Die Schweinfurter unterscheidet sich von den anderen Hütten auf der Runde: Dank eines präparierten Güterweges kann man die an Weihnachten und im Hochwinter bewirtschaftete Hütte sogar wandernd und rodelnd bequem erreichen, entsprechend bunt ist das Publikum, entsprechend gut besucht das Haus auch tagsüber. Der Hüttenwirt Andreas Jeitner kommt aus dem Pitztal, seine Frau Carmen, die einen im perfekten Tiroler Dialekt begrüßt, stammt dagegen aus dem Rheinland. "Der Klassiker", lacht sie, "ich war für drei Tage auf Skiurlaub im Pitztal – und Andreas war mein Skilehrer." Seit 2010 bewirtschaften sie die Schweinfurter Hütte, wobei sich Carmen liebevoll um die Einrichtung kümmert. So dekoriert sie den Eingangsbereich immer wieder neu ("die Hütte ist ja nicht nur unser Arbeitsplatz, sondern unser Zuhause") und kümmert sich auch mal um den Komfort. Auf ihren Wunsch wurde im Damenwaschraum ein Fön installiert. "Im Sommer kommt der aber weg", erzählt sie, "denn es gibt tatsächlich Gäste, die ihre Schuhe nicht auf den Schuhtrockner hängen, sondern im Waschraum stehen und sie dort fönen!"
Skispaß und Schneedeckenanalyse
So sehr Lukas Ruetz die fünftägige Durchquerung genießt, mit seiner Kondition durch bis zu 300.000 Höhenmeter in einer Saison könnte er die Runde auch in einem Tag absolvieren. Doch so hat er genug Zeit, um beim Anstieg zur Kraspesspitze (2948 m) ein Schneeprofil zu graben. Im Grunde nimmt er sich auf jeder Tour Zeit, um die Schneedecke zu analysieren – für sich, aber auch um die Ergebnisse als Beobachter beim Lawinenwarndienst Tirol zu melden. Skifahrerisch ist die Kraspesspitze – oder der Kraspesspitz, wie sie von Lukas und den Einheimischen genannt wird – absolut lohnend, dennoch sind hier überraschend wenige unterwegs. Noch einsamer ist der erste Teil der Traumabfahrt nach Haggen, bei der man erst weit unten auf die Modestrecke zum Zwieselbacher Roßkogel (3082 m) trifft. Die Kraspesspitze ist für uns der letzte Gipfel einer kurzweiligen Runde durch das Sellrain, die man natürlich beliebig verändern oder verlängern kann. Denn statt der Abfahrt nach Haggen ist auch der Gegenanstieg auf den Zwieselbacher möglich – mit Abfahrt zur Pforzheimer Hütte, von der man anderntags über das Satteljoch und die Lampsenspitze wieder zurück nach Praxmar gehen kann. Oder man wechselt über den Schartenkopf nach Kühtai und damit zum Start der Schneetalrunde – eine der vielen eher unbekannten Tagesrunden, die es im Sellrain gibt. Auch die sind ein Grund, warum Lukas Ruetz von seinen Heimatbergen einfach nicht genug bekommen kann.