Wer hat nicht schon einmal „Nahbodenerfahrungen“ beim Seilklettern gemacht? Also mit einem Sturz, der erst kurz vor dem Boden (oder auf Gesichtshöhe des Sicherungspartners) endete? Oft liegt es gar nicht an heroisch hohen ersten oder zweiten Haken, wenn der Kletternde auf den Boden fällt. Denn wenn die Gefahr offensichtlich ist, sind wir meist hochkonzentriert, und der Kletternde überlegt sich genau, was er riskieren will.
Viele Unfälle zwischen erster und siebter Exe
In vermeintlich gut gesicherten Routen dagegen, vor allem in Hallen mit ihren normierten, nahen Hakenabständen, wird oft unterschätzt, wie anspruchsvoll gutes Sichern in Bodennähe ist. Brezelduft und Hakendichte suggerieren, dass Konzentration hier nicht lebensnotwendig wäre – in Wirklichkeit besteht Bodensturzgefahr jedoch noch aus beträchtlichen Höhen.
In den vergangenen zwei Jahren wurden uns 123 Unfälle beim Vorsteigen in Kletterhallen gemeldet. Gerade mal zwei davon passierten vor dem Clippen der ersten Exe. 25 Unfälle geschahen in größerer Höhe (oberhalb der siebten Exe), zu 23 Fällen liegen keine näheren Angaben vor. Doch 53, also fast die Hälfte der gemeldeten Unfälle, passierten zwischen erster und siebter Exe. Sehr häufig stürzte dabei die Kletternde beim Clippen, und der Sichernde konnte nicht mehr rechtzeitig adäquat reagieren. Die Unfallzahlen und Beschreibungen belegen ganz klar: Zwischen erster und siebter Exe ist es beim Hallenklettern besonders heikel. Machen Sicherer oder Kletterin hier einen Fehler, kann dies schnell mit einer Kollision oder auf dem Boden enden!
Je bodennäher, desto heikler
Ob die Stürzende am Boden landet oder nicht, hängt von der Sturzhöhe und dem Bodenabstand ab. Die Sturzhöhe ergibt sich aus dem Sturzpotenzial (Höhe der Kletternden über der letzten Exe), dem Schlappseil und dem Bremsweg (Sturzhöhe = 2 x Sturzpotenzial + Schlappseil + Bremsweg).
Der Bodenabstand ist – ja, genau: der Abstand zwischen Kletterer und Boden. Und logisch: Je kleiner der ist, je tiefer also der Sturz beginnt, desto größer ist die Gefahr von Bodensturz oder Kollision mit dem Sichernden. Das Sturzpotenzial ist beim Sturz nicht mehr beeinflussbar, also sind Schlappseil und Bremsweg die entscheidenden Faktoren, um einen „Grounder“ zu vermeiden. In Kletterhallen reicht die Zone, die „bodennahes Sichern“ fordert, bis zum sechsten, womöglich gar siebten Haken. Am Fels hängt die Problematik eher von Hakenabstand und -höhe als von der Hakenanzahl ab. Da die wenigsten Erstbegeher normkonform bohren, besteht manchmal noch in 15 Meter Höhe Groundergefahr – gemeinsames Routenstudium klärt die Sicherungstaktik.
Am heikelsten ist das ungünstige Verhältnis von Sturzhöhe zu Bodenabstand zwischen erster und zweiter Exe. Die Norm für künstliche Kletteranlagen gibt vor, dass der erste Sicherungspunkt höchstens in 3,10 Meter Höhe sein darf. In vielen Hallen hängt die erste Exe noch tiefer. So kann es besonders schwierig werden, einen Grounder zu vermeiden, wenn der Vorsteiger vor dem zweiten Clip stürzt. Mit zunehmender Höhe entspannt sich die Situation; eine geclippte erste Exe dagegen mag Sicherheit vorgaukeln, die der Sichernde nicht wirklich schaffen kann.
Daher kann es durchaus sinnvoll sein, konzentriert bis zur zweiten Exe zu klettern und erst diese zu clippen. Voraussetzung dafür ist, dass sie sich gut clippen lässt und dass die Schwierigkeit der Route es zulässt (oder man nutzt größere Griffe einer anderen Route). Die erste Exe nicht einzuhängen, kann auch sinnvoll sein, wenn der Kletternde schwerer als der Sichernde ist: Dann wird der Sichernde beim Sturz nicht in die (niedrige) erste Exe gezogen (s. Artikel Sichern mit Gewichtsunterschied). Allerdings zieht es ihn womöglich bis zur zweiten Exe – Bremsweg und damit Sturzhöhe können also größer werden.
