Trotz blitzblauem Himmel, alle paar Minuten donnert es gewaltig. Wieder kracht eine Lawine von lotrechten Wänden herab. Vom Liegestuhl aus, in sicherer Entfernung, ist das ein imposantes Naturschauspiel. Und doch sind wir so nah am Geschehen, dass sich Gänsehaut kräuselt. Denn von den Felsflanken trennen uns gerade mal ein paar hundert Meter. Eindrücklich umzingeln sie im Halbrund die brettflache Hochebene der Alpe Devero. Ein See soll hier in grauer Vorzeit einmal gelegen haben. Windschiefe Häuser und Hütten drücken sich an den südlichen Hang, wo keine Felsflanken Gefahr verheißen.
Mittendrin die Antica Locanda Alpino. Sie liegt etwas versteckt im hinteren Teil von Ai Ponti, dem größten Weiler der Alpe Devero. In der Stube zischt die Kaffeemaschine vor sich hin. Dieters Lieblingsmusik. Man sieht schon, wie er sich auf den Cappuccino freut. Selbst in der entlegensten Hütte steht solch eine monströse Siebträgermaschine aus Edelstahl. Heraus tröpfelt genau die richtige Menge an schwarzem Elixier, so geröstet und stark, dass es mit cremig aufgeschäumter Milch den perfekten Geschmack ergibt. Das ist Italien.
Die Südseite des Simplonpasses
Die Sonne steht knapp über dem Zenit. Eine Skitour steckt uns bereits in den Knochen. Trotz einer angespannten Lawinensituation bleiben hier immer noch ein paar Gipfel übrig, die man bedenkenlos besteigen kann. Ein Aufbruch in aller Herrgottsfrühe bleibt natürlich Pflicht, um später bei der Abfahrt nicht im Pfludderschnee stecken zu bleiben. In den vergangenen Wintern bekamen die Südalpen Massen an Schnee ab. Ein Grund für uns, mal die Seite zu wechseln. Die Alpe Devero liegt auf der Südseite des Simplonpasses – ganz genau genommen in der Verlängerung des Oberwalliser Binntals. Ein Kleinod, doch mit abenteuerlicher Zufahrt. Vom piemontesischen Grenzort Varzo dringt man in die Ossola-Täler ein, die sich wie ein Keil nach Norden in die Schweiz bohren. Im Westen das Wallis, im Osten das Tessin. Bei Baceno zweigt eine Straße ab ins Valle Devero und von Goglio schraubt sie sich dann in haarsträubenden Serpentinen, durch Tunnels und Galerien hinauf zur Alpe Devero.
Am Eingang zur Siedlung und Hochebene versperrt eine Schranke den Weg. Autos müssen draußen bleiben und finden in einem Parkhaus Platz. Alessandro Francioli, der Wirt des Alpino, bringt uns den Cappuccino auf die Terrasse und bemerkt beiläufig, dass er gerade einen Anruf bekommen habe: „Es kann sein, dass die Straße gesperrt wird.“ Das komme bei hoher Lawinengefahr immer mal wieder vor. Die hohen Temperaturen setzen dem Schnee zu. Wir sitzen im T-Shirt auf der Terrasse und könnten auch kurze Hosen vertragen. So schönes Wetter und dann abbrechen? Dazu hat von uns vieren niemand Lust. Eigentlich kein schlechter Gedanke, hier abgeriegelt von der Welt die Tage zu verbringen. Wir bleiben. Seit 1990 steht das Gebiet unter Naturschutz, fusionierte fünf Jahre später mit der benachbarten Alpe Veglia zum Parco Naturale Veglia-Devero.
Just das Jahr, in dem Alessandro aus Verbania kam, sich in den Ort verliebte und die Antica Locanda Alpino kaufte. „Die älteste Unterkunft hier, 1878 erbaut“, erzählt er stolz. Er renovierte das Nebengebäude mit Gästezimmern ökologisch: mit einem gewissen Komfort und doch so, dass die Nostalgie erhalten blieb. Im Haupthaus beließ er fast alles beim Alten. Die Gästezimmer dort sind dann schon eher etwas für die robustere Natur. Durch die Ritzen der Holzbalken kann man in die darunterliegende Gaststube spitzeln. Wenn dort der Kamin prasselt, fühlt man sich Jahrzehnte zurückversetzt. Alessandro, den alle nur Sandro nennen, deutet auf den Grenzkamm, wo zwischen der Punta Marani und der Punta Gerla eine Skiroute ins Wallis durchführe. Spannend, aber jetzt bei der Lawinengefahr natürlich keine Option. Die Bergnamen erinnern an die ersten Erschließer, Riccardo Gerla, Banker aus Milano, und Lorenzo Marani, Bergführer aus dem Antronatal. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts arbeiteten sie hart an der Eroberung der Gipfel. Sie von der piemontesischen Seite, die Briten W.A.B. Coolidge und W.M. Conway von der Schweizer Seite. Mit Sicherheit hatten die Alpenpioniere auch mal im Alpino genächtigt. Es gab ja keine Auswahl. Heute bieten sich mehrere Unterkünfte an.
