In DAV Panorama 6/20 schrieb der Psychologe Manfred Ruoß über psychologische Hintergründe und Fallstricke bei der Lawinenbeurteilung. Hier stellt er seine Gedanken in größere Zusammenhänge und geht auf Details näher ein.
Die Lage
Im Durchschnitt gibt es seit Jahrzehnten über die gesamten Alpen jeden Winter circa 100 Lawinentote (Techel et al. 2016). Der größte Teil davon sind Tourengeher, Freeriderinnen und Schneeschuhgeher, die in ihrer Freizeit in Lawinen geraten, die sie meistens selbst ausgelöst haben.
Wintersportler außerhalb von kommerziellen Skigebieten müssen entscheiden, ob sie im winterlichen Gebirge eine Tour unternehmen, ein bestimmtes Gelände befahren, oder darauf verzichten. Aus psychologischer Perspektive ist dies eine prototypische Situation für den Umgang mit Risiken. Dramatisch ist, dass es tatsächlich um Leben und Tod gehen kann, dies unterscheidet Lawinenentscheidungen von den meisten Alltagsentscheidungen. Wir müssen bei Lawinenentscheidungen auf unsere normalen kognitiven Fertigkeiten zurückgreifen. Die natürlichen Grenzen unserer Denkfähigkeiten und unseres Umgangs mit Informationen sollten daher berücksichtigt werden, wenn wir Risiken abschätzen und existentiell bedeutsame Entscheidungen treffen.
Beurteilung der Lawinengefahr
Die Beurteilung der Lawinengefahr ist ein hochkomplexer Prozess. Mindestens folgende Faktoren können berücksichtigt werden:
Lawinenlagebericht, während der Saison täglich neu
Beurteilung des zu befahrenden Hanges nach Neigung und Ausrichtung
Schneedeckenprofil und die Stabilität der Schneedecke
Niederschlag: Neuschneemenge, Regen
Einfluss von Wind: Gibt es Schneeverfrachtungen und Triebschnee
Temperatur: Veränderungen über den Tag, Veränderung im Jahresverlauf
Frequentierung einer Tour: Ist ein Hang stark befahren?
Beurteilung des Untergrunds: Wiese, Latschen, Fels, Geröll?
Führt die Tour durch den Wald?
Beurteilung der Geländeformen: Freier Hang, Rinne, Grat, Rücken?
Alarmzeichen wie Wumm-Geräusche oder Abgang frischer Lawinen
Die Größe der Gruppe, die gemeinsam unterwegs ist
Die Hierarchie in der Gruppe: gibt es einen eindeutigen Führer und Entscheider?
Diese Auflistung ist keineswegs erschöpfend. Klar ist, die Beurteilung von Lawinengefahr ist hochkomplex, Lawinen sind multifaktoriell verursacht. Und fundamental ist: Die Frage, ob an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Hang zu einer bestimmten Zeit eine Lawine abgeht, kann nicht beantwortet werden, dazu ist kein Instrument vorhanden. Die Komplexität des Naturphänomens Lawine und der Lawinenprognose werden unterschätzt.
Lawinenwarndienste
Lawinenwarndienste in Europa haben sich seit 1993 auf fünf Lawinengefahrenstufen geeinigt (gering – mäßig – erheblich – groß – sehr groß). Die Stufen mäßig und erheblich gelten an über 80 Prozent der Tage eines Winters. Ebenfalls über 80 Prozent aller Todesfälle sind bei diesen Gefahrenstufen zu beklagen (Walter & Brügger, 2012).
Aktuelle Beurteilungsschemata strukturieren verfügbare Informationen für die Beurteilung des Lawinenrisikos in fünf Lawinenprobleme und zehn Gefahrenmuster:
Die fünf Lawinenprobleme: Neuschnee, Triebschnee, Altschnee, Nassschnee, Gleitschnee. Die Probleme werden, beispielsweise vom Lawinenwarndienst Bayern, sehr differenziert dargestellt. Verhaltensempfehlungen werden gegeben.
Die zehn Gefahrenmuster: bodennahe Schwachschicht, Gleitschnee, Regen, kalt auf warm / warm auf kalt, Schnee nach langer Kälteperiode, lockerer Schnee und Wind, schneearm neben schneereich, eingeschneiter Oberflächenreif, eingeschneiter Graupel, Frühjahrssituation. Die Gefahrenmuster erweitern die Informationen zu den Lawinenproblemen, die Gefahrenmuster werden speziell vom Lawinenwarndienst Tirol propagiert.
Die Informationen bieten eine umfassende Grundlage zur Abschätzung des Lawinenrisikos. Sie sind auch die Grundlage für die Sperrung von Verkehrswegen oder die Evakuierung von Siedlungen. Aber die Informationen sind für Freizeitsportler ziemlich unübersichtlich. Es ist vermutlich nicht übertrieben, zu sagen, dass die Komplexität der Basisinformationen (fünf Warnstufen, fünf Lawinenprobleme, zehn Gefahrenmuster) zu hoch ist, um vom normalen Skitourengeher ausgewertet zu werden, er ist damit überfordert. Zumal unscharfe Angaben einen großen Interpretationsspielraum zulassen.
Auch Empfehlungen, wie sie von der Sicherheitsforschung im DAV propagiert werden (Mersch & Hummel, 2020), weisen eine Komplexität und Unschärfe auf, die den Nutzer eher überfordern als dass sie eine Hilfe wären. Dazu kommt, dass die individuelle Frage, ob ein bestimmter Hang begangen werden kann, gar nicht auf der Basis dieser Informationen entschieden werden kann. Am Ende steht eine Aussage wie „große Erfahrung und lawinenkundliches Wissen“ seien für eine endgültige Beurteilung nötig. Offen bleibt, wer darüber wann verfügt.
Es gibt amtliche Stellen, die eine Einschätzung der Lawinengefahr veröffentlichen, während der Saison in vielen Regionen täglich. In Bayern und Tirol sind das die staatlichen Lawinenwarndienste. Daneben gibt es ehrenamtlich tätige lokale Lawinenkommissionen aus ortskundigen und bergerfahrenen Fachleuten, die bei Bedarf zusammentreten, um die aktuelle Wetter-, Schneedecken- und Lawinensituation zu beurteilen und daraus entsprechende Empfehlungen für Lawinensicherungsmaßnahmen ableiten, etwa Sperrungen von Straßen und Skiabfahrten oder künstliche Lawinenauslösungen. In Bayern gibt es 33 Kommissionen.
Spätestens hier wird klar, dass das Lawinenrisiko aus verschiedenen Perspektiven beurteilt wird. Es gibt – zumindest für uns in Europa – eine amtliche Mitteilung, die über die aktuell bestehende Gefahr informiert, dies differenziert für verschiedene Regionen und für den Tagesverlauf. Keineswegs jedoch kleinräumig für einen bestimmten Hang. Auch bei einer „Einserlage“ kann man eine Lawine auslösen. Auch müssen einzelne Geher oder die Gruppe für jede Tour und auf einer Tour in jeder kritischen Situation entscheiden, ob es geht oder nicht. Und gerade dieser Entscheidungsvorgang unterliegt allen Restriktionen, die es bei der Psychologie des Entscheidens gibt.
Menschen treffen Fehlentscheidungen
Es gibt also durchaus – auch jetzt und heute – Möglichkeiten, die Lawinengefahr zu beurteilen und Entscheidungen zu fällen, ob man eine Tour geht oder nicht, ob man einen Hang befährt oder nicht. Dennoch gibt es alpenweit eine dreistellige Zahl von Lawinentoten, jedes Jahr. Was geschieht, was machen Menschen falsch? Holen sie keine Informationen ein? Können sie vorhandene Informationen nicht auswerten und beurteilen? Entscheiden sie anders, als es die vorliegenden Informationen empfehlen? Oder lassen sich auf der Grundlage der vorliegenden Informationen gar keine brauchbaren Entscheidungen treffen?
Beikircher (2015) hat ein drastisches Beispiel für Fehlentscheidungen publiziert:
Am 6. Januar 2015 lösen Tourengeher im über 40 Grad steilen Gipfelhang der Schneespitze im Reintal/Südtirol eine Lawine aus. Ein Mensch kann nur noch tot ausgegraben werden, ein weiterer stirbt zehn Tage später im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Die Primärlawine löste allerdings zig weitere Lawinen aus und es hätte auch Dutzende weitere Skitourengeher erwischen können, die an diesem Tag unterwegs waren.
Beikircher betont, dass a-posteriori-Analysen (wie er eine abgibt) den Odem der Klugscheißerei tragen. Dennoch gelte, dass die Tour nach den Kriterien aller anerkannten Lawinenstrategien unter den gegebenen Verhältnissen nicht „machbar“ war.
Bemerkenswert: Es waren Experten unterwegs, Kenner der lokalen Bedingungen. Es habe sich, durch soziale Netze befördert, ein kollektiver Hype um diesen Gipfel entwickelt. Am Unglückstag habe sich, so Beikircher, eine Community auf Dope und auf Hardcore auf den Weg gemacht.