Sicher zum ersten Clip
Für traditionsbewusste Kletternde kann das Anklettern eines hohen ersten Hakens eine tolle Sache sein, vor allem am Naturfels. In die Halle dagegen gehen die meisten zum Trainieren oder aus Freude an der Bewegung – ehrgeizbedingte Verletzungen sind da nicht erwünscht. Und gerade in der Halle muss sich keiner schämen, wenn er die zweite Exe, womöglich auch noch die dritte, „bunt“ einhängt (von einem Griff der Nachbartour aus; am Fels mit Clipstick), bevor er kipplige Einstiegszüge mit Grounderpotenzial probiert. Häufig wird versucht, durch Spotten die ersten Meter zur ersten Exe „sicherer“ zu machen. Aber: In Kletterhallen ist das selten notwendig. Nicht nur wegen der zunehmend verbreiteten Fallschutzböden sind Stürze aus dieser geringen Höhe (man erinnere sich: erster Haken spätestens auf 3,10 Metern) relativ ungefährlich; das belegen auch die nur zwei dokumentierten Unfälle.
Zudem ist die Unfallgefahr eher erhöht, wenn der Sichernde (wie häufig beobachtet) sich ungünstig positioniert oder das Spotten unterbricht, weil er zu wenig Seil vorbereitet hat. Am wichtigsten ist, dass der „Sturzraum“ frei ist, also die Zone, wo der Kletternde beim Sturz vor der ersten Exe hinfällt. Das heißt:
„Kram“ weg! Alles, was nicht Boden ist, hat da nichts verloren. Flaschen, Schuhe, Sicherungsgeräte, Zahnersatz weglegen! An den Hallenrand oder zumindest zum Seilsack.
Der Seilsack (und ähnliches) liegt seitlich hinter dem Sichernden. Am Wandfuß wäre er eine Stolperfalle oder eine bananenschalenähnliche Rutschgefahr für den Sichernden.
Sichernde stehen außerhalb der Sturzbahn, keine dritte Person im Sturzraum! Diese richtige Standposition wird vor dem Einsteigen analysiert und wenn nötig angepasst, wenn die Kletternde die Richtung wechselt.
Für den Kletternden gilt: Nichts an den Gurt hängen, was sich in den Rücken bohren oder den Sichernden bei einer Kollision verletzen könnte.
Bei den ersten Clips läuft das Seil nie zwischen den Beinen – sonst besteht die Gefahr, daraufzufallen, was Verbrennungen und Umkippen bewirken kann.
Empfehlung: aufs Spotten verzichten
Draußen am Fels, wo statt Fallschutzboden spitze Steine liegen können, kann Spotten wertvoll sein. Aber auch hier gilt: Man kann nicht die Sprunggelenke des Fallenden schützen – bestenfalls ihn vor dem Umkippen zur Seite oder nach hinten auf Hindernisse bewahren! (s. Panorama 4/2016) Und ein freier Landeraum ist auch draußen unabdingbar. Wenn sich der Kletternde gespottet wohler fühlt, darf es natürlich sein. Dann steht aber die Sichernde vor einer anspruchsvollen Aufgabe: nämlich schnell vom Spotten zum präzisen Sichern umzuschalten. Die Hände müssen zum richtigen Zeitpunkt ans Sicherungsgerät und die (Schlapp-)Seilmenge regeln, die Standposition muss optimiert werden – und das alles blitzschnell. Dabei noch reaktionsbereit für einen Sturz zu sein, ist sehr schwierig, vor allem, wenn man noch viel Seil ausgeben oder einziehen muss. Wir empfehlen daher, aufs Spotten zu verzichten und bei freiem Sturzraum den Fokus auf die Vorbereitung des präzisen Sicherns vom ersten zum zweiten Clip zu legen. Das heißt: so viel Seil ausgeben, dass es für den ersten Clip reicht (nicht viel mehr), richtige Standposition einnehmen, Hand ans Bremsseil, bereit zur Schlappseilkontrolle.
Stabil clippen, präzise sichern
Wie gesagt, sind Schlappseil und Bremsweg die einzigen leicht beeinflussbaren Faktoren, um die Sturzhöhe zu verringern. Der Bremsweg ergibt sich aus der Seildehnung und der Dynamik beim Sichern (siehe unten und Abb. links). Die Schlappseilmenge zu begrenzen, ist gemeinsame Aufgabe von Kletterer und Sicherer. Die Unfallstatistik zeigt, dass viele Bodenstürze beim Clippen passieren – deshalb ist die wichtigste Regel für den Vorsteiger, nur aus stabiler Position zu clippen. Ist die Position wacklig oder die Kraft schon im roten Bereich, mag ein Zurückklettern und Reinsetzen oder ein angekündigter Absprung gesünder sein als ein verzappelter Clip. Überstrecktes Clippen kann die Position destabilisieren und lässt den Sturz bodennäher enden. Deshalb: Geclippt wird im „Clippfenster“, in einem vorgestellten Raum zwischen Hüfte und Stirn mit etwa doppelter Schulterbreite; so muss nicht unnötig viel (Schlapp-)Seil ausgegeben werden.