Auf Schneeschuhen durch Alpsiedlungen
Vis-à-vis der Schwemmebene klemmt das Rifugio Castiglioni in einem prähistorischen Felssturzgebiet. Wildromantisch, hier zwischen den haushohen Felsbrocken seine Spuren zu legen. Wir nutzen den Nachmittag für eine Schneeschuhtour. Mehrere markierte Schneeschuhrouten durchkreuzen das Gelände. Durch lichten Lärchenwald stapfen wir nach Crampiolo hinauf. Eine Alpsiedlung wie aus dem Bilderbuch.
Walserhäuser scharen sich um eine alte Kapelle. Ende des 12. Jahrhunderts zogen die ersten Auswandererfamilien aus dem Oberwallis ins Val Formazza, und das Walsertum nahm seinen Anfang. Von den Feudalherren zur Umsiedelung beworben, zogen ganze Sippschaften in mehreren Schüben über die hohen Pässe in die entlegensten Gebirgswinkel, um sich eine neue Heimat aufzubauen. Die Feudalherren versprachen sich durch die Besiedelung der sonst nur als Weiden genutzten Hochlagen vor allem auch eine bessere Kontrolle über ihr Territorium und die Passübergänge. Im Gegenzug gewährten sie den Kolonisten mehr Rechte und Freiheiten, befreiten sie zum Beispiel von den Steuern. In der Abgeschiedenheit entwickelte sich eine eigenständige Kultur und Sprache. Als Mussolini an die Macht kam, wurde der „brutto dialetto“ in den Schulen verboten und das Walserdeutsch nur mehr in der Familie weitervermittelt. Die Landwirtschaftskrise, der Faschismus und die Weltkriege trieben den Untergang der Walserkultur voran. Viele kehrten in die Schweiz zurück, andere zogen in die Städte. In Crampiolo spricht heute niemand mehr Walserdeutsch. Den melodischen Dialekt hört man nur noch hie und da im Talgrund des Pomatt, wie das Val Formazza auf Walserdeutsch heißt. Familie Olzeri, die das Agriturismo und die Käserei von Crampiolo betreibt, stammt von den Walsern ab. Sie hieß einst Holzer, die Italiener haben irgendwann Olzeri daraus gemacht. Im Sommer bewirtschaften sie mit siebzig Kühen die Hochweiden und produzieren aus der Milch leckeren Käse, darunter auch den berühmten Bettelmatt. In ihrer Käserei kosten wir uns durch. Träge fließt der Nachmittag dahin. Ausspannen, in die Sonne blinzeln, an einem süffigen Barbera nippen.
Die Vormittage gehören den Skitouren. Noch in der Dämmerung starten wir gen Monte Cazzola. Auf der Alpe Misanco gönnen wir uns die erste Pause. Kaum, dass die Hütten aus der weißen Masse lugen. Es ist so still, als würde die ganze Welt unter einem dicken Schneepanzer schlummern. Bald bleibt der Lärchenwald zurück und das Gelände weitet sich zu endlosen Gebirgsketten. Rechts taucht irgendwann das unberührte Val Buscagna auf, gesäumt von einem wilden Zackenkamm. Die Gipfelkalotte des Monte Cazzola lässt viel Platz. Holger würde gerne ein Nickerchen machen, doch wir drängen zur Abfahrt. Die Hitze brütet schon zu stark.
Bei geschickter Nutzung der Hangausrichtung lässt sich noch herrlich carven. Und in mancher Schattenfalte finden wir sogar Pulverschnee. Die drei Skilifte stören hier kaum. Sie sind nur über die Weihnachtszeit und an wenigen Wochenenden in Betrieb. Ein defizitäres Geschäft mit veralteten Anlagen.
Die Berge näher bringen?