Falsches Gefühl der Sicherheit
Hinter den Einschätzungen bekannter Lawinenstrategien stecken Grundlagenforschung, langjährige Erfahrungen und fundierte Beurteilungen der aktuellen Lage differenziert nach lokalen Begebenheiten. Würde den Empfehlungen gefolgt ließen sich viele Todesfälle vermeiden, so wird regelmäßig gesagt. Tatsächlich werden wir praktisch weiterhin in jedem Winter mit Meldungen wie dieser konfrontiert (Tagesschau, 13.1.2019):
Drei Skifahrer aus Süddeutschland sind im österreichischen Lech unter einer Lawine ums Leben gekommen. Wie die Behörden mitteilen, wird ein Mann der vierköpfigen Gruppe noch vermisst. Die vier befreundeten Skifahrer waren am Samstag den Angaben zufolge auf einer gesperrten Skiroute unterwegs. Am Abend wurden sie als vermisst gemeldet. Laut Polizei fanden die Retter die Leichen von drei Männern aus Oberschwaben im Alter von 32, 36 und 57 Jahren kurz vor Mitternacht. Die noch vermisste Person ist 28 Jahre alt und ebenfalls aus Süddeutschland. Als am Samstagabend die Frau eines Skifahrers eine Vermisstenanzeige stellte, gelang es den Helfern schnell, die Gruppe mittels Handy-Ortung zu lokalisieren. Die Wintersportler hatten die gesamte Notfallausrüstung zwar dabei. Trotz ausgelöster Airbags wurden sie aber verschüttet. Die Suche nach dem vierten Verschütteten musste wegen großer Lawinengefahr abgebrochen werden. Luwig Muxel, Bürgermeister von Lech am Arlberg, zeigte sich fassungslos angesichts des Unglücks: „Es wurde immer wieder gesagt: Bitte verlasst nicht den gesicherten Skiraum. Verbleiben Sie auf den gesicherten Pisten. Und trotzdem wird diese Botschaft immer wieder missachtet“. Die Lawinengefahr auf ungesicherten Tiefschnee-Bereichen werde immer wieder unterschätzt, so Muxel.
Nun ist es ein leichtes, auch bezüglich dieses Unglücks zu Klugscheißerei überzugehen. Das von den Betroffenen (am Ende waren es vier) befahrene Gelände hätte, wäre die SnowCard zur Beurteilung ausgewertet worden, gemieden werden müssen. Bedenken sollte man aber: Der Lawinenlagebericht gab an diesem Tag eine allgemeine Stufe von 3 an. Unter 2200m war die Stufe 2.
Skitouren und Abfahrten im freien Gelände sind bei dieser Lawinenlage durchaus üblich. Leider passieren aber gerade in dieser Konstellation die meisten Unfälle. Ob die Entscheidung der Skifahrer wirklich haarsträubend falsch war, kann nur ein fundiertes Gutachten belegen. An diesem Tag waren sicher zahlreiche Freerider abseits der Pisten unterwegs. Möglicherweise gab es am Ende des Tages in der Region kaum noch einen Hang oder eine Rinne, die nicht eingespurt war. Die Bahnen und Lifte im Skigebiet waren in Betrieb, sie unterstützen den Zugang zu den riskanten Abfahrten. Das vermittelt auch bei allfälligen Warnungen und Sperrungen ein Gefühl von Sicherheit, das natürlich nicht gerechtfertigt ist. Die Skifahrer waren mit der kompletten Notfallausrüstung ausgestattet, hatten damit vermutlich subjektiv das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, auch den Fall einer Verschüttung. Ich komme weiter unten im Text auf die möglichen kognitiven Täuschungen zurück, die hier mit zum Unglück beigetragen haben.
Probabilistische und analytische Methoden
Die Beurteilung der Lawinengefahr ist mindestens so komplex wie Beurteilungen und Entscheidungen beispielsweise in der Medizin, der Politik oder in der Finanzwirtschaft. Auch in diesen Bereichen geht es darum, Informationen zu sammeln und auf der Basis der gewonnenen Daten Entscheidungen zu treffen und Prognosen zu erstellen. Dies vor dem Hintergrund anerkannter wissenschaftlicher (medizinischer, ökonomischer) Theorien. Es ist daher naheliegend zu vergleichen, wie in diesen Bereichen Entscheidungen und Vorhersagen ablaufen und wie zuverlässig diese sind. Tendieren wir doch dazu, Prognosen in der Politik, in der Finanzwelt oder, dies der vielleicht speziellste Fall, Diagnosen in der Medizin zu vertrauen.
Bei der Beurteilung der Lawinengefahr werden probabilistische von analytischen Vorgehensweisen unterschieden (Behr und Mersch, 2017). Probabilistische, das heißt wahrscheinlichkeitsbasierte, Methoden suchen Entscheidungen auf der Basis von vorliegenden Informationen über die allgemeine Lawinengefahr – vermittelt durch die gegebene Lawinenwarnstufe für eine Region – und von Merkmalen der geplanten Tour, beispielsweise Neigung des zu befahrenden Hangs zu finden. Werner Munter (1997) gilt als Begründer dieses Vorgehens. Aktuell steht beispielsweise mit der DAV-SnowCard eine probabilistische Entscheidungshilfe zur Verfügung. Behr und Mersch (2017, 2019) zeigten, dass probabilistische Methoden sinnvolle Tools sind, da Unfälle reduziert werden, wenn die Methode eingesetzt wird.
Analytische Methoden basieren in ihrem Kern auf der Beurteilung der Schneedecke. Höller (2017) fasst diesen Ansatz zusammen und sieht folgende Größen der Schnee- und Lawinenkunde als wesentlich für Skitourengeherinnen und -geher: Sogenannte Lawinenmuster, die Schneestrukturen wie Neuschnee oder Triebschnee berücksichtigen, grundlegende Einflussgrößen wie Schneefall oder Wind, die Schneeklassifikation mit der Einbeziehung eines Stabilitätsindex, Tests der Schneedecke und Stabilitätstests und strategische Methoden der zusammenfassenden Beurteilung und Entscheidung. Analytische Methoden suchen auf der Basis physikalisch erfassbarer Zustände der Schneedecke eine Beurteilung der Lawinengefahr. Analytische Methoden streben in ihrem Kern an, mit naturwissenschaftlicher Exaktheit eine Schneedecke zu beurteilen und daraus eine Lawinenprognose abzuleiten.
Dass psychologische Faktoren bei Entscheidungen im Gebirge relevant sind, hat in jüngster Zeit Martin Schwiersch (2017) einmal mehr klar herausgestellt. Er weist besonders auf folgende Punkte hin: Erstens spielt sich Bergsteigen in einer Welt der komplexen Ungewissheit ab, womit verbunden ist, dass nicht alle Risikofaktoren kalkulierbar sind, oft noch nicht einmal bekannt sind. Daraus ergibt sich die Bedeutung von Faustregeln bei komplexen Entscheidungssituationen: Mach es einfach, wenn es komplex ist. Zweitens: Gefühle und Intuitionen bestimmen oft Entscheidungen, die eigentlich eine systematische Analyse erfordern. Drittens: Fehlentscheidungen haben oft keine unmittelbaren Konsequenzen. Das erschwert Lernprozesse und steht dem Erwerb intuitiven Wissens entgegen. Diese Punkte werden in meinem Beitrag aufgegriffen, vertieft und erweitert.
Psychologische Faktoren
Der Artikel von Beikircher (2015) ist ein Beispiel dafür, dass Entscheidungen von Menschen nicht rational und logisch sind. Menschliche Entscheidungen sind beeinflusst von Emotionen, von Vorurteilen und Einstellungen, von Ressentiments. Persönlichkeitseigenschaften beeinflussen Entscheidungen enorm. Sie beruhen selten auf einer logisch nachvollziehbaren Analyse vorhandener Informationen, das gilt für Entscheidungen jeder Art, nicht nur für die Beurteilung der Lawinenlage.
Wir gehen nicht in die Berge, um dort wissenschaftlich zu arbeiten, um einer Erwerbsarbeit nachzugehen oder Geschäfte zu machen. Wir gehen in die Berge, um dort gute Gefühle zu spüren. Im weiteren Sinne dient Bergsteigen der Emotionsregulation. Mit Grawe (1998) kann man postulieren, dass es menschliche Grundbedürfnisse gibt, die wir zu befriedigen suchen, speziell auch dann, wenn wir in den Bergen unterwegs sind. Es sind dies die Bedürfnisse nach Kontrolle, nach Lusterleben, nach Selbstwerterhöhung und nach Bindung. Und anders als im normalen Alltag suchen wir in den Bergen ein Erleben, bei dem es um das Tun selbst geht. Wir Klettern um des Kletterns willen, befahren einen Tiefschneehang um uns im schwerelosen Zustand des Abwärtsschwebens zu verlieren. Wir wollen spielen, die reine Freude am Tun erleben. Wenn wir spielen, gehen wir in der ausgeübten Aktivität auf, wir kommen in ein Flow-Erleben. Seit Csikszentmihalyi (1985) werden die Merkmale von Flow-Erleben so beschrieben: Volle Konzentration, Veränderung des Bewusstseins, Hingabe an die Tätigkeit, Die Trennung zwischen Ich und Umwelt verschwindet, die Belohnung liegt in der Tätigkeit selbst. Skifahren ist eine typische autotelische Tätigkeit, Risiko und Gefahr führen zu einem besonders intensiven Erleben. Skitourengehen ist hochemotional, daher sind Entscheidungen und Risikoverhalten von Tourengeherinnen auch immer emotional beeinflusst.
