Der Winter 2019/2020 ist grün und man kann perfekt lang laufen und rennradeln, aber eigentlich sind dies nicht die winterlichen Sportträume, die im Kopf stecken. Oben auf der Hannawies über dem Ammersee überzieht ein zartes Grün die Wiesen und Äcker. Vereinzelt spitzen erste Frühblüher aus dem Boden, und manchmal summt es leise in der Luft. Immerhin ist schon Ende Januar. Von Schnee und gespurten Loipen kann man nur träumen. Selbst an den fernen Bergen zeigt sich nur hoch oben ein weißer Schimmer. Der Klimawandel ist da, darüber muss nicht mehr diskutiert werden. Aber es fehlt einfach das Weiß, und es fehlt das Langlaufen. Ohne Lift und Aufstiegshilfen durch den Schnee gleiten, den Atem sehen und die Muskeln spüren. Der Klimawandel ist da, die Sehnsucht aber auch. Nur wohin in diesen warmen Tagen und wie?
Dolomiti Nordicski – Osttirol und Pustertal, Sexten, Toblach … ist nicht bald Biathlon-Weltcup in Antholz? Da muss doch was gehen, wenn im bayerischen Vorland schon nichts geht. Ein paar Klicks, und alles ist klar: „Langlaufen in den Dolomiten: Dolomiti Nordicski. Das größte Langlaufkarussell Europas: 1300 Kilometer Loipen im Herzen der Dolomiten, des grandiosen Weltkulturerbes.“ Die Sehnsucht siegt, und während der langen Läufe und Bike-Runden ist der Beschluss gefasst: Faschingsferien sind Langlauf-Ferien in den Dolomiten. Und die Anreise? Auf der Hannawies über den Klimawandel jammern und dann mit laufendem Motor im Stau über den Brenner stehen oder ich im Schritttempo durch Sexten quälen, das geht nicht. Winterurlaub mit Öffentlichen geht. Man muss nur den Schalter im Kopf umlegen und vielleicht etwas mehr nachdenken.
Statt vieler Klicks im Internet und der endlosen Suche nach Infos auf Schnee- und Hotelportalen erleichtern zwei Telefonanrufe die Planung deutlich. Elvira vom Tourismusverband Osttirol gibt ebenso prägnant und ehrlich Auskunft und wertvolle Tipps wie Alberto aus Toblach. „Wann, wie, wo, wie lange … Tja, Faschingsferien … schwierig … aber halt, da wäre noch was Passendes für euch frei.“ Erster Standort wird Sillian, da es öffentlich perfekt angebunden ist. Die persönlichen Auskünfte über Schneelage und Loipenzustand sind auch detailreicher, offener und gefühlt ehrlicher als die meisten Portale. Vielleicht gehört dies auch zu „anderen Skiferien“ dazu: Freundlichkeit und Beratung schätzen wir in Geschäften und Restaurants, warum also nicht bei den wertvollsten Tagen im Jahr, dem Urlaub? Kurzum, ein klasse Service, bevor es überhaupt losgeht. Zum Langlaufen mit kleinem Gepäck und öffentlicher Anreise. Noch können wir uns nicht vorstellen, wie der Virus nur ein paar Wochen später alles paralysieren wird.
Die Zuganreise an Fasching über den Brenner steht für hohe Belegungszahlen bei nahezu allen Verbindungen. Und die Pustertalbahn ist nach einem gewaltigen Sturm und Murenabgang noch gesperrt; seit Wochen gibt es nur Schienenersatzverkehr. Doch es geht auch anders. Mit dem Werdenfelsticket nach Innsbruck und nonstop mit dem Postbus – kostenlos vorgebucht inklusive Sitzplatz an der Frontscheibe im Doppeldecker – über den Brenner nach Sillian. Ein Verlängerter und ein Croissant am Innsbrucker Bahnhof gehen sich noch aus, dann gibt‘s die Panoramafahrt im Doppeldecker. Das Hotel liegt 200 Meter von der Busstation entfernt, lässiger und entspannter geht’s kaum.
Sillians zentrale Lage im Hochpustertal macht das Städtchen für Langlauftage optimal geeignet. Das örtliche Öffi-Ticket gibt es im Hotel mit der Loipenkarte, die Busstation befindet sich ebenso wie die Zugstation vor der Haustür. In wenigen Busminuten ist man im Villgratental und ebenso schnell am Kartitscher Sattel und auf dem Loipen-Eldorado von Obertilliach. Ein weiterer Vorteil: Man muss nicht zurück zum Auto und kann auch mal durchspuren. Eingebettet zwischen den Lienzer Dolomiten und dem Karnischen Kamm ist Obertilliach eines der Top-Langlaufzentren Österreichs, mit der Grenzlandloipe als legendärem Klassiker. Zwischen 1400 und 2250 Metern Höhe erstrecken sich die Loipen, die durchschnittliche Schneehöhe liegt bei knapp einem Meter am Berg (65 Zentimeter im Tal), und die Saison geht von November bis Ende März. Obertilliach gehört zu den schneesichersten Langlaufgebieten in Österreich – hier trainieren ab Mitte November Profis, engagierte Sportler*innen und Genusslangläufer*innen. Unzählige Schleifen, Runden und die legendäre Ricco-Groß-Kehre warten neben dem Biathlon-Stadion. Und bei passender Schneelage zieht die Spur vom Kartitscher Sattel bis Maria Luggau im hinteren Lesachtal. Wer also auf den endlosen Kilometern der Grenzlandloipe (84 km Skating, 78 km Klassisch, 10 km Höhenloipe) nicht zum Zuge kommt, ist schwer zufriedenzustellen. Wir sind hochzufrieden, dass alles so fein klappt, und nach dem Langlaufen sitzen wir im eigentlich ruhigen Obertilliach bei einer Jause und wundern uns über die vielen Autos, die sich durchs Bergsteigerdorf quälen.