Präzise Sichern besteht aus „ausreichend Seil geben“ und „Schlappseilkontrolle mit Verkürzungsbereitschaft“. Damit das Seil beim Ausgeben nicht durch einen Krangel im Sicherungsgerät blockiert wird, zieht die Sichernde zwei, drei Meter Seilreserve vom Seilsack und legt sie frei vor sich auf den Boden. Dieses Manöver wiederholt sich nach jedem Clip, parallel mit dem Einziehen des Schlappseils.
Wenn der Vorsteiger clippen will – das merkt man durch Beobachten, Mitdenken und Erfahrung (oder durch das Kommando „Seil“) – gibt die Sichernde rechtzeitig genügend Seil aus, um nicht durch unabsichtliches Blockieren aus einem wackligen Clip einen Sturz zu machen. Bis das Seil eingehängt ist, richtet sie die volle Konzentration auf den Vorsteiger, die Bremshand ist knapp unterhalb des Gerätes, also in der idealen Position, um bei einem Sturz schnell das ausgegebene Seil wieder einziehen zu können und die Sturzweite so zu verkürzen. Aus einer reaktionsbereiten Schrittstellung in Richtung erste Zwischensicherung kann man dieses „Verkürzen“ auch durch Gewichtsverlagerung nach hinten realisieren – oder durch In-die-Knie-Gehen.
Gewichtsunterschiede spielen in Bodennähe eine noch größere und brisantere Rolle als kurz vor der Hallendecke: Die Sturzhöhenverlängerung durch Abheben des Sichernden erhöht die Gefahr von Kollision und Grounder (mehr dazu s. Artikel Sichern mit Gewichtsunterschied).
Weich sichern oder eng halten?
Bei der letzten Kletterhallenstudie sicherten viele Probanden einen Sturz aus etwa sieben Meter Höhe unangemessen dynamisch, was zu gefährlichen Resultaten führte – ein Zeichen, dass „bodennah“ oft falsch eingeschätzt wird. Das heißt aber nicht, dass man in Bodennähe grundsätzlich knallhart sichern sollte. Ein Reinsitzen oder massives Zurücklaufen des Sichernden kann „ultima ratio“ sein, wenn anders die Bodenlandung nicht zu verhindern ist. Aber ein heftiger Anprall an der Wand durch zu wenig Dynamik kann für die Fußgelenke auch sehr ungesund sein. Das Ideal für „angemessen dynamisches“ Sichern bei wenig Sturzraum ist also, Schlappseil zu verkürzen, aber trotzdem weich zu sichern. Dies gelingt durch einen schnellen Wechsel zwischen Verkürzen des Seiles (Bremsseil einziehen oder nach hinten/ unten verlagern) und dann einem dosierten „Mitgehen“ mit dem Sturzzug. Das erfordert hohes sicherungstechnisches Können, Erfahrung und Aufmerksamkeit und braucht eine gute, spezifische Ausbildung. Die konsequente Beobachtung des Vorsteigers wird durch eine Sicherungsbrille deutlich erleichtert. In Bodennähe allerdings erschwert sie die Abschätzung der Sturzhöhe und -richtung. Daher empfiehlt es sich, die Sicherungsbrille erst dann von der Stirn auf die Nase zu schieben, wenn der Vorsteiger der Grounderzone entstiegen ist.
Bodennah sichern: Darauf kommt es an!
Sturzraum freihalten! Material weg von der Wand, Seilsack seitlich hinter dem Sichernden.
Sicher zum ersten Clip! Je nach Situation und Ehrgeiz: „bunt“ anklettern oder mit Clipstick einhängen.
Spotten? Wer’s mag und wer’s kann – nach Absprache und bei heiklen Einstiegen.
Standposition des Sichernden für die ersten Clips vor dem Losklettern besprechen. Ideal ist nah an der Wand und leicht seitlich (max. 1 m x 1 m), nicht direkt unter der Kletternden – und in aktionsbereiter Schrittstellung in Richtung zur ersten Exe.
„Wenn’s los geht, geht’s los!“ Konzentration, sobald der Boden verlassen ist!
Kein Schlappseil – nur so viel Seil wie wirklich nötig. Evtl. schnelles Seilhandling durch geringes Vor- und Zurückgehen (ein Schritt).
"Angemessen dynamisches“ Sichern in Bodennähe: Optimalerweise zuerst Seil verkürzen, dann mit Sturzzug „mitgehen“.
Sicherungsbrille erst aufsetzen, wenn die Grounderzone verlassen ist, damit man ohne „Knick in der Optik“ präzise timen kann.
Im Vorstieg bei den ersten Clips das Seil nicht zwischen den Beinen führen, sondern seitlich zwischen Körper und Hakenlinie.
Clippen aus stabiler Position und im Clippfenster (Raum zwischen Hüfte und Stirn, etwa doppelte Schulterbreite).
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Panorama-5-2017-Sicherheitsforschung-Bodennah-Sichern_29021.pdf | 971.53 KB |