Persönlichkeitsmerkmale bestimmen Entscheidungen in hohem Maße. Beispielsweise unterscheiden sich Menschen in ihrem Streben nach Selbstwerterhöhung oder in ihrem Bedürfnis Kontrolle auszuüben. Aufmerksamkeit zu erhalten, im Mittelpunkt zu stehen, über andere Personen zu bestimmen und Regeln aufzustellen kennzeichnen Menschen mit einem narzisstischen Persönlichkeitsstil. Diesen Persönlichkeitsstil prägen auch insbesondere die sehr positive Beurteilung der eigenen Kompetenz und der Umgang mit Risiken. Menschen mit einem hohen Maß an Optimismus und einem ausgeprägten Selbstbewusstsein gehen generell mehr Risiken ein. Eine besondere Gefahr entsteht aus dem Gefühl der eigenen Unverletzlichkeit, das speziell bei (jungen) Männern auftritt. Auch das Bedürfnis, in sozialen Medien präsent zu sein und seine Taten in Echtzeit zu präsentieren, befördert das Eingehen von Risiken. Insofern steigern Facebook, Twitter, Instagram das Risiko in eine Lawine zu geraten.
Menschen, bei denen ängstlich vermeidende Persönlichkeitszüge dominieren, unterschätzen ihre eigenen Kompetenzen, sie gehen grundsätzlich weniger Risiken ein, vermeiden Gefahren, auch nur vermeintliche. Allein die Vorstellung, man könne in Gefahr geraten, blockiert das Handeln. Dies ist ein Verhaltensmuster, das bei Menschen mit Angstproblemen zu beobachten ist. Solche Personen sind prinzipiell weniger gefährdet, bei zweifelhaften Verhältnissen in lawinenbedrohtes Gelände zu gehen. Sie sind andererseits in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt, im Extremfall blockiert die Angst den gesamten Alltag.
Aber Menschen gehen nicht alleine in die Berge, gerade auf Skitour gehen wir mit Partnern. Entscheiden ist ein Gruppenprozess. Eine Gruppe wird selten der ängstlich-vermeidenden Meinung folgen. Durchsetzen werden sich diejenigen, die vor Optimismus strotzen und ihre Einschätzung mit hoher persönlicher Überzeugungskraft vortragen. Das sind nicht die Ängstlichen.
Rausch, Ekstase, Sensation-Seeking
Menschen streben nach rauschhaften und ekstatischen Zuständen, das folgt aus dem menschlichen Grundbedürfnis nach lustvollem Erleben. Dieses Begehren mag individuell in sehr unterschiedlichen Ausprägungen vorliegen, es lässt sich aber grundsätzlich nicht aus der Welt schaffen. So sind bisher wirklich alle Versuche, eine Gesellschaft frei von Drogen zu etablieren, gescheitert.
Sicher ist: Wer in die Berge geht, erlebt intensive Gefühle bis hin zu rauschartigen Empfindungen. Das wissen Kletterer und Skitourengeherinnen. Dieses Erleben zieht uns immer wieder in die Natur, und es gibt Bergsteiger, die es nach immer intensiveren Empfindungen verlangt. Es ist dann nur ein kurzer Weg hin zu suchtartigem Verhalten.
Es liegt nahe, gerade auch den Begriff des Sensation-Seeking, den Marvin Zuckermann (1964) in die Persönlichkeitspsychologie einführte, mit dem Bergsteigen in Verbindung zu bringen. Zuckermann versteht Sensation-Seeking als eine „überdauernde Persönlichkeitseigenschaft, die durch das Aufsuchen von verschiedenen neuen, komplexen und intensiven Empfindungen und Erfahrungen gekennzeichnet ist sowie durch die Bereitschaft, dafür körperliche, soziale, juristische und finanzielle Risiken in Kauf zu nehmen“. Das Sensation-Seeking bestimmen nach den hier genannten Vorstellungen folgende Komponenten:
Gefahr- und Abenteuersuche: Eine Tendenz, sportliche und andere Aktivitäten auszuüben, die mit Gefahr und/oder Geschwindigkeit einhergehen.
Enthemmung: Tendenz zu sozial und sexuell enthemmtem Verhalten.
Erfahrungssuche: Suche nach Erfahrungen durch einen nonkonformistischen Lebensstil und Reisen.
Abneigung gegen Routine und Wiederholungen.
Menschen können Gefahr, Geschwindigkeit, neue Reize als sehr lustvoll erleben und suchen dann gezielt nach Wegen, solche Zustände herzustellen. Bergsteigen bietet sich dazu an. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass diese Eigenschaft bei Bergsteigern besonders ausgeprägt ist. Diese Eigenschaft lässt sich im Prinzip durch Testverfahren gut erfassen. Allerdings ist mir nicht bekannt, ob bei Bergsteigern jemals systematisch nach der Ausprägung dieser Eigenschaft gesucht wurde.
Es ist klar: Wenn Menschen in einem rauschartigen Zustand sind, wenn ihr Verhalten suchtartig wird, wenn sie nach starken Gefühlen suchen, entscheiden sie nicht nach rationalen Kriterien. Sie entscheiden sich vielmehr für die Handlungsalternative, die mit dem intensivsten Lusterleben verbunden ist. Eine sicherheitsorientierte Lawinenbeurteilung erfolgt nicht aus solchen Zuständen heraus. Und Skitourengeherinnen sind manchmal wie auf Dope, wenn sie den Kick der ersten Linie suchen, wenn es Powderalarm gibt, wenn der Sog der Tiefe einen Adrenalinschub auslöst. Genau darauf hat ja auch Beikircher im erwähnten Aufsatz hingewiesen.
Schnelles Denken – Langsames Denken
Können wir überhaupt rational entscheiden, können wir statistische Fakten berücksichtigen? Wir können, wenn wir uns anstrengen, wir tun es aber selten. Im Alltag sind wir allzu oft Opfer kognitiver Täuschungen. Denken und Handeln richten sich eben nicht nach Logik und Statistik.
Folgen wir Daniel Kahnemann (2011), so ist festzustellen, dass beispielsweise das Problem der Selbstüberschätzung generell auftritt. Und dass wir, was unser Denken angeht, viel weniger über uns wissen, als wir zu wissen glauben. Daniel Kahnemann, seit Jahrzehnten einer der einflussreichsten Wissenschaftler im Bereich der Kognitiven Psychologie, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften und mit der Publikation des Buches „Schnelles Denken – Langsames Denken“ auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt, liefert mit seiner Analyse einen Zugang, mit dem sich die Schwierigkeiten bei der Beurteilung von Lawinensituationen kritisch würdigen lassen.
Es gibt, in der Psychologie bestens etabliert, zwei Arten zu Denken. Ein schnelles und ein langsames System:
Das schnelle Denken oder System 1 ist unser Standardsystem im Alltag, wenn wir schnell und automatisiert Informationen verarbeiten. Wir können dieses System relativ mühelos einsetzen, es bedarf keiner willentlichen Steuerung und es liefert schnell und quasi ungefragt Entscheidungen zu praktisch allen Alltagsfragen.
Das langsame Denken oder System 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf anstrengende mentale Aktivitäten, die Aufmerksamkeit und Konzentration benötigen, zum Beispiel, wenn es um Berechnungen geht oder bei der Analyse statistischer Daten. Wenn wir im System 2 agieren, geht das mit dem subjektiven Empfinden von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher. Die Meinung, die wir über uns selbst haben, ist die, dass unser System 2 bestimmend wäre. Wir sehen uns selbst als logisch denkende und unser eigenes Handeln stets bewusst kontrollierende Personen.
Die in Wirklichkeit wichtigere Instanz ist indessen das System 1. Dieses schnelle und belastbare System erzeugt Eindrücke und Gefühle, die die Hauptquellen der expliziten Überzeugungen und bewussten Entscheidungen von System 2 sind. Es geht – wie bei allen Tieren – um angeborene Fähigkeiten, die wir benötigen, um uns in unserer Umwelt zu orientieren, uns vor Gefahren zu schützen und schnell Vorteile zu realisieren. Wir steuern dadurch unsere Aufmerksamkeit, vermeiden Verluste und stellen in rasantem Tempo emotionale Reaktionen bereit (z. B. Angst), die uns warnen und schützen, aber auch antreiben.