Auch in diesem grünen Winter hat es in den Dolomiten im November, wie fast jedes Jahr, geschneit. Nur diesmal – und jetzt sind wir wieder beim Klimawandel – in unsagbaren Mengen und mit ordentlichem Sturm. Venedig war geflutet, in den Bergen kamen die Muren runter, so dass die Zugverbindung Franzensfeste – Lienz wochenlang gesperrt ist, und die Bergwälder knickten in den Windschneisen um wie Streichhölzer. Nach dem Novemberschnee war‘s dann aus mit dem Schneefall. Trotzdem sind die Loipen 1a gepflegt und tipptopp in Schuss. Da sind die 35 Euro für die Wochenkarte gut angelegt. Als dann am dritten Tag doch ein sehr warmer Wind bläst, droht auf den Loipen „Wasserski“.
Der Szenenwechsel nach Toblach ist denkbar einfach. Rein in den Zug, Fahrzeit 14 Minuten, vor dem Bahnhof steht der Hotelbus. Bequemer geht‘s kaum. Auch in Toblach nutzen wir die Dienste des Tourismusvereins, denn die Dienstleister investieren in die örtliche Infrastruktur und bieten auch die Südtirol MobilCard für die kostenfreie Nutzung sämtlicher Busse und Bahnen in Südtirol/Trentino an. Nachmittags drehen wir noch ein paar Runden an der Toblacher Nordic Arena, dank der vorangegangenen Wettkämpfe wieder bei Traumbedingungen. Während es in Obertilliach zum Wärmeeinbruch kommt, schneit es in Sexten und Toblach sogar etwas, und das Fischleintal lockt mit Traumloipen. Überhaupt ist hier alles anders. Nordic Ski ist an den Drei Zinnen zwar ein Thema, aber die Orte sind voller Pistenskifahrer. Im Hochpustertal waren es vornehmlich einheimische und deutsche Gäste, stammen in Toblach die meisten aus Norditalien, das hört man am Dialekt. Venezien, Bologna. Bergamo?
So langsam werden die Corona-Nachrichten bedrückender, Infektionszahlen tickern online aufs Handy, Österreich setzt zum ersten Mal einen Zug am Brenner fest. Aber so richtig präsent ist die Dringlichkeit immer noch nicht. Noch steht bei allen der Winterurlaub im Fokus. Auf der Loipe ist das alles eigentlich auch kein Thema – mehr frische Luft geht wohl nicht. Aus heutiger Sicht müssten wir im Bus Maske tragen, das wäre es aber auch schon. Infektionswege waren Ende Februar kein Thema, niemand sprach über Oberflächen oder über die gefährlicheren Aerosole. Noch weitgehend unbedarft und unwissend genießen wir die Nordicski-Area „Drei Zinnen Dolomites“ als Langlaufparadies. Das Fischleintal, die FIS-Loipen und natürlich die Tour de Ski hoch zum Passo Cimabanche (1529 m) sind First Class und in top Zustand. Mit der Nordicski-Karte und der Südtirol-Card könnten wir in allen zehn Nordicski-Areas laufen. Uns „genügen“ für drei Tage die Drei Zinnen, denn wo bekommt man zu all den fantastischen Loipen noch ein derart atemraubendes Bergpanorama dazu?
Mit rund 200 Loipenkilometern für Klassisch wie für Skating ist Toblach eine Top-Destination nicht nur für internationale Spitzenathlet*innen. 1986 machte das erste große Rennen hier Halt. Toblach sprang für eine Tour-de- Ski-Etappe in Klingenthal in der ehemaligen DDR ein, das wegen Schneemangel das Rennen absagen musste. Seitdem ist Toblach gesetzt. Bei passendem Wetter genießen wir Langlauf pur in bestem Ambiente und haben keine Vorstellung davon, was sich alles in den nächsten Tagen und Wochen ändern wird. Die Rückreise treten wir wieder öffentlich an: Mit der Südtirol-Card kostenlos zum Brenner, von dort mit der S-Bahn nach Innsbruck (die Züge sind allesamt voll) und mit der Werdenfelsbahn heim an den Ammersee. Die Züge sind so getaktet, dass wir nirgendwo länger als 15 Minuten warten. Auf der Hannawies zwischen Frieding und Andechs liegt immer noch kein Schnee, aber zwei Tage später erklärt das Robert-Koch-Institut Südtirol zum Risikogebiet.
Würden wir es heute anders machen? Nein. Denn Langlaufen ist ein perfekter und feiner Outdoorsport in diesen harten Zeiten. Die Dolomiti-Nordicski-Zentren sind nicht zu toppen, und die öffentliche Anreise ist absolut kein Thema. Nur in den Hütten und Restaurants müssten wir vorsichtiger sein und untertags lieber draußen unseren Espresso trinken. Aber wenn das alles ist, dann immer wieder gerne!