Sandro ahnt wohl schon unseren Bärenhunger und tischt später mächtig auf. Verschiedene Antipasti wie gebratener Radicchio, Hirschcarpaccio, lokaler Käse und Salami verwöhnen den Gaumen. Auch seine Polenta ist nicht irgendein Maisgries, sondern „Polenta di Beura“, feines Slow Food aus dem Ossolatal. Eine cremige Zabaione rundet das üppige Mahl ab. So lecker, dass man am liebsten Nachschlag wollte, wäre man nicht schon pappsatt. Sandro zieht die Augenbrauen hoch. „Einen Grappa zur Verdauung?“ Unbedingt. Dann rückt er raus mit den Sorgen, die ihn plagen. Er erzählt von den utopischen Skigebietsträumen, die die hiesigen Gemeinden hegen, eingelullt von einem lombardischen Geschäftsmann, der Großartiges an Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten verspricht. Das Projekt mit dem sinnigen Namen „Avvicinare le Montagne“ (die Berge näher bringen) sieht eine Verbindung mit dem benachbarten Skigebiet San Domenico vor.
Eine Bergbahn würde dann durch das unberührte Bondolero-Tal führen. Und auch die Idylle am Monte Cazzola wäre dahin, Bergrestaurant und Hotel sollen den Gipfel krönen. Mehr Hotels, darunter ein 5-Sterne-Resort, auf der Alpe Devero und die wilde Zufahrtsstraße komfortabel ausgebaut … Sandro schüttelt den Kopf. „Das schädigt für immer diese Landschaft und die Umwelt“, sagt der Wirt. „Statt der Idylle und Artenvielfalt der Alpe wäre es ein hässlicher Eingriff für Menschen, die diesen wahren Luxus nicht erkennen.“ Und wer würde denn auch kommen, wo allein schon die Abfahrtskilometer fehlen und selbst dort, wo sie vorhanden sind, wie in Saas-Fee oder Leukerbad, die Bergbahnunternehmen am Straucheln sind. Mit zwei weiteren Unterkunftsbetreibern der Alpe Devero gründete Sandro daher das „Comitato Tutela Devero“, das Komitee zum Schutz der Alpe Devero. Mit im Boot die Naturschutzverbände Mountain Wilderness, Legambiente VCO, Italia Nostra VCO, Salviamo il Paesaggio Valdossola und Pro Natura Piemonte. In einer Petition sammelt man Unterschriften.
Den Traum erhalten
Wer den Erhalt des Naturjuwels Alpe Devero unterstützen möchte, kann dies mit seiner Unterschrift bei der Petition unter diesem Link: change.org/o/comitato_tutela_Devero
Mittlerweile sind es über 95.000. „Doch wir brauchen noch mehr“, sagt Sandro, „der Kampf ist noch lange nicht zu Ende.“ Deshalb gründete man den Verein „Devero Naturalmente“, der sich um eine naturverträgliche Entwicklung der Alpe Devero einsetzt.
Grobe Natureingriffe verhindern
Ziemlich schwermütig besteigen wir am nächsten Vormittag die Punta della Valle und hängen unseren Gedanken beim Betrachten der einsamen Gebirgslandschaft nach. Aus den Lärchenwäldern leuchtet die Schwemmebene der Alpe Devero wie ein weißer Stern herauf. Das soll zerstört werden, einem gesichtslosen Skirummelplatz weichen? Wir hoffen auf die Widerstandskraft des Naturparks und der Naturschutzorganisationen. Seit den 1970er Jahren gab es hier immer wieder Projektideen für grobe Natureingriffe, die bisher alle verhindert werden konnten. Über die Bocchetta della Valle und den Passo Busin ließe sich zum Rifugio Miryam überwechseln. Die Punta Clogstafel liegt am Weg und erlaubt bei stabilen Verhältnissen eine wilde Abfahrt durch die Nordflanke direkt zur Hütte. Vor einigen Jahren hatte es gepasst und wir nächtigten bei Cecilia und Lorenzo im Rifugio Miryam. Sie ist Bergführerin, er Journalist. Das quirlige Paar kennt hier jeden Winkel und ist immer für einen Tipp zu haben. Ihr Refugium ist zwar weniger bekannt als das einen Katzensprung weiter westlich am Lago Vannino gelegene Rifugio Margaroli. Aber dank der großen Panoramafenster sitzt man in der Stube wie mitten in einer Schneelandschaft. Unser Blick schweift zum Ofenhorn, wo eine Skiroute vom Binntal herüberzieht.
Jetzt hält uns die Lawinengefahr von größeren Eskapaden ab. Von der Punta della Valle schwingen wir durch die weiße Prärie nach Crampiolo hinunter. Was stünde am Nachmittag an? Vielleicht eine Schneeschuhtour über den zugefrorenen Lago di Devero. Oder einfach nur die Seele baumeln lassen und vom Liegestuhl den herabdonnernden Lawinen zuschauen? Es scheint, als müsse man sich selbst dabei beeilen, den besonderen alpinen Charakter der Alpe Devero zu erleben. Wer weiß, wie lange dieser so erhalten bleibt.