System 1 – Schnelles Denken
Durch lange Übung entstehen automatisierte Routinen, wir lernen auch stabile Assoziationen zwischen Vorstellungen und Erfahrungen. Wenn unser System 1 aktiv ist, bewegen wir uns sozusagen im Autopilotenmodus. Wir nutzen unser umfängliches gut vernetztes Wissen über die Natur, über Kultur, Gesellschaft und Sprache, gespeichert im Gedächtnis, und können ohne besondere Intention und Anstrengung schnell reagieren. Es geht um Reaktionen auf Anforderungen wie:
Vervollständigen Sie den Ausdruck „Brot und …“.
Wenden Sie sich der Quelle eines plötzlichen Geräusches zu.
Fürchten Sie sich vor einer Schlange.
Hören Sie die Feindseligkeit aus einer Stimme heraus.
Beantworten Sie "2 +2 =".
Fahren Sie mit einem Auto über eine leere Straße.
Das Problem unseres Systems 1 ist: Es versteht kaum etwas von Logik und Statistik, und es kann nicht abgeschaltet werden. Es ist daher anfällig für Täuschungen, diese können sich auf optische oder akustische Reize beziehen, aber auch das Denken betreffen.
Ein Beispiel, das Schläger-und-Ball-Problem: Ein Schläger und ein Ball kosten 1,10 Euro. Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball? Achtung: Beantworten sie diese Frage jetzt sofort. Diese Frage löst eine intuitive Antwort aus, die falsch ist. Wir tendieren zu einer schnellen Antwort, mit der wir meist daneben liegen. Das passiert allzu oft, wenn wir unserer Intuition, unserem gesunden Menschenverstand vertrauen. Zur Lösung: Schalten sie System 2 ein, nehmen sie Papier und Bleistift, rechnen sie, widersetzen Sie sich Ihrer Intuition. (Hinweis zum Lösungsweg: Der Ball kostet x Cent, der Schläger x+100 Cent, beide zusammen 110 Cent. Daraus ergibt sich die einfach zu lösende Gleichung: x + x + 100 = 110.)
System 2 – Langsames Denken
System 2 erfordert unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und dauerhafte Konzentration, wobei unser Aufmerksamkeitsbudget beschränkt ist. Unser System 2 ermöglicht uns die fortwährende Überwachung des Verhaltens. System 2 ermöglicht Selbstbeherrschung und die Regulation der Impulse, die System 1 generiert. Unser Selbstbild, wir sehen uns ja als mit Bewusstsein und Willen begabte Wesen, basiert auf dem Wirken von System 2. Beispiele für das Wirken von System 2 sind:
Nach einer Frau mit rotem Haar Ausschau halten.
Mit dem Kletterführer in der Hand den Einstieg einer Kletterroute suchen.
Die Angemessenheit des eigenen Verhaltens in einer sozialen Situation überwachen.
Vorhersagen über die Kursentwicklung einer Aktie abgeben.
Das Problem ist die Mühsal, die es macht, System 2 zu nutzen. Faulheit ist tief in unserer Natur angelegt, wir wählen daher üblicherweise den Weg, der mit dem geringsten Arbeitsaufwand verbunden ist. Spontan vertrauen wir allzu gerne auf die Entscheidungen, die uns System 1 nahelegt. Aber nur System 2 kann Regeln befolgen, Objekte in Bezug auf mehrere Merkmale vergleichen und wohlüberlegte Wahlen zwischen Optionen treffen, das automatische System 1 besitzt diese Fähigkeit nicht.
Die Systeme im Lawinenkontext
Entscheidungen über die Lawinengefahr erfordern ein aktiviertes System 2. Denn wir besitzen keine angeborenen oder aus Erfahrungen aufgebauten Automatismen, die uns in einer Winterlandschaft bedrohliche Lawinensituationen schnell, sicher und mit Leichtigkeit erkennen lassen. Nur sehr wenige Tourengeher haben jemals tatsächlich direkt einen Zusammenhang zwischen einem Lawinenabgang und gegebenen Bedingungen bei Schneedecke, Wetter und Gelände erlebt, sozusagen die Lawine sinnlich gespürt.
Natürlich kann man häufig Lawinenabgänge beobachten, man kann mitunter auch Wumm-Geräusche hören. Ein intuitives Warnsystem lässt sich mit diesen seltenen Erfahrungen aber schwer aufbauen. Denn intuitive Expertise ist abhängig von der Qualität und Schnelligkeit unmittelbaren Feedbacks in konkreten Lernsituationen. Man benötigt umfassende Übung mit Lawinen, muss ein Gespür für Schnee und Gefahr erwerben, die Risiken mit den eigenen Sinnen gefühlt haben.
Es gibt sicher Experten, die ein Gefühl für Lawinen erworben haben, automatisch Hinweisreize aufnehmen und intuitiv entscheiden – ohne eine Begründung für die Entscheidung parat zu haben. Trotzdem sollten wir vorsichtig mit unserer Intuition sein, denn verlässliche Intuitionen erwerben wir nur, wenn es stabile Regelmäßigkeiten in unserer unmittelbaren Umwelt gibt, aus denen wir unser intuitives Wissen aufbauen können. Als Freizeitsportlerinnen und -sportler haben wir normalerweise nicht den nötigen Erfahrungsschatz zum Aufbau verlässlicher Intuitionen in Bezug auf Lawinen.
Unser System 1 ist nicht auf die Bewertung einer Lawinengefahr vorbereitet, es wird aber dennoch ein Urteil abgeben. Spontan generierte Eindrücke, Gefühle und Überzeugungen sind der natürliche Output unseres Systems 1, das sich ja nicht abschalten lässt. Sie entsprechen dem, was – gerne auch abwertend – als Bauchgefühl bezeichnet wird. Wir haben gar nicht die Wahlfreiheit, intuitiv oder rational zu entscheiden. Der Standard ist die schnelle Entscheidung durch System 1, dies ist immer eine „Bauchentscheidung“.
Nur wenn wir ganz bewusst die volle Denk- und Rechenleistung unseres Zentralorgans aktivieren, kommen wir zu einer rationalen Entscheidung. Das machen wir allerdings eher selten, dagegen steht die uns gegebene Faulheit. Solange wir darauf verzichten, unser System 2 zu aktivieren, gehen wir unbeschwert und mit einer gewissen Leichtigkeit durchs Leben (und auf die Berge), begeben uns aber mitunter in die Gefahr, gewaltige Fehlentscheidungen zu treffen.
Kognitive Täuschungen
Ich möchte einige schwerwiegende und allgegenwärtige kognitive Täuschungen herausgreifen, die zeigen, wie fehlerhafte Beurteilungen der Lawinengefahr zustande kommen können. Zum umfassenden Studium seien dem Leser das gut lesbare Buch von Kahnemann oder die journalistischen Texte von Rolf Dobelli (2011) empfohlen.
Kahnemann hat die „WYSIATI Regel“ formuliert, die beschreibt, wie wir mit Informationen umgehen. Mit „What You See Is All There Is“ ist gemeint, dass nur das zählt und in eine Entscheidung einfließt, was man gerade weiß. Konkret bedeutet das, wir ziehen voreilige Schlussfolgerungen auf beschränkter Datenbasis. Dies geschieht im Alltag generell! Zur Beantwortung einer Frage wird nur das herangezogen, was man gerade an Informationen hat. Auf einer Skitour mag das sein: Der persönliche Auftrieb und die Stimmung in der Gruppe sind positiv, gutes Wetter, guter Schnee, gute Spur, gute Sicherheitsausrüstung, harmonische Gruppe, überzeugende Führung, keine ängstlichen Begleiter. Auf dieser Datenbasis wird der Umgang mit dem Lawinenrisiko weniger vorsichtig sein als in Situationen, die durch tendenziell negativere Grundparameter gekennzeichnet sind. Wenn wir den Eindruck haben, dass „alles schon passt“ werden wir gehen. Aber „passt scho“ ist eine typische (Fehl-)Leistung von System 1, abgegeben aus einer aktuellen Stimmung heraus.
Auch ein übersichtliches Verfahren wie die SnowCard erfordert die Inbetriebnahme von System 2. Der überwiegende Teil der Lawinentoten wäre vermeidbar, würde die Strategie benutzt. Menschen verzichten aber darauf, diese Mühe auf sich zu nehmen.
Der "Overconfidence-Effekt"
Kompetenzillusion und Selbstüberschätzung sind tief in unserer Kultur verwurzelt. Folgen wir den Ausführungen von Kahnemann, zeichnen sich beispielsweise die Akteure in der Finanzwirtschaft durch besondere Ausprägungen dieser Fehler aus: „Investmentfonds werden von äußerst erfahrenen und tüchtigen Fachleuten gemanagt, die Aktien kaufen und verkaufen, um die bestmöglichen Ergebnisse für ihre Kunden herauszuholen. Dennoch ist die Datenlage nach über fünfzigjähriger Forschung eindeutig: Bei der großen Mehrheit der Fondsmanager gleicht die Auswahl von Einzeltiteln eher einem Würfel- als einem Pokerspiel. Im Allgemeinen ist die Wertentwicklung bei zwei von drei Investmentfonds in jedem beliebigen Jahr schlechter als die des Gesamtmarktes.“
Er referiert eine Studie der Duke Universität. Finanzvorstände von Großunternehmen sollten die durchschnittliche Rendite eines Aktienindex von Standard & Poor’s im folgenden Jahr vorhersagen. Insgesamt 1600 Vorhersagen wurden analysiert. Das Ergebnis: Die Finanzvorstände hatten keinen blassen Schimmer davon, wie sich der Aktienmarkt auf kurze Sicht entwickeln würde. Und die Finanzvorstände wussten nicht, dass ihre Vorhersagen wertlos sind. Dies wird als „Overconfidence-Effekt“ bezeichnet. Damit ist gemeint, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen dem, was Menschen wirklich wissen, und dem, was sie denken zu wissen. Am stärksten ist dies bei Männern und Experten ausgeprägt. Konkret führt das zu einem hohen Zutrauen in die eigene Urteilskraft und zu einem Mangel an Skepsis gegenüber eigenen Entscheidungen. Auch bei der Abschätzung eines Lawinenrisikos sollten wir bedenken, dass gerade erfahrene Geher gefährdet sind, diesem Effekt zum Opfer zu fallen.
Übersehen wird, dass Erfolg zu großen Teilen dem Zufall und dem Glück geschuldet ist. Ein anderes alltägliches Beispiel für die Fehleinschätzung eigener Kompetenzen betrifft Autofahrer. 90 Prozent glauben, überdurchschnittlich gut zu fahren. Auch dies ein Beispiel eines überzogenen Glaubens an die eigene Überlegenheit.
Emotionale Urteile und Entscheidungen
Grundsätzlich gilt, dass Expertisen durch ausgeprägte Vorhersagefehler belastet sind. Bedeutende historische Ereignisse, gerade auch solche in jüngster Zeit, wurden praktisch nie korrekt prognostiziert. Das gilt beispielsweise für die Finanzkrise im Jahr 2008, den Fall der Mauer, die Auflösung der Sowjetunion, den Siegeszug des Internet, den Bürgerkrieg in Syrien, die Präsidentschaft Trumps, die Brexit-Entscheidung.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. In solchen Fällen geht es darum, vorliegende Daten zu interpretieren und eine Vorhersage zu treffen. Die Ausgangslage ist vergleichbar mit der Vorhersage eines Lawinenrisikos. Besonders zu bedenken ist, dass Experten in ihren Vorhersagen nicht deutlich besser abschneiden als Nichtexperten. Vieles in der Welt ist nicht vorhersagbar, das gilt auch für den Abgang von Lawinen. Die starke subjektive Überzeugung, das persönlich vorhandene Wissen um Schnee und Lawinen mache ein Urteil sicher, ist leider häufig der Ausdruck einer Kompetenzillusion.
Auf Slovic (2002) geht das Konzept der Affektheuristik zurück. Eine Heuristik ist ein Verfahren, das uns hilft, adäquate, wenn auch oft unvollkommene Antworten auf schwierige Fragen zu finden. Wenn wir eine Frage nicht wirklich beantworten können, ersetzen wir sie durch eine einfachere Frage, die wir stattdessen beantworten. So mögen wir die schwierige Frage „wie zufrieden bin ich gerade mit meinem Leben“ mit der einfachen Frage „wie ist gerade meine Stimmung“ beantworten.
Das Konzept der Affektheuristik besagt nun, dass wir bei Urteilen und Entscheidungen unsere Emotionen zurate ziehen. Unter vielen Lebensumständen bilden sich demnach Menschen Meinungen und treffen Entscheidungen, die unmittelbar ihre Gefühle und ihre grundsätzliche Annäherungs- und Vermeidungstendenz zum Ausdruck bringen. Und sie wissen in diesem Fall nicht, dass ihre Entscheidungen durch Gefühle bestimmt werden. Kahnemann führt aus, dass diese Affektheuristik ein Fall von Ersetzung ist, bei dem die Antwort auf eine leichte Frage (Welche Gefühle weckt das in mir?) als Antwort auf die viel schwierigere Frage dient (Was denke ich darüber?).
Wie ausgeführt, ist eine Tour im winterlichen Gebirge mit starken positiven Emotionen verknüpft. Diese Emotionen können die Entscheidung über „gehen oder nicht gehen“ bestimmen, dies insbesondere dann, wenn das Wissen über die Lawinengefahr unklar und kompliziert ist und wenn das Wissen eventuell zu einer Entscheidung führt, die mit Verlusten verbunden ist, wenn auf eine Tour verzichtet wird. Bei Menschen ist die Unfähigkeit verbreitet, sich von einer gesunden Furcht vor negativen Konsequenzen leiten zu lassen.
Verlustaversion, Confirmation Bias und Kontrollillusion
Hier ist es an der Zeit, auf die Verlustaversion hinzuweisen. Bestens dokumentiert ist: Der Verlust durch einen Verzicht wird emotional ungleich viel deutlicher wahrgenommen als der Gewinn durch eine vergleichbare positive Konsequenz. Der Verzicht auf eine Tour wird emotional als Verlust erlebt, da ein guter Tag verschenkt werden muss, da man verzichtet. Dieser kurzfristige negative Effekt überstrahlt den theoretischen Gewinn an Gesundheit und Leben. Die Aussicht auf diesen Gewinn ist in der Situation des Verzichts wenig wirksam.
Der Confirmation Bias gilt als der „Vater aller Denkfehler“. Damit ist die Tendenz gemeint, neue Informationen so zu interpretieren, dass sie mit unseren bestehenden Theorien, Weltanschauungen und Überzeugungen kompatibel sind. Gefährlich wird das, wenn wir eine Voreinstellung zu einer Tour haben, von der wir meinen, wir müssen sie unbedingt machen. An diesem Punkt werden wir Informationen so auswählen und bewerten, dass sie unsere Intention unterstützen. Informationen und Daten, die nicht zur Planung passen, werden dann ausgefiltert, nicht zur Kenntnis genommen und fließen nicht in die Entscheidung ein. Wir sind uns dieser Täuschung nicht bewusst.
Kontrollillusion: Bezeichnet die Tendenz, überzeugt zu sein, dass wir etwas kontrollieren oder beeinflussen können, über das wir tatsächlich keine Macht haben. Wir befördern unser Kontrollbedürfnis bei Skitouren dadurch, dass wir uns perfekt ausrüsten. Lawinenairbag, VS-Gerät, Schaufel und Sonde geben das Gefühl, die Kontrolle zu behalten, auch wenn wir doch in eine Lawine geraten sollten. Im Text sind bereits mehrere Beispiele aufgeführt, dass sich das Lawinenrisiko durch diese Ausrüstung nicht kontrollieren lässt. Was bleibt, ist die Illusion, alles im Griff zu haben.
Natürlich gibt es Experten mit einem fundierten Wissen über Schnee und Lawinen, mit profunden Kenntnissen über die Entwicklung der Lawinengefahr in einer Region. Konkrete Prognosen über einen punktuellen Lawinenabgang, bezogen auf einen Hang zu einem bestimmten Zeitpunkt, sind dennoch selten über alle Zweifel erhaben. Das liegt daran, dass unser Denken grundsätzlich anfällig für Täuschungen und Störungen ist. Unsere Entscheidungen sind oft nicht sachgerecht, dessen sind wir uns nicht bewusst. Und es liegt daran, dass konkrete Lawinenereignisse auch durch den Zufall bestimmt bleiben.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die grundlegende Frage, ob an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Hang zu einer bestimmten Zeit eine Lawine abgeht, nicht beantwortet werden kann. Als Tourengeher muss ich Risiken und Wahrscheinlichkeiten abschätzen. Da wir die entscheidende Frage – gibt es einen Lawinenabgang oder nicht – nicht beantworten können, ersetzen wir sie durch eine Frage, die wir beantworten können und aus deren Beantwortung wir das Risiko besser einschätzen können. Fragen, die wir beantworten können, sind die nach Lawinenproblemen (z.B.: gibt es Neuschnee? gibt es Triebschnee?) oder nach Gefahrenmustern (z.B.: haben wir eine Frühjahrssituation?). Wird eine derartige Frage mit ja beantwortet, habe ich es mit einem erhöhten Lawinenrisiko zu tun. Die fünf Lawinenprobleme und die zehn Gefahrenmuster sind letztendlich Heuristiken: einfache Fragen, die eine komplizierte Frage ersetzen. Die Frage „Lawine ja oder nein“ wird durch eine Frage ersetzt, auf die eine Antwort möglich ist.
Die Mathematik von (Fehl-) Entscheidungen
Wie gehen wir mit Informationen um, wie schätzen wir eigentlich Risiken ein? Gelingt uns das? Als Beispiel ziehe ich eine Fragestellung der medizinischen Diagnostik heran, die von Gerd Gigerenzer (2002) so publiziert ist. Das Problem: 1000 Frauen im Alter zwischen 40 und 50, die an keinen Krankheitssymptomen leiden, nehmen an einem Mammographie-Screening teil. Das epidemiologische Wissen zu dieser Ausgangslage: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine dieser Frauen Brustkrebs hat beträgt 0,8 Prozent (Punktprävalenz in dieser Altersgruppe). Wenn eine Frau Brustkrebs hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit 90 Prozent, dass ihr Mammogramm positiv ist. Wenn jedoch eine Frau keinen Brustkrebs hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit 7 Prozent, dass ihr Mammogramm dennoch positiv ausfällt. Und nun die Frage, die sich stellt: Angenommen bei einer Frau ist das Mammogramm positiv. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich Brustkrebs hat.
Die richtige Antwort: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine der untersuchten Frauen Brustkrebs hat, wenn das Mammogramm positiv ausfällt, liegt bei 9 Prozent! Die Berechnung erfolgt nach der Bayes`schen Regel. Die Berechnung kann für natürliche Häufigkeiten erfolgen oder für bedingte Wahrscheinlichkeiten.
Grafisch stellt sich das Problem so dar:
Die Formel für natürliche Häufigkeiten:
p (krank/pos) = a / a+b = 7 / 7+70
a: Häufigkeit von richtig positiven Ergebnissen = 7
b: Häufigkeit von falsch positiven Ergebnissen = 70
Die Formel liest sich folgendermaßen: p ist die Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung, gegeben ein positives Testergebnis liegt vor.
Operieren wir mit bedingten Wahrscheinlichkeiten ergibt sich folgende Formel:
p (krank/positiv) = p (krank)× p (pos/krank) / p (krank)× p (pos/krank) + p (nicht krank) × p (pos/nicht krank)
Leserinnen und Leser werden die Lösung (9 Prozent Wahrscheinlichkeit krank zu sein, wenn der Test positiv ausfällt) eher aus der Anschauung finden, wenn sie mit den natürlichen Häufigkeiten rechnen, aber auch dann sperrt sich der „gesunde Menschenverstand“ gegen dieses Resultat. Die Chancen, die Lösung zu finden, verschlechtern sich enorm, wenn sie mit den Wahrscheinlichkeitsangaben operieren müssen. Wir sehen erstens, wie schwer es ist, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen, wie unzuverlässig unser System 1 ist, wenn wir Berechnungen vornehmen müssen, und wie wenig verlässlich der „gesunde Menschenverstand“ ist. Das Ergebnis ist zudem ernüchternd, da es die offensichtliche Schwäche von Vorsorge und Prognose offenlegt. Der Nutzen von Vorsorge in der Medizin ist daher, zumindest was beispielsweise die genannte Altersgruppe angeht, fraglich und durchaus umstritten. Statistisches und testtheoretisches Grundlagenwissen sollten vorhanden sein, wenn es darum geht Risiken abzuschätzen.
Beruhigend oder beängstigend – ganz wie man es sehen möchte – ist, dass auch Ärzte oft genug die Ergebnisse von Vorsorgeuntersuchungen, die sie ihren Patienten kommunizieren müssen, nicht korrekt interpretieren können.
Das Problem ist auch in Fragen der Öffentlichen Sicherheit, der Gefahrenbekämpfung und der Terrorismusabwehr relevant. Es gibt Spähprogramme, eingesetzt von Geheimdiensten und Behörden, die Personendaten analysieren und Terroristen identifizieren sollen. Auch hier erkennt das Diagnosesystem mit einer bestimmten Sensitivität die gefährlichen Personen. Möglicherweise erkennt das Programm mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent einen Terroristen als solchen. Wird nun eine sehr große Stichprobe analysiert, ergeben sich zwangsläufig auch hier viele falsch positiv Ergebnisse. Viele Unschuldige werden fälschlich als Terroristen eingestuft. Mit fatalen Folgen für die Betroffenen, das Etikett Terrorist bleibt an ihnen auf Dauer haften, und verbunden mit immensen Kosten für die weiteren Nachforschungen und Überwachungen. Konkret: Die meisten Personen, die von Algorithmen als Terroristen identifiziert werden, sind keine (denn Terroristen werden zwar gut erkannt, aber es gibt so wenige, dass die paar, die gefunden werden, gegenüber den falsch beschuldigten nicht ins Gewicht fallen). So wie auch viele Menschen, bei denen in einem Screeningverfahren eine Krankheitsdiagnose gefunden wird, diese Krankheit nicht haben – vor allem, wenn diese Krankheit eher selten ist.
(Fehl-)Entscheidungen bei Lawinenprognosen
Wieso diese Beispiele? Wir können die medizinische Diagnosefrage und das sicherheitspolitische Thema direkt auf die Risikobewertung einer Lawinensituation übertragen. Auch hier haben wir es mit einem Test zu tun. Und auch hier ist der prognostische Wert der Bewertung der Lawinengefahr aus statistischen Gründen beschränkt. Denn es gilt grundsätzlich: In den meisten Fällen, in denen die Lawinenkunde ein Stopp formuliert oder eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ für einen Lawinenabgang vorhersagt, wird keine Lawine abgehen.
Testergebnis | Lawinenabgang: ja | Lawinenabgang: nein |
positiv | Sensitivität des Tests | Falsch-positiv-Rate |
negativ | Falsch-negativ-Rate | Spezifität des Tests |
In einer „Vierfeldertafel“ wie dieser Tabelle kann man die vier möglichen Ergebnisse eines Tests zusammenfassen. Ein Test, beispielsweise das Resultat einer Systematischen Schneedeckendiagnose oder einer Snow-Card-Anwendung, kann vier Ergebnisse haben: positiv bei Abgang einer Lawine, positiv ohne Abgang einer Lawine, negativ bei Abgang einer Lawine oder negativ ohne Abgang einer Lawine. Die Anteile, mit der diese vier Ereignisse auftreten, nennt man Sensitivität oder Richtig-positiv-Rate, Falsch-positiv-Rate, Falsch-negativ-Rate sowie Spezifität oder Richtig-negativ-Rate. Fett markiert sind die beiden möglichen Fehler. Im Beispiel mit der Mammographie ist a die Häufigkeit von richtig-positiv Ergebnissen und b die Häufigkeit von falsch-positiv Ergebnissen.
Was bedeutet das für Lawinenprognosen?
Liefert die SnowCard ein Resultat im Bereich orange oder rot, bedeutet das eine „hohe Wahrscheinlichkeit für eine Lawine“. Wie hoch die Richtig-positiv-Rate ist, kann aber im Gegensatz zur Mammographie nicht berechnet werden, da epidemiologische Daten nicht vorliegen. Auch die Falsch-positiv-Rate ist unbekannt, vermutlich aber beträchtlich.
Nicht anders sieht es aus, wenn wir Schwachschichten in der Schneedecke identifizieren und daraus eine Prognose ableiten. Auch dann werden wir eine große Anzahl von falsch positiven Resultaten erzielen.
Bei der Beurteilung eines Lawinenrisikos wenden wir Diagnoseinstrumente an. Auch hier finden wir falsch positive Resultate und falsch negative Resultate. Was fehlt, sind die entscheidenden Werte, die wir benötigen, um etwas über die Vorhersagekraft eines Tests aussagen zu können. Es gibt in der Schneewissenschaft anders als in der Medizin keine Epidemiologie. Wir kennen die Zahl der Skitourengänger nicht. Wir wissen nicht, wie hoch der Prozentsatz der insgesamt verunfallten und der tödlich verunfallten ist. Wir kennen auch nicht die Zahl der Lawinenabgänge, weder insgesamt für die Alpen, noch für eine Region oder einen Hang. Die Sensitivität (Richtig-positiv-Rate) unserer Diagnoseinstrumente ist unbekannt. Auch die Spezifität (Richtig-negativ-Rate) ist unbekannt. Die zur Verfügung stehenden Instrumente haben eine sehr viel geringere prognostische Güte als wir annehmen. Das liegt nicht daran, dass die Instrumente und Verfahren schlecht sind. Es liegt an den testtheoretischen Rahmenbedingungen und an der zugrundeliegenden Mathematik. Diese Einschränkungen werden in der Lawinenwissenschaft bisher zu wenig berücksichtigt.
Schweizer et al. (2019) weisen in einem ganz aktuellen Beitrag auf folgende zwei Tatbestände hin. Erstens: „Die europäische Lawinengefahrenskala strotzt nur so von Begriffen wie „viele, einzelne, zahlreiche, fallweise, wahrscheinlich…“ … was aber heißt viele? Lässt sich das quantifizieren – und wie groß sind diese Lawinen?“ Klar ist, es gibt in der Lawinenkunde viel weniger Exaktheit, als wir uns wünschen, wir müssen uns vielmehr mit unsicherem Wissen abfinden. Zweitens: „Vorerst fragen wir uns, wie viele Lawinen einer bestimmten Größe treten typischerweise bei einer bestimmten Gefahrenstufe auf. Simpel eigentlich, und doch scheint es keine klaren Antworten zu geben.“ Die Autoren referieren, unter Hinweis auf generell fehlende Zahlen, über vorhandene Datensätze aus der Region Davos, die zu einer ersten noch beschränkten „Epidemiologie von Lawinen“ führen können. Eben zu einem Wissen darüber, wie viele und wie große Lawinen auftreten, wenn eine bestimmte Gefahrenstufe vorliegt.
Eine Falsch-positiv-Rate tritt bei jedem Test und bei jeder Diagnostik auf. Das heißt, es liegt ein positives Testergebnis vor, das einen Verzicht auf die Tour nahelegt, ein Lawinenabgang findet jedoch nicht statt. Diesen Befund haben wir gerade auch dann, wenn andere Tourengeher nicht auf die Tour verzichten und wir diese beobachten oder vom unfallfreien Gelingen der Unternehmung hören. Es wurde also auch keine Lawine ausgelöst. Machen wir diese Erfahrung, dass „es gut gegangen ist“, wir aber verzichtet haben, so ist das für unser Selbstbild negativ, wir nehmen dies wie einen Verlust wahr.
Auf den Tatbestand der Verlustaversion habe ich bereits hingewiesen. Die Realität ist, dass dann, wenn ein Test für ein „Stopp“ spricht, also einen Lawinenabgang prognostiziert, die Wahrscheinlichkeit tatsächlich in eine Lawine zu geraten gering ist. Diese Wahrscheinlichkeit liegt vermutlich unter 1 Prozent. Dieser Wert ist eine persönliche Schätzung, da eindeutige Daten zur Berechnung nicht vorliegen. Das ist fatal für den Tourengeher, der sich an seiner „Diagnostik“ orientiert, beispielsweise an der SnowCard. Er bekommt selten ein unmittelbares Feedback, dass seine Entscheidung gut war, eher tritt das Gegenteil auf. Das Verhalten, der Verzicht wird, psychologisch gesprochen, nicht verstärkt. Er erlebt durch seine Entscheidung den Verlust eines heißbegehrten Tourentages, ein Gewinn ist für ihn nicht zu erkennen. Das ist eine ganz schlechte Voraussetzung für einen Lernprozess, der dazu führen sollte, regelmäßig und automatisch ein Testverfahren anzuwenden. Natürlich leidet auch der Selbstwert darunter, wenn man bei seinen Entscheidungen keine Erfolge erzielt. Die Gefahr ist dann groß, auf Risikoabschätzungen ganz zu verzichten.
Aus persönlicher Erfahrung
Die Tour auf das Zischgeles im Sellrain ist ein Standard, für Innsbrucker Tourengeherinnen liegt der Berg direkt vor der Haustür und wird entsprechend häufig begangen. Der Anstieg birgt dennoch substanzielle Lawinenrisiken, regelmäßig sind Lawinenopfer zu beklagen. Wir hatten diesen Berg als Ziel ausgewählt. Der Tiroler Lagebericht hatte einen „Dreier“ ausgegeben. Bei dieser Warnstufe sollte die Tour eigentlich nicht mehr gemacht werden. Ich hatte kurz zuvor das Buch von Munter studiert, der hatte für häufig und die ganze Saison über begangene Touren einen Reduktionsfaktor definiert. Wir folgten zu dritt einer größeren Gruppe in einer guten Spur. Als die steileren Hänge im oberen Bereich des Anstiegs gut einzusehen waren, stoppte die Gruppe, besprach sich und kehrte um. Ich erklärte den weiteren Anstieg wegen des Reduktionsfaktors als machbar, meine Tourenpartner folgten mir ohne größere Zweifel. Weitere Partien, am Ende des Tages waren es sicher mehr als ein Dutzend, entschieden sich auch so. Uns blieb dadurch auch das Spuren erspart, nur im untersten Teil des Anstiegs konnten wir noch die Spitze behaupten, dann überholten uns die schnelleren Geher. Passiert ist nichts, alle die sich für die Tour entschieden, bewältigten Aufstieg und Abfahrt unfallfrei und mit mehr oder weniger Genuss.
Die Steinkarspitze, Lechtaler Alpen, ist eine kurze Tour ohne langen Talhatscher, die auch als Halbtagesunternehmung zu machen ist. Auch hier gibt es ernste Lawinenrisiken, speziell bei der Querung eines Hanges, über dem steile Rinnen nach oben ziehen. Der Lagebericht mit den Zusatzinformationen und die Beschreibung im Tourenführer ließen diese Passage äußerst kritisch erscheinen. Wir waren zu zweit unterwegs und entschieden uns dazu, diese Passage zu umgehen, indem wir gut 50 Höhenmeter in eine Mulde abfuhren, um einen großen Bogen um den Abschnitt zu machen. Gleichzeitig mit uns war eine größere geführte Sektionsgruppe am Ort. Als der Führer sah, wie wir abfellten, verspottete er uns als Weicheier, stellte klar, dass wir ja wohl keine Ahnung hätten und dass er noch nie eine Fehlentscheidung getroffen habe. Er werde auf jeden Fall den Hang queren, es gebe ja auch schon eine gute Spur. So machten wir es jeweils so wie wir dachten. Uns folgte dann allerdings die eine Hälfte der geführten Gruppe. An diesem Tag gab es weder bei Aufstieg noch bei der Abfahrt ein Lawinenereignis.
Zwei Fälle in denen Fehlentscheidungen folgenlos blieben, so wie die meisten Fehlentscheidungen folgenlos bleiben.
Konsequenzen für Entscheidungen, die die Lawinensituation betreffen
Die Grundfrage um die es geht – „wird auf meiner beabsichtigten Tour eine Lawine abgehen“ – wird von keinem Prognoseinstrument beantwortet. In der aktuellen Lawinenkunde wird diese Frage mit einer Ersatzheuristik gelöst. Wir können sagen, ob ein Lawinenproblem (Neuschnee, Triebschnee, Altschnee, Nassschnee, Gleitschnee) vorliegt. Oder ob sich ein Gefahrenmuster (bodennahe Schwachschicht, Gleitschnee, Regen, kalt auf warm / warm auf kalt, Schnee nach langer Kälteperiode, lockerer Schnee und Wind, schneearm neben schneereich, eingeschneiter Oberflächenreif, eingeschneiter Graupel, Frühjahrssituation) identifizieren lässt. Wenn das der Fall ist, erhöht sich das Lawinenrisiko. Ob eine Lawine abgehen wird, lässt sich dennoch nicht entscheiden. Bei sogenannten analytischen Verfahren wird eine Schneedeckenuntersuchung herangezogen, aber auch bei diesem Vorgehen wird nur eine nicht näher quantifizierbare Angabe zu einer höheren Wahrscheinlichkeit einer Lawine gegeben.
Entscheidungen sind immer mit Unsicherheiten behaftet. Und wer in die Berge geht, kann Risiken nicht ausschalten. Um das Risiko, in eine Lawine zu geraten, zu minimieren, müssen wir Verzicht trainieren, Vermeidung etablieren und den Verlust „guter Tage“ akzeptieren. Das fällt individuell sehr schwer.
Die Unterscheidung zwischen analytischen, probabilistischen oder intuitiven Entscheidungen ist obsolet. Menschen sind, wenn sie im normalen Modus durch ihren Alltag gehen, darauf eingestellt, mit ihrem System 1 zu entscheiden. Das bedeutet, Informationen werden selektiv ausgewertet, Emotionen bestimmen Entscheidungen, statistische Zusammenhänge können nicht gewürdigt werden, kritische Reflektion findet nicht statt. Wir entscheiden intuitiv, alles andere ist anstrengend und wird vermieden. Mit dieser Standardeinstellung gehen wir auch auf Tour. Und analytische Verfahren liefern auch nur vage Wahrscheinlichkeitsaussagen.
Tatsächlich haben wir – beispielsweise mit der SnowCard – brauchbare Instrumente, um Entscheidungen zu treffen. Hier muss ich noch einmal auf Kahnemann zurückgreifen, der eine Arbeit von Meehl (1986) referiert. Dieser hatte über 200 Studien analysiert, in denen Vorhersagen in den unterschiedlichsten Feldern (etwa Überlebenszeit von Krebspatienten, Bewertung von Kreditrisiken) geprüft wurden. Es ging um den Vergleich von Vorhersagen durch Experten mit Urteilen durch einfache Algorithmen. In allen Fällen erbrachte ein einfacher Algorithmus mindestens ebenso genaue Vorhersagen wie Experten. Es gilt: Experten sind Algorithmen unterlegen. Diese Ergebnisse legen eine überraschende Schlussfolgerung nahe: Um die Vorhersagegenauigkeit zu maximieren, sollten abschließende Entscheidungen Formeln überlassen werden, insbesondere in Umgebungen mit geringer Validität. Dies sind „Lawinensituationen“, und die SnowCard bietet einen einfachen Algorithmus.
Einfache Algorithmen – gute Vorhersagen
Außerhalb der Lawinenkunde ein Beispiel aus der Kinderheilkunde: Apgar (1953) hatte einen Index eingeführt, der anhand von fünf Parametern (Herzschlag, Atmung, Reflex, Muskeltonus, Hautfarbe), die jeweils mit 0, 1 oder 2 Punkten bewertet werden, den Gesundheitszustand von Neugeborenen bewertet. Mindestens 8 Punkte bedeutet eine gute Verfassung. Neugeborene mit höchstens 4 Punkten benötigen sofortige intensivmedizinische Behandlung. Dieser einfache Algorithmus gilt als ein bedeutender Beitrag zur Senkung der Säuglingssterblichkeit. Der Test wird bis heute tagtäglich in jedem Kreißsaal angewandt.
Behr und Mersch (2019) zeigen in einer Analyse der tödlichen Lawinenunfälle in Österreich und in der Schweiz aus insgesamt fünf Wintern, dass 84 Prozent der Todesfälle bei Anwendung der SnowCard vermeidbar gewesen wären, bei Verzicht auf Orange und Rot. Die Rate erhöht sich auf 96 Prozent, wenn auch auf den gelben Bereich verzichtet worden wäre (Modus für den sicherheitsbewussten Anwender). Dies unterstützt den Befund von Meehl, zeigt sich doch, dass ein einfacher Algorithmus, dessen Anwendung relativ wenig Spezialwissen erfordert, gute Vorhersagen liefern kann. Ich behaupte: Expertenurteile wären der Anwendung des Algorithmus unterlegen gewesen. Wir wissen auch nicht, wie viele Experten unter den Opfern waren. Für die Praxis muss gelten: Wir müssen einen Algorithmus so einfach wie möglich halten. So einfach, dass er immer angewendet werden kann, dass seine Anwendung automatisch geschieht und möglichst wenig Mühen macht.
Doch auch in diesem Fall ist die Prognosegüte beschränkt. Es handelt sich um eine post-hoc-Analyse. Man muss – wie bereits erläutert – in Rechnung stellen, dass bei Anwendung der SnowCard eine hohe Zahl falsch positiver Urteile entstehen.
Blinder Fleck in der Lawinenforschung
Bei der Abschätzung eines Lawinenrisikos gilt es, die psychologischen und statistischen Beschränkungen bei Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen. Es ist an der Zeit, die Beschränktheit unserer Urteilfähigkeit klar zu benennen, gerade wenn es um überlebensrelevante Entscheidungen geht. Hier gibt es einen blinden Fleck in der Lawinenforschung. Dass die Güte einer Prognose unbekannt und beschränkt ist, wird ignoriert. Und dass menschliche Entscheidungen systematischen Täuschungen unterliegen, wird nicht zur Kenntnis genommen.
Wie bereits erwähnt: Es fehlen epidemiologische Daten über die Lawinenaktivität. Spezifität und Sensitivität der eingesetzten Instrumente sind unbekannt. Die Mathematik, die die Prognosegüte bestimmt, wird in der Lawinenkunde nicht zur Kenntnis genommen. Kein Test nimmt uns die endgültige Entscheidung ab, und gerade diese Entscheidung ist höchst anfällig gegenüber allen bekannten Unzulänglichkeiten unseres kognitiven Apparats.
Wenn wir unsere Sicherheit erhöhen wollen, müssen wir beispielsweise akzeptieren, dass unsere Entscheidung oft auf einem Falsch-positiv-Resultat beruht. Es gilt folgende Situation zu ertragen: Wir haben von unserem Test ein „Stopp“ bekommen, eine Lawine trat aber nicht ein – weder spontan, noch von anderen Tourengehern ausgelöst. Dies zu erfahren, löst bei uns ein großes Unbehagen aus. Wir fühlen uns dann schnell als Verlierer. Sich damit abzufinden, mit sich im Reinen zu sein, ist nicht einfach. Dies gilt es aber in Kursen ganz gezielt anzusprechen und zu schulen. Es gilt zu berücksichtigen, dass Menschen in besonderem Maße durch Verlustaversionen gesteuert sind.
Hier gilt es die Aufmerksamkeit auf den Gewinn zu richten, dieser besteht im Erhalt der Gesundheit und des Lebens. Um die Erfahrung des Verzichts oder Verlustes gering zu halten, gilt es, einen Plan B bereit zu haben. Auf den Alternativplan sollte möglichst frühzeitig zugegriffen werden, nach Möglichkeit vor dem Start der ursprünglich beabsichtigten Tour. Dies setzt eine längerfristige Tourenplanung voraus. Dazu gehört es, den Verlauf von Niederschlägen, Wetter und Lawinengefahr über längere Zeiträume zu verfolgen. Geschieht dies, so wird man hautsächlich Touren ins Programm nehmen, die unkritisch sind. Dadurch ergibt sich viel seltener das Problem, auf der Tour eine Verzichtsentscheidung treffen zu müssen und auf einen Plan B zu wechseln, wurde doch schon im Vorfeld das Risiko erkannt.
Gerade solche frühzeitigen Entscheidungen brauchen mehr Relevanz und Kritikfähigkeit. Entscheidungen sollten so selten wie möglich im Gelände und „vor Ort“ erfolgen. Je weiter wir in einer Unternehmung vorangeschritten sind, desto unbrauchbarer werden unsere Entscheidungen.
Grundsätzlich gilt auch, wir müssen unser System 2 in Betrieb nehmen, wenn wir entscheiden wollen, ob wir gehen oder nicht. Anders gesprochen, wir müssen uns mental anstrengen, wenn wir zu einer brauchbaren Entscheidung über das Lawinenrisiko kommen wollen. Informationen sammeln, Landkarten studieren, ungünstige Abschnitte identifizieren, Gehzeiten berechnen, Verhaltensregeln in einer Gruppe einhalten und dergleichen mehr. Für viele ist auch das mit Unbehagen verbunden und mit einem entspannten Tag in den Bergen kaum vereinbar.
Entwicklung der Zahl von Lawinentoten
Vermeidungstendenzen gilt es zu stärken. Dies ist genau das Gegenteil von dem, was man in der Psychotherapie bei der Angstbehandlung macht. Menschen sollten in Bezug auf die Lawinengefahr ängstlicher werden. Dies gilt natürlich nicht generell, sondern spezifisch für diejenigen, die das Risiko suchen, starke Gefühle erleben wollen, den Kick in der Gefahr spüren wollen. Ängstliche Menschen gehen defensiver auf Skitour. Lawinentote sind in der Mehrzahl Männer, hauptsächlich jüngeren Alters. Angst kann ein sinnvolles Gefühl sein! Dies gilt es in diesem Fall anzuerkennen und diesem Gefühl zu folgen.
Insbesondere gilt es Sicherheits- und Kontrollillusionen abzubauen, die typisch für menschliches Entscheiden sind. Jedem Urteil über die Lawinenlage sollte man kritisch gegenüberstehen. Traue niemandem – auch nicht dir selbst, mag als Leitsatz dienen.
Es gilt anzuerkennen, dass der Zufall und Glück oder Pech eine viel größere Rolle spielen als wir zu akzeptieren bereit sind. Wieso sollte auch die Vorhersage von Lawinen besser gelingen, als andere Naturkatastrophen vorhergesagt werden können. Für Erdbeben gibt es bis heute kein verlässliches Warnsystem. Auch Steinschlag und Murenabgänge können nicht verlässlich vorhergesagt werden. Bergstürze, auch solche die Verkehrswege und Siedlungen betreffen, können nach wie vor völlig unerwartet auftreten. Wir sind weit davon entfernt, die Natur zu beherrschen und zu kontrollieren.
Zuletzt: Es gilt die (rückläufige) Entwicklung der Zahl von Lawinentoten im Freizeitsport auch positiv zu würdigen. Wir verzeichnen eine enorme Steigerung der Anzahl von Skitourengehern, Freeriderinnen und Schneeschuhgehern, die sich ins ungesicherte Gebirge wagen. Tourengehen hat sich in den letzten 30 Jahren von einem exotischen Wintersport zu einem Trendsport entwickelt, für diesen Zeitraum wird eine Vervierfachung der Aktiven und eine Vervielfachung der Tourentage geschätzt. Dennoch ist die Zahl der Lawinenopfer in diesem Zeitraum ungefähr konstant geblieben, bei Schwankungen zwischen den Wintern. Es muss daher auch bei den Endverbrauchern einiges angekommen sein an Wissen über Lawinen und über die Reduktion des individuellen Risikos. Möglicherweise hat sich die Kritikfähigkeit gebessert, vielleicht haben sich Verhaltensänderungen etablieren lassen. Eine weitere Verbesserung der Situation ist durch die Einbeziehung psychologischen Wissens und durch psychologische Schulung zu erreichen.